»Es wird einen Wirtschaftskrieg geben«
Er war Vizechef der russischen Zentralbank. Nun ist er Aufsichtsratschef der Moskauer Börse und sitzt mit Gerhard Schröder im Kontrollgremium von Rosneft. Oleg Vjugin über Staatseinfluss, Öl und Vorbereitungen auf den Wirtschaftskrieg.
Man kennt sich derzeit nicht recht aus, was in der russischen Wirtschaft los ist. Mehrmals hat das Statistikamt den Wert für das BIP-Wachstum 2018 auf letztlich 2,3 Prozent erhöht – weitaus mehr als erwartet. Läuft es wirklich so gut oder wird hier manipuliert? Oleg Vjugin: Es macht tatsächlich hellhörig, wenn die Statistikagentur die Zahlen häufig korrigiert. Außerdem sagt sie nicht, warum sie das tut. Und wenn die Zahlen dann außerdem nur nach oben korrigiert werden, kann man schon auf den Gedanken kommen, dass hier ein besonders gutes Bild gezeichnet werden soll. Schließlich ist die Agentur dem Wirtschaftsministerium unterstellt, das ja für das Wachstum verantwortlich ist. Die Realeinkommen etwa sinken. Ja, das macht stutzig. Schauen wir auf den Warenumsatz, dann sehen wir ein kleines Wachstum – aber wir wissen, dass dies durch die starke Kreditvergabe stimuliert ist. Wird die Statistik also manipuliert? Ausreichend Beweise gibt es nicht. Im Vorjahr hat Putin verordnet, dass die russische Wirtschaft schneller wachsen müsse als die globale, die derzeit mit 3,5 bis vier Prozent zulegt. Ist das reine Fantasie? Nun, ein Ziel kann man immer so formulieren, wie man es eben sieht. Die Frage ist, wie man es erreicht. Unter den jetzigen Bedingungen in Russland wird das ziemlich schwer. Die Regierung hat das Pensionsantrittsalter erhöht. Sie sieht darin einen Befreiungsschlag für die Wirtschaft, die bisher von der Demografie gebremst worden sei. Eine richtige Logik? Das ist weit weg von den realen Problemen. Das Hauptproblem liegt in der Produktivität. Manche Sektoren sind sehr produktiv und hinken dem Westen kaum hinterher. In großen Industriesektoren aber, wo hauptsächlich der Staat mit seinen Holdings regiert, ist die Produktivität niedriger. Hier bräuchte es mehr Konkurrenz und weniger Monopol. Aber es sind nicht ausreichend Kräfte da, die diese Veränderungen auch wollen. Seit der Krim-Annexion haben westliche Firmen massenweise Russland verlassen. Die Zahl der deutschen Firmen etwa sank von 6000 auf 4000. Wovon zeugt das? Nun, geblieben sind die ziemlich großen Unternehmen, die stark investiert sind und gewisse Garantien für ihre Investitionen und ihre Position auf dem Markt seitens der Behörden haben. Kann man als westliche Firma in Russland derzeit überhaupt reüssieren? Würde Russlands Wirtschaft trotz seiner vielen Probleme wenigstens stark, also mit vier bis fünf Prozent, wachsen, müsste man als Firma hin. Das Hauptproblem aber ist, dass der Markt – im Unterschied zu China – nicht größer wird. Abgesehen vom Problem, dass es keinen lauteren Wettbewerb gibt. Aber man muss sagen, dass Russland an westlichen Firmen interessiert bleibt. Ins Auge springt, dass Russland bei manchen Kennzahlen blendend dasteht: Der Leistungsbilanzüberschuss ist groß, der Budgetüberschuss ebenso, die Auslandsschulden sinken, die internationalen Goldund Währungsreserven liegen bei 475 Mrd. Dollar. Es wird Geld gehortet. Warum? Das ist eine makroökonomische Politik zur Verteidigung. Gegen wen oder was? Aus Sicht der Machthaber wohl gegen mögliche Schocks von außen. Die Makropolitik ist sehr konservativ. Der Staat versucht außerdem, die Gelder privater Großkonzerne unter Kontrolle zu bringen, indem er sie zur Teilnahme an staatlichen Projekten bewegt. Und mit der Anhebung der Mehrwertsteuer holt er sich auch Geld aus den Privathaushalten. Diese Schritte kann man als Vorbereitung zu irgendeiner Verteidigung interpretieren. Hat das nur mit der Angst vor neuen westlichen Sanktionen zu tun? In gewisser Weise auch mit der schwindenden Kontrolle über die Atomwaffen – Russland und die USA haben sich ja vom INF-Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme losgesagt. Praktisch birgt das das Potenzial eines Rüstungswettlaufs in sich. Das heißt, es werden Reserven für den Rüstungswettlauf angehäuft? Man kann das so zwar momentan noch nicht behaupten, aber die Logik der Ereignisse legt es nahe. Spinnt man den Gedanken fort, könnte man dann sagen, Russland bereitet sich auf irgendeinen Krieg vor? Ich würde das nicht sagen, denn ein solcher könnte einen Großteil der Weltbevölkerung vernichten. Natürlich will keiner einen realen Krieg führen, aber auf der wirtschaftlichen Ebene wird es einen geben. Russland bereitet sich auf einen Wirtschaftskrieg vor. Der Trend deutet in diese Richtung. Die Signale sind so, dass alle va banque spielen. Russland hat im Vorjahr fast alle US-Staatsanleihen verkauft, massenweise Gold gekauft und investiert Geld sogar in chinesische Anleihen. Wie soll man das einordnen? Auch das eine Reaktion auf die Sanktionen und ein prophylaktischer Schritt gegen neue. Man flieht vor den Anlagen, die in Dollar denominiert sind. Auch andere Länder haben Gold gekauft. Bei Russland aber macht es nun schon fast 20 Prozent der Reserven aus. Ja, mir scheint das schon etwas übertrieben. Sie sind Aufsichtsrat im größten und staatlichen Ölkonzern Rosneft. Befürchtet er auch ähnlich scharfe US-Sanktionen, wie sie den Aluminiumkonzern Rusal 2018 trafen? Rosneft steht ja schon lang unter Sanktionen, aber die betreffen nur Techno- logieimporte. Am unangenehmsten wäre ein Exportverbot. Das aber ist im Prinzip unmöglich, denn Russland ist wichtiger Ölexporteur nach Europa und China. Bei einem Verbot würde der Ölpreis auf 200 bis 300 Dollar je Barrel hochschnellen. Das würde der ganzen Welt schaden. Sehen Sie sich nur die Sanktionen gegen Rusal an. Die USA hatten sie wohl nicht durchdacht und mussten sie aufgeben, da der Aluminiumpreis explodiert war. Wie sehr beunruhigt Sie die Situation in Venezuela, wo Rosneft ja stark investiert ist? Venezuela zahlt seine Schulden an Rosneft zurück. Und soweit wir sehen, will es das auch weiterhin tun. Politische Prognosen sind schwer. Sie haben erwähnt, dass der Staat gern auf das Kapital der russischen Privatkonzerne Einfluss nehmen möchte . . . . . . ich würde es eher so sagen: Man will die Investitionsaktivität der Großkonzerne aktivieren. Ist der Druck auf die Unternehmer groß? Nein, bislang nicht. Bislang . . . Ja, bislang. Warum ich frage: Es ist kein Geheimnis, dass vor allem die Unternehmer unter den politischen Entwicklungen der vergangenen fünf Jahre leiden. Aber sie schreiben trotzdem Gewinne. Relevanter ist die Frage der Aussichten und der weiteren Entwicklung. Sie kennen die Unternehmerschaft in- und auswendig. Wächst nicht der Unmut in ihr? In unserer Unternehmenskultur ist es nicht üblich, Unmut öffentlich zu äußern. Es ist eher üblich, sich anzupassen und unter den Bedingungen, die eben vorhanden sind, zu arbeiten. Ich habe von niemandem gehört, dass er sehr unzufrieden wäre. Gut, aber wir sehen auch großen Kapitalabfluss und den Wunsch, die russischen Aktiva zu verkaufen. Manche Konzernbesitzer leben bereits in London.
Oleg Vjugin (66),
einer der Doyens der russischen Finanzindustrie, ist heute Vorsitzender des Aufsichtsrats der Moskauer Börse.
Auch bei Rosneft,
Russlands größtem Ölkonzern, sitzt Vjugin im Aufsichtsrat, der seit eineinhalb Jahren von Deutschlands Ex-Kanzler Gerhard Schröder präsidiert wird.
Zuvor war Vjugin
Berater der Bank Morgan Stanley für Russland und die GUSStaaten, und er stand der Privatbank MDM vor.
Von 2004 bis 2007
reformierte er die russische Finanzmarktaufsicht als ihr Chef und vereinfachte beispielsweise Börsengänge russischer Firmen.
Zuvor war Vjugin
stellvertretender Chef der russischen Zentralbank und des Finanzministeriums.
Einst Forscher
auf der Russischen Akademie der Wissenschaften im Bereich Wirtschaftsprognostik, unterrichtet Vjugin seit 2007 bis heute Finanzwissenschaften an der Moskauer Higher School of Economics. Fische suchen möglichst tiefe Stellen, Menschen möglichst gute. Und die Unternehmer suchen auch nach Möglichkeiten, wo sie ihre Aktiva besser bewahren und vermehren können. Kurz noch zur russischen Börse, deren Aufsichtsrat Sie ja vorsitzen. Wie haben denn Sie dort die Sanktionen verspürt? Es gab interessante Reaktionen. Ein Teil der russischen Unternehmer hat – auch aufgrund der Politik gegen OffshoreRegistrierungen – seine Aktiva nach Russland gebracht. Und das hat das Handelsvolumen an der Börse erhöht. Wir haben also durch die Entwicklung gewonnen. Verloren haben wir insofern, als die Aktivität ausländischer Investoren im Handel nicht mehr weiter gewachsen ist. Konservative Anleger wie Pensionsfonds haben ihren Anteil an russischen Anlagen reduziert. Aber die russischen Anleger können den Weggang der Ausländer, die einen wesentlichen Teil des Börsengeschehens ausmachen, nicht kompensieren. Stimmt, können sie nicht. Aber ihre Aktivität ist sehr hoch. Und zwar auch die der russischen Unternehmen, die nun dort Anleihen begeben, weil sie in Euro keine mehr begeben können. Das Wachstum an Obligationen ist sehr stark – es konnte in einzelnen Jahren schon einmal 40 Prozent erreichen. Vor Jahren noch gab es erste Schritte einer engeren Kooperation mit der Frankfurter Börse. Das ist verstummt. Besteht weiter Interesse an einer internationalen Allianz? Unter anderen politischen Voraussetzungen vielleicht ja. Am interessantesten bleibt Frankfurt. Interessanter als London? London war nicht sehr bereit zu einer Allianz. Es wollte sich vielmehr als Konkurrent von Moskau positionieren. Vielleicht wird es ja noch etwas mit einer Allianz mit China? Soweit ich weiß, ist China nicht interessiert. Asiatisches Geld kursiert innerhalb von Asien. Und fühlt sich dabei sehr wohl.