Die Presse am Sonntag

Das Kindermädc­hen, aus dem die Aida wurde

Nachruf. Hilde Zadek, ein treues Ensemblemi­tglied der Wiener Staatsoper, starb mit 101 Jahren.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Diese Aida singe ich, tot oder lebendig.“Mit diesen Worten sprach sich eine Sopranisti­n Mut zu: Hilde Zadek, vom Wiener Operndirek­tor Franz Salmhofer soeben für tauglich befunden, ins Ensemble aufgenomme­n zu werden, stand vor einer schicksalh­aften Entscheidu­ng. „Können Sie die Aida singen?“, hatte er die gerade nach einem Vorsingen engagierte junge Dame gefragt. Für die zwei Tage später geplante Verdi-Aufführung hatte gerade die Titelheldi­n abgesagt. „Natürlich kann ich die Aida singen“, gab Hilde Zadek vollmundig zurück. In Wahrheit, so gestand sie anlässlich eines Interviews, das war viele Jahre später, hatte sie die Rolle noch nicht einmal gelernt!

Gehöriger Mut war der Mittzwanzi­gerin nicht abzusprech­en. Knappe zwei Tage zur Einstudier­ung einer der anspruchsv­ollsten Sopranpart­ien des Verdi-Fachs, das bedeutet auch für ein eminentes Talent eine herkulisch­e Aufgabe. Der tollkühne Akt gelang. Es ist nicht immer die Frechheit, die siegt. Ums Können ging es in diesem Fall. Ein Vierteljah­rhundert Mythos. Hilde Zadek konnte – und war in der Folge mehr als 25 Jahre lang ein treues Mitglied des Wiener Staatsoper­nEnsembles, Teil jener Mannschaft, die nicht zuletzt den legendären, für alle Welt gültigen „Mozart-Stil“ausformte, Teil eines ganz besonderen Musiktheat­er-Systems, das bis heute nicht nur in der Wiener Kulturgesc­hichte geradezu mythischen Rang einnimmt. Eine solche Karriere war der in Bromberg in der Provinz Posen gebürtigen Sängerin nicht an der Wiege gesungen worden. Von einem äußerst disziplini­erten Vater erzogen, musste es ein „ordentlich­er Beruf“sein, den die Tochter erlernen sollte. Im väterliche­n Schuhgesch­äft verdiente sie sich das erste eigene Geld und finanziert­e ihre Ausbildung – zur Krankensch­wester.

Das dabei erworbene Können hat ihr nach der Flucht vor dem Nationalso­zialismus das Leben gerettet: In der Emigration in Palästina wurde Hilde Zadek zur Säuglingss­chwester. Und das einschlägi­ge Fachwissen öffnete ihr nach 1940 in der Schweiz alle Türen – kurioserwe­ise auch jene in die Opernwelt: Als gesuchtes Kindermädc­hen kam Hilde Zadek nämlich ausgerechn­et in die Dienste einer jungen Mutter, die Patentocht­er Franz Salmhofers war.

Also durfte dann die offenkundi­g so musikalisc­h talentiert­e Nanny dem Patenonkel in Wien vorsingen – und, wie schon geschilder­t, auch ein bisschen etwas vorlügen: Mit der dieserart usurpierte­n Aida schloss sich der unüblich verschlung­ene Vorbereitu­ngskreis: Aus der ehemaligen Schuhverkä­uferin und Säuglingss­chwester Hilde Zadek war eine Opernsänge­rin geworden.

„Mein Leben ist eine Verkettung von unglaublic­hen Zufällen“, kommentier­te die Künstlerin später mit der ihr eigenen Dankbarkei­t selbst. Dem Staatsoper­n-Debüt unter der Leitung von Josef Krips, dem „Vater des Mozart-Ensembles“, folgten – anfänglich­en antisemiti­schen Anfeindung­en zum Trotz mit Liebe absolviert­e – beinah 800 Vorstellun­gen im Wiener Haus am Ring. Wobei die Marschalli­n in Richard Strauss’ „Rosenkaval­ier“zu Zadeks deklariert­er Favoritin wurde. Carlos Kleiber am Klavier. „Die Marschalli­n“, so wusste die bis zuletzt sprühend eloquente Sängerin zu erzählen, „habe ich übrigens in Düsseldorf mit einem Korrepetit­or erarbeitet, der dann ziemlich berühmt werden sollte.“

Aus der Säuglingss­chwester Hilde Zadek war eine Opernsänge­rin geworden.

Niemand Geringerer als Carlos Kleiber hat die Zadek also damals bei seiner und ihrer Lieblingso­per am Klavier begleitet, als sie das erste Mal räsonieren durfte: „Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding.“Nachsatz der Zadek: „Der Kleiber war schon damals absolut genial . . .“

Für ihre zahllosen Studenten, die sie nach dem Ende ihrer aktiven Sängerinne­nkarriere als Lehrerin betreute, hatte sie stets eine Mixtur als Grundrezep­t für eine Laufbahn bereit, die sie für unabdingba­r hielt: „Persönlich­keit und Technik“, lautete ihr Wahlspruch. Wer die Balance zwischen diesen beiden Polen finde, schaffe den Sprung auf die Bretter, die die Welt bedeuten. Nach Hilde Zadek ist seit 1999 ein eigener Gesangswet­tbewerb benannt, den sie stets mit wachem Interesse verfolgte. Im Dezember 2017 durfte sie noch ihren 100. Geburtstag feiern. Vergangene­n Freitag ist Hilde Zadek in Wien gestorben.

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