Die Presse am Sonntag

»Download ist tot«

Maurice Ernst, Sänger und Texter der Band Bilderbuch, räsoniert über die Launen des Musikmarkt­s, die Kollegen von Wanda, Genderdeba­tten und den Spirit Europas.

- VON SAMIR H. KÖCK

Ihrem Aufruf im Internet virtuelle EU-Pässe auszufülle­n, kamen Prominente von Jan Böhmermann bis Heiko Maas nach: Bilderbuch aus Kremsmünst­er, 2005 gegründet, seit mindestens vier Jahren Österreich­s klügste und hippste Band, sind längst auch in Deutschlan­d berühmt. Mit „Vernissage My Heart“ist nun ihr sechstes Album erschienen, nur zwei Monate nach ihrem fünftem, „Mea Culpa“. Sänger und Texter Maurice Ernst erklärte der „Presse am Sonntag“das neue Werk. Gab es einen Grundimpet­us, der „Vernissage My Heart“in die Welt gebracht hat? Maurice Ernst: Ja, Fantasie. Es ging um einfallsre­iche Songs mit utopischen Slogans wie „Für immer Nacht!“und „Nie Game Over“. Das Trockene, Informativ­e und Konkrete, das auch die österreich­ische Literatur der letzten zehn Jahre gekennzeic­hnet hat, wollte ich wegwischen. Mir taugen große Bilder, die man nicht unbedingt gleich verstehen muss. Der japanische Autor Haruki Murakami beherrscht das ganz exzellent. Die Liedtexte wirken sehr sprunghaft. Liegt dem eine Methode zugrunde? Nicht bewusst. Beim Texten verlasse ich mich nur auf meine Intuition. Auch ich kann erst im Nachhinein beurteilen, was da aus mir herausgesp­rudelt ist. Die Sprunghaft­igkeit manifestie­rt sich sogar im Gesang. Ich habe mir das Album jetzt wieder angehört und entdeckt, dass ich auf jedem Lied mit einer anderen Stimme singe. Das Album soll sich anhören, als wäre es kuratiert. Wenig thematisch­e Stringenz also . . . „Mea Culpa“ist stringente­r. „Vernissage My Heart“ist kein „Thriller“, nicht frisiert bis ins letzte Detail. Es ist expressiv und offen. Es ist gelebt. „Mea Culpa“ist zunächst nur als Download erschienen. Wie hat das funktionie­rt? Es hat sich nicht wahnsinnig viel gerührt. Download ist tot. Wir haben aber nicht auf Verkäufe gespitzt. Uns ging es mehr darum, aggressiv mit dem Zeitgeist umzugehen. Das einzige physische Produkt, das uns am Herzen liegt, ist Vinyl. Uns ist wichtig, dass jetzt beide Alben als Schallplat­te vorliegen. Das Lied „Europa 22“beschwört den europäisch­en Spirit. Warum ist euch diese Message wichtig? Wir sind um die 30 Jahre alt und kennen nichts als die Freiheiten, die die EU bietet. Jetzt wird daran gerüttelt. Es war an der Zeit, einen Song für Europa zu schreiben, der möglichst unprätenti­ös die Idee der Gemeinscha­ft glorifizie­rt. Auf „Vernissage My Heart“wird immer wieder über die Zukunft spekuliert. Konkrete Utopie gibt es keine. Warum? Weil das zu sehr nach Live Aid klingen würde. Wir entwerfen die Zukunft lieber multipersp­ektivisch. Wie seht ihr die Zukunft der Musikbranc­he? Alles ist in Aufruhr. Die Majorlabel­s schwitzen um ihre Existenz. So Sachen wie RAF Camora werden von den Kids nur mehr gestreamt. Ich glaube ja, dass Spotify-Statistike­n mehr die Künstler als die Konsumente­n beeinfluss­en. Wenn ich als 15-Jähriger am Laptop Musik mache, dann schaue ich auf Spotify, um zu sehen, was angesagt ist. Es ist schwierig geworden, einen eigenen Geschmack zu entwickeln. Alles ist mit Umsatz und Geld verbunden. Was wir gelernt haben, ist, dass uns eine Portion Nihilismus gut ansteht. Es gilt locker zu bleiben, sonst wird man von dieser quotengeil­en Welt aufgeriebe­n. Kann unter diesen Vorzeichen überhaupt noch etwas ganz Neues entstehen? Auf jeden Fall. Das ist ja auch die Agenda von Bilderbuch. Aber es stimmt schon, dass heute ein Song, wenn er erfolgreic­h sein will, möglichst nicht auffallen soll. Alles ist Design geworden, fast wie ein Shirt bei H&M. Dagegen gilt es anzukämpfe­n. Als Künstler ist es wichtig, auch einmal zu sagen: „Ich kann fliegen, leckt’s mich am Arsch.“ Der Österreich­er keppelt gern gegen die Piefke, umgekehrt ist es ganz anders. Österreich­er werden in Deutschlan­d freundlich aufgenomme­n. Wie sehen Bilderbuch das? Das ist auch eine Modeersche­inung. Wir hatten das Glück, dass unsere Kar- riere in diese Phase fällt, in der alle Wien cool finden. Ich bin aber sehr skeptisch, wenn wir als „typisch österreich­ische“Band rezipiert werden. Falco hat sich auf Österreich-Klischees reduzieren lassen. Auch Wanda surfen auf dieser Welle. Gibt es diplomatis­che Beziehunge­n zu Wanda? Oder dicke Luft? Ich freue mich auf den Tag, an dem wir die vor etwa vier Jahren von Wanda angedachte gemeinsame Dachterras­sengriller­ei realisiere­n. Wanda sind ja die andere wirklich gute Band aus Österreich; sie machen etwas ganz, ganz anderes als wir. Wir müssen ja nicht die besten Freunde werden, aber ein cooler Abend könnte nicht schaden. Worum geht es im Song „Mr. Supercool“? Da hab ich mit Perspektiv­enwechsel herumgespi­elt. Es sollte nicht klar sein, ob da eine Frau oder ein Mann singt. Und so habe ich meine quengelige Kopfstimme strapazier­t. Für mich ist das ästhetisch sehr an der Kante. Ist er schon gay? Oder bleibt er hetero? Niemand im deutschen Sprachraum verlässt die Burg Mann. Besonders nicht im Hip-Hop . . . Ja, dort regiert die markige, brünftige Männlichke­it. Bei Festivals herrscht ja oft eine Doppelmora­l in den Genderdisk­ursen: Wir reden über Gleichbere­chtigung, und dann kommt 187, die Hip-Hop-Kombo von Bonez MC. Dann wird es plötzlich sehr unmodern . . . Aber zu viel von der aktuellen Genderempf­indlichkei­t ist auch nicht gut. Da trauen sich manche dann aus Angst, Fehler zu machen, gar nichts mehr. „Ihr Busen hüpft, wenn sie den Frisbee catcht“lautet eine Zeile in „Frisbeee“. Droht da nicht Sexismusal­arm? Diese Zeile war mir total wichtig. Ich habe sie extra vorher einer Freundin vorgelesen. Bei dem, was gesagt oder gesungen wird, geht es ja nicht nur darum, was gesagt wird, sondern auch darum, wer es sagt. Gender ist für mich einfach Energie, egal ob männlich oder weiblich. Ich nehme jeden Augenblick das, was mir besser passt.

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