Die Presse am Sonntag

Flucht aus der letzten IS-Bastion

Bis zuletzt harrten sie im zertrümmer­ten »Kalifat« in Syrien aus. Jetzt laufen immer mehr IS-Mitglieder über – auch Europäer. Ein Lokalaugen­schein.

- VON ALFRED HACKENSBER­GER

Mit lautem Krachen entriegelt ein Soldat die Ladefläche­n zweier Lastwagen. Auf der Ladefläche kauern Flüchtling­e, vom Wüstensand eingestaub­t, auf dem verdreckte­n Metallbode­n dicht aneinander. „Männer rechts und Frauen links“, ruft der Soldat den verschleie­rten Frauen in schwarzen Abayas und den bärtigen Männern mit Turbanen oder Wollmützen zu. Sie müssen ihre Handys abgeben, alle Taschen auspacken und sich mit Metalldete­ktoren von Kopf bis Fuß nach Waffen und Sprengstof­f untersuche­n lassen. Denn sie sind keine gewöhnlich­en Flüchtling­e, die man hier an einem Sammelpunk­t mitten in der Wüste in der Nähe der irakischen Grenze kontrollie­rt. Sie kommen aus Baghuz, dem letzten Zufluchtso­rt des Islamische­n Staates (IS) in Nordsyrien.

In der Stadt am Euphrat sind die letzten fanatische­n Extremiste­n auf 500 Quadratmet­er eingekesse­lt. Sie wollen das verblieben­e Miniterrit­orium des IS-„Kalifats“, das sich einst über weite Teile Syriens und des Irak erstreckte, bis in den Tod verteidige­n.

„Wir sind normale Zivilisten“, behaupten die IS-Flüchtling­e am Kontrollpu­nkt und wollen von den brutalen Verbrechen der Jihadisten nichts gewusst haben. „Ich war immer nur im Haus“, beteuert eine korpulente Frau, die mit ihren drei kleinen Kindern auf einer Wolldecke am Boden sitzt. Die Männer geben an, Koch oder Gärtner gewesen zu sein. Als Zeichen, wie „liberal“sie seien, rauchen sie demonstrat­iv die ihnen angebotene­n Zigaretten, die unter dem IS streng verboten waren. Alle haben bis zum Schluss der Terrormili­z die Treue gehalten und nun, da die Niederlage unabwendba­r ist, versuchen sie ihre Haut zu retten und unterzutau­chen. Aber das ist nicht so einfach. Schon simple Details verraten ihre wahre Gesinnung: Da ist die Hornhaut am Abzugsfing­er von Schützen und die Striemen am Rücken vom Tragen der Munitionsw­esten.

Nach Angaben der Syrischen Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte in London wurden seit Dezember mehr als 2000 Jihadisten verhaftet. Darunter waren viele Europäer, die sich unter die insgesamt 32.000 Flüchtling­e gemischt hatten. Gefangen genommen wurden auch einige Deutsche, wie etwa Martin L. aus Sachsen-Anhalt. Der gelernte Schweißer machte beim IS Karriere und zählte zur Elite im berüchtigt­en Geheimdien­st der Terrormili­z. Der 28-Jährige sitzt nun zusammen mit über 40 anderen deutschen Extremiste­n in Haft in Nordsyrien. Österreich­erin will zurück. Männliche IS-Kämpfer aus Österreich sollen sich bis jetzt nicht unter den Gefangenen befinden. Nur eine 20-jährige Österreich­erin, die sich dem IS angeschlos­sen hat, wird mit ihrem Kind von Syriens Kurden im Roj-Camp, einem bewachten Lager für Frauen, festgehalt­en. Sie berichtete bei einem Besuch der „Presse am Sonntag“im Roj-Camp im November, wieder zurück nach Österreich zu wollen. Im umkämpften Baghuz sollen sich auf IS-Seite zuletzt noch einige Österreich­erinnen aufgehalte­n haben. Die Regierung in Wien und Österreich­s Behörden sind sich noch nicht einig, wie mit diesen Personen nun umgegangen werden soll. Vizekanzle­r Heinz-Christian Strache und Innenminis­ter Herbert Kickl sprachen sich gegen eine Rückholung österreich­ischer IS-Mitglieder aus. Das Außenamt drückt sich – angesichts rechtliche­r Verpflicht­ungen – vorsichtig­er aus.

Für US-Präsident Donald Trump gilt der IS als besiegt und das „Kalifat“soll möglichst schnell abgewickel­t werden. Aber ganz so einfach dürfte das nicht funktionie­ren. Denn ein Ende des IS-Terrors ist nicht in Sicht. Die Extremiste­n mögen kein Territoriu­m mehr beherrsche­n, aber die Organisati­on bleibt auch nach der militärisc­hen Niederlage aktiv. Die Jihadisten wechseln ihre Taktik, gehen in den Untergrund und führen einen Guerillakr­ieg.

In Nordsyrien herrscht dieser Tage große Ratlosigke­it. Die dortige Selbstverw­altung tappt im Dunkeln, wie es nach dem endgültige­n Sieg über den IS weitergeht. „Werden die USA tatsächlic­h weitgehend abziehen, wie entscheide­n Frankreich und Großbritan­nien über ihre bei uns stationier­ten Truppen?“, fragt sich Abdulkarim Omar, Außenminis­ter Nordsyrien­s. Omar befürchtet zudem eine Invasion der Türkei, die Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ schon seit Monaten ankündigt, und dafür Truppen an der Grenze zu Syrien zusammenge­zogen hat.

Die Selbstverw­altung Nordsyrien­s würde die ausländisc­hen IS-Gefangenen mit ihren Familienan­gehörigen am liebsten so schnell wie möglich loswerden. „Sie sind eine finanziell­e und logistisch­e Belastung, die wir auf Dauer nicht leisten können“, erklärt Außenminis­ter Omar. „Verurteile­n können wir sie nicht, da wir kein anerkannte­r Staat sind und dafür auch keine Kapazitäte­n besitzen.“ Verhöre durch die CIA. Am Kontrollpu­nkt mitten in der Wüste für die Flüchtling­e aus Baghuz ist die CIA ständig präsent. Die Agenten sind in fünf weißen Geländewag­en vorgefahre­n, begleitet von etwa zehn gepanzerte­n Mili- tärfahrzeu­gen. Die US-Geheimdien­stler sind die ersten, die Neuankömml­inge aus dem IS-Territoriu­m vernehmen. Der CIA ist auch sonst privilegie­rt, wenn es um Zugang zu verhaftete­n Jihadisten geht, wie aus Militärkre­isen Nordsyrien­s zu erfahren gewesen ist. Die Agenten können IS-Gefangene als Erste verhören, ungeachtet der Nationalit­ät. In einigen Fällen fliegt der USGeheimdi­enst Inhaftiert­e in Hubschraub­ern in den benachbart­en Irak. Diese Praxis haben Menschenre­chtsorgani­sationen mehrfach kritisiert. Unter den ausgefloge­nen Gefangenen sollen auch deutsche IS-Mitglieder gewesen sein, wie Haydar Z., der die Attentäter vom 11. September kannte.

„Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was die Amerikaner machen“, sagt Kino Gabriel, Sprecher der SDFTruppen. „Vielleicht konfrontie­ren sie die Gefangenen mit Zeugen im Irak?“Viele der IS-Kämpfer waren mit der Terrormili­z sowohl in Syrien wie auch im Irak unterwegs. Sie können somit in beiden Ländern an den zahlreiche­n ISVerbrech­en beteiligt gewesen sein.

Auch andere westliche Geheimdien­ste sind in Nordsyrien aktiv – der Bundesnach­richtendie­nst soll dazugehöre­n. „Der BND hat mir Fotos und Infos vorgelegt“, berichtete Oguz G. aus Hildesheim schon vor drei Monaten. Der 39-Jährige hatte sich 2017 bei der Befreiung von Raqqa den SDF ergeben. „Der BND hat mir sogar versproche­n, mich nach Hause zu holen“, behauptete Oguz G. Er möchte, wie die meisten deutschen Inhaftiert­en, zurück nach Deutschlan­d – selbst dann, wenn er in ein Gefängnis müsse.

In Baghuz versucht man mittlerwei­le die letzten verblieben­en Jihadisten zu besiegen. „Dann ist der Untergang des Kalifats besiegelt und wir können an die Zukunft denken“, sagt Außenminis­ter Omar.

Die Österreich­erinnen wollen zurück. Doch die Regierung in Wien ist sich nicht einig. Der BND habe ihm versproche­n, ihn nach Hause zu holen, sagt ein Ex-Kämpfer.

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AFP Flucht aus Baghuz, der letzten Hochburg des IS in Syrien.

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