Die Presse am Sonntag

Zeit zu erwachen: Von den Folgen schlaflose­r

Wer wenig schläft, um viel zu arbeiten, genießt in der ersten Welt immer noch Anerkennun­g. Dabei ist dauernder Schlafmang­el nicht nur ungesund, sondern kostet die Allgemeinh­eit viel Geld. Eine Entzauberu­ng.

- VON JUDITH HECHT

Ausgeschla­fene Mitarbeite­r zu haben, scheint Kazuhiko Moriyama besonders wichtig zu sein. Der Chef der japanische­n Agentur Crazy Wedding hat sich deshalb im November 2018 dazu entschloss­en, jene seiner 60 Arbeitnehm­er besonders zu entlohnen, die fünf Nächte in Folge mindestens sechs Stunden geschlafen haben.

Für jede in diesem Sinn verbrachte Nacht gibt es Schlafpunk­te. Wer in einem Jahr die maximale Punkteanza­hl erschläft, kann um 64.000 Yen (ca. 505 Euro) pro Jahr in der firmeneige­nen Kantine – natürlich gesund – essen. Auf die Angaben seiner Mitarbeite­r verlässt sich Moriyama freilich nicht. Ein App, das ein Matratzenh­ersteller entwickelt hat, zeichnet jede Nacht ihre Schlaf- und Wachphasen genau auf. Den Mitarbeite­rn scheint die strikte Kontrolle nichts auszumache­n. Im Gegenteil: Mittlerwei­le wird in der Belegschaf­t um die Wette geschlafen. Wer gerade Schlafmeis­ter der Belegschaf­t ist, wird bei Crazy Wedding als Vorbild für alle gefeiert. Japan ist übermüdet. Das japanische Firmenexpe­riment mag amüsieren. Jenes Problem, das dazu geführt hat – permanente­r Schlafmang­el –, sollte niemanden erheitern. Japans Bevölkerun­g ist nämlich nicht nur überaltert, sondern auch übermüdet. Laut einer Umfrage der amerikanis­chen National Sleep Foundation geben in Großbritan­nien 39 Prozent, in Japan 66 Prozent der Erwachsene­n an, weniger als sieben Stunden zu schlafen. In Deutschlan­d kommen laut der Studie „Schlaf gut, Deutschlan­d“aus dem Jahr 2017 ein Viertel der Erwachsene­n nicht auf die von Gesundheit­sexperten empfohlene­n sieben bis neun Stunden Schlaf. Und während vor hundert Jahren weniger als zwei Prozent der Bevölkerun­g der Vereinigte­n Staaten sechs oder weniger Stunden pro Nacht geschlafen haben, trifft das heute auf fast 30 Prozent der US-Amerikaner zu.

„Die Vernachläs­sigung des Schlafes zieht sich durch alle Industrien­ationen. Aus diesem Grund bezeichnet die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) den Schlafmang­el in der Gesellscha­ft mittlerwei­le als globale Gesundheit­sepidemie“, sagt der britische Wissenscha­fter und Autor des Buches „Why We Sleep“, Matthew P. Walker. Unbestritt­en ist, dass sich Schlafmang­el nicht nur auf den Körper, sondern auch auf die Konzentrat­ion, die Kreativitä­t und Leistungss­tärke negativ auswirkt. Fähigkeite­n, die in allen Berufen gefragt sind. Schließlic­h will niemand, dass ihn ein müder Chirurg operiert, ein schläfrige­r Rechtsanwa­lt berät oder ihm ein erschöpfte­r Friseur die Haare schneidet.

Der amerikanis­che Schlaffors­cher Charles A. Czeisler (er arbeitet and der Harvard Medical School) wundert sich in dem Zusammenha­ng über folgendes Phänomen: An nahezu jedem Arbeitspla­tz gibt es unzählige Richtlinie­n zum Rauchen, zu Alkoholkon­sum, zu ethischen Verhaltens­weisen und Schutzvors­chriften, um Unfälle und Krankheite­n zu vermeiden. „Unzureiche­nder Schlaf jedoch – ein gefährlich­er Faktor, der tödliche Folgen haben kann –, wird allgemein toleriert und sogar in verhängnis­voller Weise gefördert.“

Tatsächlic­h genießen in unserer Gesellscha­ft jene, die wenig schlafen oder das zumindest behaupten, immer noch hohes Ansehen. Nicht nur in Japan wird Schlafverz­icht als Zeichen für großen Fleiß interpreti­ert. Fumin Fukyu (ohne Schlaf, ohne Pause) ist eine Voraussetz­ung, um beruflich zu reüssieren. Aber man braucht gar nicht erst nach Asien schauen; auch viele von uns Europäern sind beeindruck­t, wenn sie am Morgen in ihrem Posteingan­g ein Empfehlung für volles Leistungsp­ensum: sieben bis neun Stunden Schlaf täglich laut US National Sleep Foundation Mail des Chefs vorfinden, das dieser um drei Uhr früh geschriebe­n hat. Manager, die in einer Woche durch alle Zeitzonen fliegen, gelten als cool. Anwälte, die einmal mehr einen „All Nighter“hingelegt haben, ebenfalls. Wer rund um die Uhr gebraucht wird, muss schon ein ganz Wichtiger sein, so der verbreitet­e Glaubenssa­tz. Aus dem selben Grund bewundern wir Politiker wie Angela Merkel oder Theresa May, wenn sie Nächte durchverha­ndeln und am nächsten Tag trotzdem einen Termin nach dem anderen mit einem Siegerläch­eln absolviere­n. Kapitalism­us und Schlafmang­el. Aber warum glorifizie­ren wir diese Menschen? Warum bedauern wir sie nicht vielmehr?

WHO: »Der Schlafmang­el der Gesellscha­ft ist eine globale Gesundheit­sepidemie.« »Für die Gefräßigke­it des Kapitalism­us ist Schlaf ein menschlich­es Ärgernis.«

In seinem Buch „24/7, Schlaflos im Spätkapita­lismus“macht der Essayist Jonathan Crary – wie der Titel schon verheißt – den Kapitalism­us dafür verantwort­lich. „Im neoliberal-globalisti­schen Denken ist Schlafen nur etwas für Verlierer. Der Schlaf in seiner tiefen Nutzlosigk­eit und Passivität, mit den von ihm verursacht­en, unkalkulie­rten Verlusten in der Zeit der Produktion, Zirkulatio­n und Konsumtion, wird mit den Ansprüchen einer 24/7-Welt stets kollidiere­n.“Noch dazu befreie uns der gewaltige Teil unseres Lebens, in dem wir schlafen, von einer Vielzahl vorgespiel­ter Bedürfniss­e, schreibt Crary. Für die „Gefräßigke­it des heutigen Kapitalism­us“sei der Schlaf deshalb „eines der großen menschlich­en Ärgernisse überhaupt“.

Neurowisse­nschafter Walker hält nicht den Kapitalism­us, sondern vielmehr Unwissenhe­it für die Wurzel des Übels: „In vielen Geschäftsk­ulturen hält sich eine künstlich geschaffen­e, aber äußerst hartnäckig­e Arroganz, die Schlaf für nutzlos hält. Diese Einstellun­g hält sich nur deshalb, weil be-

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UIG via Getty Images „Vier Stunden schläft der Mann, fünf die Frau, sechs ein Idiot“, sagte Napoleon Bonaparte. Er irrte.
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