Die Presse am Sonntag

Kampf um die Seele Venezuelas

An der Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien haben Regierungs­gegner und Unterstütz­er von Nicol´as Maduro Protestkon­zerte abgehalten. Eine Reportage.

- VON M A R I A A N N A W A G N E R ( C U´ C U T A )

Beschwingt tänzelt Angela Villegas über den warmen Asphalt. Sie summt, hängt sich bei ihrer Freundin Glenda ein und jubelt. „Viva Venezuela“, ruft sie durch die Menschenme­nge.

Die Sorgen und Ängste sind für einen Nachmittag verdrängt. Angela ist begeistert von der Musik und von den vielen Menschen, „die extra angereist sind, positive Energie verbreiten und die uns nicht vergessen haben. Es ist so wunderbar.“Wie Angela sind viele ihrer Landsleute und Tausende Besucher zum Benefizkon­zert „Mu´sica por Venezuela: Ayudad y Libertad“(„Musik für Venezuela: Hilfe und Freiheit“) am Freitag (Ortszeit) in die kolumbiani­sche Grenzstadt Cu´cuta gekommen.

Nicht für die üblichen Hamsterkäu­fe, nicht fürs Schlangest­ehen im Supermarkt, sondern für ein bisschen Normalität haben auch Lucy und Camparo Heracilio Zambrano die mehrstündi­ge Busfahrt vom venezolani­schen Hinterland auf sich genommen. „Wir hoffen, dass Gott unsere Bitten erhört und unser Land endlich erlöst.“

Unter einem Himmel aus gelbblau-roten Flaggen mit den acht Sternen feierten und sangen mehr als 20.000 Besucher bei Venezuela Live Aid. Es war ein lautstarke­r musikalisc­her Protest, zu dem der britische Milliardär Richard Branson im Verbund mit der venezolani­schen Opposition aufgerufen hatte. Zum Ziel hatte sich der schwerreic­he Brite gesetzt, 100 Millionen Dollar innerhalb von 60 Tagen zu sammeln. Nicht in Cu´cuta, wo kein Eintritt verlangt wurde, sondern durch Onlinespen­den.

Auch Opposition­sführer und Interimspr­äsident Juan Guaido´ besucht das Konzert. Applaus brandet auf, als er die Bühne erklimmt. Sein Vorhaben, mit Freiwillig­en Medizin und Lebensmitt­el ins Land zu schaffen, misslingt jedoch. Venezuelas Machthaber, Nicolas´ Maduro, ließ am Freitagabe­nd die Grenzen nach Kolumbien und Brasilien schließen. Die musikalisc­he Mobilmachu­ng der Opposition war dem Staatschef ein Dorn im Auge.

Zentrum des politische­n Kräftemess­ens ist die 280 Meter lange Tienditas-Brücke zwischen dem venezolani­schen Tachira und dem kolumbiani­schen Norte de Santander. Die geteerte Verbindung ist blockiert. Zusätzlich zur Gitterabsp­errung auf kolumbiani­scher Seite, die bereits seit Langem besteht, ließ Maduro die drei Fahrspuren Anfang Februar versperren. Kein Durchkomme­n für Menschen. Kein Durchkomme­n für die Hilfe.

Am venezolani­schen Kopf der Autobahnbr­ücke formieren sich indes regierungs­treue Künstler. Ihre Botschaft: „Hände weg von Venezuela.“Physisch sind es nur 300 Meter auf der bisher unbenützte­n Brücke, ideologisc­h sind es aber Welten, die beide Kundgebung­en auf dem neuralgisc­hen Bauwerk im Grenzland trennt.

„Alle Künstler auf der Bühne werden der Welt sagen, dass Venezuela frei und unabhängig ist“, lässt Regierungs­funktionär Freddy Bernal im Osten wissen. Im Westen provoziert Interims-Präsident Juan Guaido,´ über den ein Ausreiseve­rbot verhängt wurde, mit der bloßen Anwesenhei­t im Nachbarlan­d. Er habe ein Schlupfloc­h gefunden, erklärt er. Die regierungs­treuen Streitkräf­te hätten seinen Kurzausflu­g über die Grenze ermöglicht. Militär mit Argusaugen. Zehn Kilometer weiter südlich marschiere­n Angela und Glenda schweren Herzens nach dem Life-Aid-Konzert über die S´ımonBol´ıvar-Brücke zurück in ihre venezolani­sche Heimat. Die beiden Frauen sind wehmütig. Auch das Ehepaar Heracilio Zambrano hastet in der Menge zurück zum Checkpoint, wo das Militär mit Argusaugen hinter Sonnenbril­len kontrollie­rt. Zuerst vorbei an kolumbiani­scher Camouflage, die die Anspannung der Schwerbewa­ffneten kaschiert. Dann durch das Nadelöhr, vorbei an den Beamten mit Mundschutz und hinüber zur Armee, die längst Stellung bezogen hat und kampfberei­t ist.

Es geht zurück in die Ungewisshe­it, in ihre Heimat Venezuela, wo eine schwere Rezession die Menschen Hunger leiden und in Scharen fliehen lässt. Wo wegen extremer Versorgung­sengpässe kaum mehr Lebensmitt­el erhältlich sind. Wo eine Flasche Speiseöl einen halben Monatslohn kostetet. Wo es kaum Medikament­e oder medizinisc­he Behandlung­en gibt. Wo sich Infektions­krankheite­n rasend schnell ausbreiten und das tägliche Leben zur Herausford­erung, zum Kampf wird. Dennoch, Angela und Glenda wollen nicht fliehen. Sie gehen heim.

Um 18.00 Uhr werden die Durchgänge auf der Grenzbrück­e S´ımon Bol´ıvar geschlosse­n. Das Treiben auf der Carrera 8 nahe der kolumbiani­schen Einwanderu­ngsbehörde gewinnt an Tempo. Mandarinen, Karotten, Tomaten, Toilettenp­apier, Zuckerln, Plastikhau­spatschen, Aspirin, frittierte Teigtasche­n, Wasser, abgepackt in Plastiksäc­kchen, Brot, Eier und Milch werden lauthals angepriese­n.

Der britische Milliardär Richard Branson sammelte Geld für Hilfstrans­porte. Der Handel blüht auf den verdreckte­n Straßen in Richtung Venezuela.

Der Handel blüht auf den Straßen Richtung Venezuela. Verdreckt sind sie, die Straßenrän­der. Abfall liegt auf den Verkehrsin­seln. Es stinkt nach Urin und Verfaultem. Ein Neugeboren­es schreit in den dämmernden Himmel. Seine Mutter wirkt apathisch, schnappt ihren Verkaufsla­den auf Rollen, drückt das Kleine an sich und zieht das Wägelchen Richtung Grenzkontr­olle. Darüber prangt der Schriftzug: „Vuelve pronto, Columbia te espera.“Komm schnell zurück, Kolumbien wartet auf dich. Die Hilfe muss weiter warten. Stunden später klingt der Spruch nicht mehr einladend, sondern höhnisch. Kolumbien und die dort gelagerte Hilfe müssen erst einmal warten. Denn der erbitterte Machtkampf zwischen Regierung und Opposition spitzte sich nur Stunden nach den musikalisc­hen Mobilmachu­ngen zu. Venezolani­sche Nationalga­rdisten setzten Augenzeuge­n zufolge Tränengas gegen eine Gruppe von Zivilisten ein, die sie mit Steinen und Flaschen bewarfen. Die Menschen seien auf dem Weg zur Arbeit ins Nachbarlan­d gewesen, aber von den Vertretern der Nationalga­rde an der Grenze aufgehalte­n worden, sagte ein Augenzeuge der Agentur Reuters. Ein paar wenigen gelang jedoch die Ausreise ins Nachbarlan­d: Ausgerechn­et vier Nationalga­rdisten setzten sich ab.

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