Dem Herzen geht die Kraft aus
Das Atmen fällt schwer, die Glieder schwellen an, der Blutdruck spielt verrückt: In Österreich sind schon rund 400.000 Menschen von der »Epidemie des 21. Jahrhunderts« betroffen. Sport und richtige Ernährung können vorbeugend wirken.
Johann Seydl öffnet die Tür zu einem seiner Gewächshäuser, in denen aktuell Spinat heranwächst. Bald will er auf Salatgurken umstellen – aus Temperaturgründen. „Der Salat braucht es warm, dem Spinat ist die Kälte egal – so wie mir“, sagt der 55-Jährige und greift sich beiläufig an seine Brust. Dorthin, wo sein Herz sitzt. „Mich wärmt mein Humor von innen“, sagt er. Keine Selbstverständlichkeit bei Seydls Vorgeschichte.
„Vor zehn Jahren hätte ich nicht gedacht, dass ich je wieder arbeiten oder lachen kann“, räumt er ein. „Das Atmen fiel schwer, ich schlief im Sitzen, da ich im Liegen das Gefühl hatte, zu ersticken.“Um die Stufen in den ersten Stock hinaufzukommen, brauchte der Vater eines Sohnes immer länger – alle paar Schritte wurde pausiert. „Hände, Arme und Beine schwollen an. Drückte man dagegen, blieb ein Abdruck“, erzählt er von der Flüssigkeit, die sich in den Gefäßen staute. „Zum Arzt ging ich aber lang nicht“, sagt er, „wer ist schon gern beim Doktor?“
Im Juni 2009 verschlechterte sich Seydls Zustand rasant. „Meine Lunge war zu 70 Prozent mit Wasser gefüllt – statt 85 brachte ich 105 Kilo auf die Waage.“Der Druck auf der Brust wurde stärker, die Luft weniger, die Müdigkeit mehr: „Als eine Motorradtour näherrückte, ließ ich mich untersuchen.“Aus der geplanten Ausfahrt wurde eine Einfahrt ins Krankenhaus. „Das Herz war vergrößert, die Klappen schlossen nicht richtig“, lautete der Befund. „Ich werde die Ultraschallaufnahmen nicht vergessen: Man sah keine Herzklappen mehr, nur wild fließendes Blut“, erinnert sich Seydls Frau, Barbara. Linke oder rechte Kammer. „Die Herzinsuffizienz beginnt meist schleichend und bleibt deshalb oft lang unerkannt“, sagt Kardiologe Peter Schmid. „Sie äußert sich anfangs in Müdigkeit und einem leichten Schwächegefühl; ihr Hauptsymptom aber ist die Kurzatmigkeit: erst bei größeren körperlichen Anstrengungen, dann auch beim Treppensteigen, dem Gehen in der Ebene und zuletzt im Ruhezustand.“Der Grund ist eine eingeschränkte Pumpfunktion der linken oder rechten Herzkammer: „Pumpt die linke Kammer nicht richtig – was häufiger vorkommt –, staut sich das Blut vor der Lunge, wodurch der Organismus nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird“, erläutert Schmid – „ein Zustand, der lebensgefährlich werden kann“. Bei verringerter Leistung der rechten Kammer „staut sich das Blut in den Gefäßen, was zu einer Vergrößerung von Leber, Milz, rechter Herzkammer, dem Heraustreten von Venen in Hals und Beinen und zu geschwollenen Füßen führen kann“.
Zu den häufigsten Ursachen zählen Herzinfarkte, Verkalkungen der Herzkranzgefäße, Herzklappenfehler und unbehandelter Bluthochdruck. „Hohe Cholesterinwerte, Diabetes mellitus, Übergewicht, Inaktivität und Rauchen begünstigen die Erkrankung“, sagt Schmid. Wer ein sportliches Leben in Kombination mit ausgewogener Ernährung führe und normalgewichtig sei, sei seltener betroffen, so der einstige Ärztliche Leiter des Rehazentrums Bad Schallerbach.
Als besonders gefährdet gelten Personen ab dem 50. Lebensjahr, weshalb der Innsbrucker Kardiologe Gerhard Pölzl Herzinsuffizienz unlängst die „Epidemie des 21. Jahrhunderts“nannte. Ein Befund, dem Martin Frömmel, Internist und Kardiologe am Göttlicher-Heiland-Krankenhaus in Wien, zustimmt: „Die Krankheit ist nicht neu, da aber die Gesellschaft immer älter wird, erkranken immer mehr daran.“Aktuell wird in Österreich von rund 400.000 Betroffenen ausgegangen.
„Wird eine Herzinsuffizienz festgestellt, gilt es als Erstes, die Patienten ,trockenzulegen‘“, so Frömmel. Dazu dienen Diuretika, Medikamente, die die Nieren anregen, sodass mehr Flüssigkeit ausgeschieden wird. „Dadurch verringert sich der Wasserstau in Lunge, Bauch und Beinen und das Herz wird entlastet.“Ist der Patient „trocken“, beginnt die medikamentöse Stärkung der Herzmuskulatur: „Meistens wird ein ACE-Hemmer verschrieben, der die Produktion des Hormons Angiotensin II einschränkt, wodurch die Blutgefäße weiter werden und der Blutdruck wieder sinkt.“Ebenfalls blutdrucksenkend wirken Beta-Rezeptoren-Blocker, die das Herz gegen Stresshormone wie Adrenalin schützen und so für einen niedrigeren Blutdruck sorgen. Fehler im System. „Die Patienten brauchen viel Geduld“, betont Frömmel. „Bis die richtige Dosierung gefunden ist, kann es Monate dauern. Außerdem fühlen sich die Betroffenen anfangs meist abgeschlagener als ohne Medikamente, da sie von einem extrem hohen auf einen normalen Blutdruck fallen – ein Zustand, den sie gar nicht mehr gewöhnt sind.“
Eine weitere Schwierigkeit: „Die Patienten sind nur am Anfang im Spital, wo sie unter Beobachtung von Ärzten stehen, zurück in den eigenen vier Wänden werden manche dann nachlässig – steigen nicht mehr täglich auf die Waage, trinken weniger als einen Liter Wasser pro Tag oder führen kein Blutdrucktagebuch. Hier spielt das Umfeld der Patienten eine gewichtige Rolle, denn das System lässt sie oft allein.“
Gemeint ist: Während in Deutschland ein Disease-Management-System für Herzinsuffizienz eingeführt wurde, besteht in Österreich keine strukturierte Vernetzung zwischen stationärem und niedergelassenem Bereich. „Die Herzinsuffizienz ist ein Beispiel für viele Systemfehler im Gesundheitswesen“, konstatiert Frömmel. Ein Beispiel: „Nimmt ein Patient Gewicht zu, ist das ein Zeichen, dass die Dosierung nicht passt. Das muss dem Kassenarzt auffallen, tut es aber nur selten, da er pro Patient nur wenige Minuten Zeit hat.“
Ein Teufelskreis, den das Projekt „HerzMobil Tirol“durchbrechen will. Es setzt auf die Kombination von Telemonitoring, Hausbesuchen und einer speziellen Ausbildung, allen voran von Pflegekräften, in Sachen Herzinsuffizienz. Die Österreichische Kardiologische Gesellschaft (ÖKG) will auf die „Herzinsuffizienz-Epidemie“mithilfe eines neuen Curriculums für eine Spezialisierung innerhalb der Kardiologie auf akute und chronische Herzschwäche reagieren. „Es ist höchst an der Zeit, dem Herzen mehr Aufmerksamkeit zu schenken“, meint Frömmel, „kein Auto fährt ohne Motor“.
Bei Anton, der seinen ganzen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, war und ist die treibende Kraft seine Frau, Vera. Als er im Oktober 2015 wegen einer Bronchitis zum Hausarzt ging, stellte dieser Vorhofflimmern fest: Antons Herz schlug zu schnell. „Wir fuhren ins Spital, doch das dortige EKG zeigte keine Auffälligkeiten mehr, man schickte uns wieder weg.“Zwei Wochen später bekam Anton kaum noch Luft. „Sein Körper war angeschwollen, er röchelte, hielt sich die Brust“, erzählt Vera. Wieder fuhren sie ins Krankenhaus, wo Anton zwei Tage lang in ein Gangbett gelegt wurde. „Es passierte kaum etwas“, sagt Vera, „nur, dass sich sein Zustand zusehends verschlechterte“. Schließlich konsultierte das Paar privat eine Lungenfachärztin. „Sie erkannte, dass das Hauptproblem nicht die Lunge, sondern das Herz war“, sagt Anton – „Glück im Unglück“.
Die Folgeuntersuchungen zeigten: „Als ich zu Doktor Frömmel kam, er-
»Wird eine Herzinsuffizienz festgestellt, gilt es, die Patienten ›trockenzulegen‹.«