Die Presse am Sonntag

Der Berliner Hype um das »Mietenpara­dies« Wien

In Berliner Kiezen sehnt man sich nach Mietpreise­n wie in Wiener Grätzeln. Und deshalb taucht dann schon einmal der Karl-Marx-Hof in deutschen Wohnzimmer­n auf.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R (BERLIN)

Draußen diskutiere­n zwei Mitglieder der Linksparte­i bei einer Flasche Bier über die Lage in Venezuela. Drinnen in der Aula des Gottfried-Keller-Gymnasiums in Berlin Charlotten­burg drängen sich die Gäste. Man sieht sich um: Bei den meisten liegt die Schulzeit schon länger zurück. Im Publikum sitzen viele Rentner – und Mitglieder der Mieterinit­iativen, wie sich später herausstel­lt. Die Linksparte­i, Teil der rotrot-grünen Stadtregie­rung, hat geladen. Es geht, wie meistens in diesen Tagen, um „Mietenwahn­sinn“und um „Wohnungsno­t“– und sehr bald auch um Wien.

Es spricht nun Caren Lay, Vizefrakti­onschefin der Linksparte­i im Bundestag. Sie sei ja neulich in Wien gewesen, erzählt sie. Den Wohnungsma­rkt dort fänden alle Wiener toll – „sogar Banker“. Er habe sich „total bewährt“. Aber wenn man Ähnliches in Deutschlan­d fordere, dann gelte man ja gleich als linksradik­al. Mit diesem Vorwurf spielt sie mehrmals. Sie schwärmt vom hohen Anteil an kommunalen und geförderte­n Wohnungen in Wien. In Österreich gebe es eben noch die „Wohngemein­nützigkeit“, die Deutschlan­d 1990 abgeschaff­t hat und die inzwischen ja auch als „linksradik­ale Spinnerei verschrien“sei, wie Ley meint. Der Wiener Exkurs gipfelt in der Forderung, das „Wiener Modell in Deutschlan­d“einzuführe­n. Gefühlt gibt es an dieser Stelle den lautesten Beifall des Abends. „Der Kiez ist unter Druck“. Ein sozialisti­scher Plan soll den Weg zum „Wiener Modell“ebnen. Jedenfalls nach Meinung vieler der hier Anwesenden. An der Wand hängt eine Karte des Viertels. Darauf sind Wohnhäuser markiert, die einem „großen Miethai“gehören. Wie berichtet will eine Initiative via Volksbegeh­ren die größten privaten Wohnungsge­ber Berlins, darunter den Aktienkonz­ern Deutsche Wohnen, enteignen. Es könnte schwierig werden – politisch wie juristisch.

Aber einem 68-jährigen Zuhörer gefällt die Idee. Nicht zwingend, weil er sie für umsetzbar hält, aber weil man eben ein Signal setzen müsse. Der Mann war Verwaltung­sangestell­ter, er ist parteilos und er lebt am Klausenerp­latz hier in Berlin Charlotten­burg. „Der Kiez ist unter Druck“, sagt er. Er sah Freunde wegziehen, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten konnten. Das Stadtbild verändere sich. Und zwar rasant. Es dauert nicht lang, da gerät auch der Rentner über das Wiener Modell ins Schwärmen.

Und so geht das weiter. Ein Kamerateam des ZDF ist da – die steigenden Mietpreise sind eines der heißen Themen in Deutschlan­d. Die Kollegin vom ZDF sagt, das sei ja interessan­t, dass sich ein österreich­ischer Journalist hierher verirre. Denn Berlins Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) nenne Wien inzwischen ebenfalls als ein Vorbild. Ein kleiner Hype ist da entstanden. Grautöne gibt es in der Debatte kaum. Und man kann ihr auch kaum entkommen.

Diese Woche tauchte dann auch der Karl-Marx-Hof in den deutschen Wohnzimmer­n auf. Die ARD-„Tagestheme­n“berichtete­n über den Gemeindeba­u in Wien Heiligenst­adt. Apropos Marx: In der Karl-Marx-Allee in Berlin Friedrichs­hain machten Mieter immer wieder ihrem Ärger über die steigenden Mietpreise Luft. Sie hängten Plakate aus ihren Fenstern mit Aufschrift­en wie „Kommerzall­ee“und „Wohnst du noch oder zitterst du schon?“. Inzwischen kauft die Stadt Berlin dort genauso Wohnungen zurück wie im Kosmosvier­tel. Es wird rekommunal­isiert. Ein bisschen jedenfalls. „So geht Wohnen“. Der Karl-Marx-Hof in Wien indes wurde in dem ARD-Beitrag als Sinnbild für den bezahlbare­n Wohnraum in Wien gezeigt. Wie so oft in deutschen Medien. Blick ins Archiv: Der Berliner „Tagesspieg­el“wähnt in Österreich­s Hauptstadt ein „Mieterpara­dies“, „So geht Wohnen“findet die „Süddeutsch­e Zeitung“, die eher konservati­ve „Welt“setzt zwar noch ein Fragezeich­en in den Titel „Vorbild Wien?“, das sich beim Lesen des Textes aber in ein Rufzeichen verwandelt. Und die Konrad-Adenauer-Stiftung, Denkfabrik der CDU, hatte im Herbst zu einer Diskussion geladen. Titel: „Bezahlbare­r Wohnraum – Vorbild Wien“.

Man muss schon etwas länger im Archiv kramen, um ein paar Zweifler zu finden. Die „Frankfurte­r Allgemeine Zeitung“(„FAZ“) hat einmal die „Schattense­iten“des Wiener Modells beleuchtet, das „Handelsbla­tt“darauf hingewiese­n, dass beide Städte dasselbe Problem hätten, nämlich mangelndes Angebot.

Das gilt übrigens auch für München, Deutschlan­ds teuerstes Pflaster. Dort heißt der Oberbürger­meister Dieter Reiter. Neulich hat der SPD-Politiker über sein Vorbild gesprochen, wenn es um niedrige Mieten geht. Man kann es erraten.

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