Flucht aus der letzten IS-Bastion
Bis zuletzt harrten sie im zertrümmerten »Kalifat« in Syrien aus. Jetzt laufen immer mehr IS-Mitglieder über – auch Europäer. Ein Lokalaugenschein.
Mit lautem Krachen entriegelt ein Soldat die Ladeflächen zweier Lastwagen. Auf der Ladefläche kauern Flüchtlinge, vom Wüstensand eingestaubt, auf dem verdreckten Metallboden dicht aneinander. „Männer rechts und Frauen links“, ruft der Soldat den verschleierten Frauen in schwarzen Abayas und den bärtigen Männern mit Turbanen oder Wollmützen zu. Sie müssen ihre Handys abgeben, alle Taschen auspacken und sich mit Metalldetektoren von Kopf bis Fuß nach Waffen und Sprengstoff untersuchen lassen. Denn sie sind keine gewöhnlichen Flüchtlinge, die man hier an einem Sammelpunkt mitten in der Wüste in der Nähe der irakischen Grenze kontrolliert. Sie kommen aus Baghuz, dem letzten Zufluchtsort des Islamischen Staates (IS) in Nordsyrien.
In der Stadt am Euphrat sind die letzten fanatischen Extremisten auf 500 Quadratmeter eingekesselt. Sie wollen das verbliebene Miniterritorium des IS-„Kalifats“, das sich einst über weite Teile Syriens und des Irak erstreckte, bis in den Tod verteidigen.
„Wir sind normale Zivilisten“, behaupten die IS-Flüchtlinge am Kontrollpunkt und wollen von den brutalen Verbrechen der Jihadisten nichts gewusst haben. „Ich war immer nur im Haus“, beteuert eine korpulente Frau, die mit ihren drei kleinen Kindern auf einer Wolldecke am Boden sitzt. Die Männer geben an, Koch oder Gärtner gewesen zu sein. Als Zeichen, wie „liberal“sie seien, rauchen sie demonstrativ die ihnen angebotenen Zigaretten, die unter dem IS streng verboten waren. Alle haben bis zum Schluss der Terrormiliz die Treue gehalten und nun, da die Niederlage unabwendbar ist, versuchen sie ihre Haut zu retten und unterzutauchen. Aber das ist nicht so einfach. Schon simple Details verraten ihre wahre Gesinnung: Da ist die Hornhaut am Abzugsfinger von Schützen und die Striemen am Rücken vom Tragen der Munitionswesten.
Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London wurden seit Dezember mehr als 2000 Jihadisten verhaftet. Darunter waren viele Europäer, die sich unter die insgesamt 32.000 Flüchtlinge gemischt hatten. Gefangen genommen wurden auch einige Deutsche, wie etwa Martin L. aus Sachsen-Anhalt. Der gelernte Schweißer machte beim IS Karriere und zählte zur Elite im berüchtigten Geheimdienst der Terrormiliz. Der 28-Jährige sitzt nun zusammen mit über 40 anderen deutschen Extremisten in Haft in Nordsyrien. Österreicherin will zurück. Männliche IS-Kämpfer aus Österreich sollen sich bis jetzt nicht unter den Gefangenen befinden. Nur eine 20-jährige Österreicherin, die sich dem IS angeschlossen hat, wird mit ihrem Kind von Syriens Kurden im Roj-Camp, einem bewachten Lager für Frauen, festgehalten. Sie berichtete bei einem Besuch der „Presse am Sonntag“im Roj-Camp im November, wieder zurück nach Österreich zu wollen. Im umkämpften Baghuz sollen sich auf IS-Seite zuletzt noch einige Österreicherinnen aufgehalten haben. Die Regierung in Wien und Österreichs Behörden sind sich noch nicht einig, wie mit diesen Personen nun umgegangen werden soll. Vizekanzler Heinz-Christian Strache und Innenminister Herbert Kickl sprachen sich gegen eine Rückholung österreichischer IS-Mitglieder aus. Das Außenamt drückt sich – angesichts rechtlicher Verpflichtungen – vorsichtiger aus.
Für US-Präsident Donald Trump gilt der IS als besiegt und das „Kalifat“soll möglichst schnell abgewickelt werden. Aber ganz so einfach dürfte das nicht funktionieren. Denn ein Ende des IS-Terrors ist nicht in Sicht. Die Extremisten mögen kein Territorium mehr beherrschen, aber die Organisation bleibt auch nach der militärischen Niederlage aktiv. Die Jihadisten wechseln ihre Taktik, gehen in den Untergrund und führen einen Guerillakrieg.
In Nordsyrien herrscht dieser Tage große Ratlosigkeit. Die dortige Selbstverwaltung tappt im Dunkeln, wie es nach dem endgültigen Sieg über den IS weitergeht. „Werden die USA tatsächlich weitgehend abziehen, wie entscheiden Frankreich und Großbritannien über ihre bei uns stationierten Truppen?“, fragt sich Abdulkarim Omar, Außenminister Nordsyriens. Omar befürchtet zudem eine Invasion der Türkei, die Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ schon seit Monaten ankündigt, und dafür Truppen an der Grenze zu Syrien zusammengezogen hat.
Die Selbstverwaltung Nordsyriens würde die ausländischen IS-Gefangenen mit ihren Familienangehörigen am liebsten so schnell wie möglich loswerden. „Sie sind eine finanzielle und logistische Belastung, die wir auf Dauer nicht leisten können“, erklärt Außenminister Omar. „Verurteilen können wir sie nicht, da wir kein anerkannter Staat sind und dafür auch keine Kapazitäten besitzen.“ Verhöre durch die CIA. Am Kontrollpunkt mitten in der Wüste für die Flüchtlinge aus Baghuz ist die CIA ständig präsent. Die Agenten sind in fünf weißen Geländewagen vorgefahren, begleitet von etwa zehn gepanzerten Mili- tärfahrzeugen. Die US-Geheimdienstler sind die ersten, die Neuankömmlinge aus dem IS-Territorium vernehmen. Der CIA ist auch sonst privilegiert, wenn es um Zugang zu verhafteten Jihadisten geht, wie aus Militärkreisen Nordsyriens zu erfahren gewesen ist. Die Agenten können IS-Gefangene als Erste verhören, ungeachtet der Nationalität. In einigen Fällen fliegt der USGeheimdienst Inhaftierte in Hubschraubern in den benachbarten Irak. Diese Praxis haben Menschenrechtsorganisationen mehrfach kritisiert. Unter den ausgeflogenen Gefangenen sollen auch deutsche IS-Mitglieder gewesen sein, wie Haydar Z., der die Attentäter vom 11. September kannte.
„Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was die Amerikaner machen“, sagt Kino Gabriel, Sprecher der SDFTruppen. „Vielleicht konfrontieren sie die Gefangenen mit Zeugen im Irak?“Viele der IS-Kämpfer waren mit der Terrormiliz sowohl in Syrien wie auch im Irak unterwegs. Sie können somit in beiden Ländern an den zahlreichen ISVerbrechen beteiligt gewesen sein.
Auch andere westliche Geheimdienste sind in Nordsyrien aktiv – der Bundesnachrichtendienst soll dazugehören. „Der BND hat mir Fotos und Infos vorgelegt“, berichtete Oguz G. aus Hildesheim schon vor drei Monaten. Der 39-Jährige hatte sich 2017 bei der Befreiung von Raqqa den SDF ergeben. „Der BND hat mir sogar versprochen, mich nach Hause zu holen“, behauptete Oguz G. Er möchte, wie die meisten deutschen Inhaftierten, zurück nach Deutschland – selbst dann, wenn er in ein Gefängnis müsse.
In Baghuz versucht man mittlerweile die letzten verbliebenen Jihadisten zu besiegen. „Dann ist der Untergang des Kalifats besiegelt und wir können an die Zukunft denken“, sagt Außenminister Omar.
Die Österreicherinnen wollen zurück. Doch die Regierung in Wien ist sich nicht einig. Der BND habe ihm versprochen, ihn nach Hause zu holen, sagt ein Ex-Kämpfer.