»Die EU kann wirklich scheitern«
Ex-Außenminister Sigmar Gabriel über Deutschlands moralische Arroganz, den dramatischen Umbruch in der Welt, den drohenden US-Handelskrieg mit Europa und den Machtkampf in seiner SPD.
Frankreichs Präsident, Emmanuel Macron, warnte neulich in einem offenen Brief, dass die Gefahr für die EU so groß sei wie nie zuvor. Teilen Sie seine Befürchtung? Sigmar Gabriel: Ich glaube, er hat recht. Gerade wir Deutschen behandeln die Europäische Union oft nachlässig, so, als hätten wir eine zweite im Keller. Die Herausforderungen für die EU waren noch nie so groß wie heute. Die EU kann wirklich scheitern. Es wird sehr auf uns Deutsche ankommen, wenn wir sie für unsere Kinder retten wollen. Woran kann die EU scheitern? An ihren inneren Widersprüchen. Europa ist innerlich zerklüftet und mehrfach gespalten: in der Finanzpolitik zwischen Nord und Süd, in Fragen der Rechtsstaatlichkeit zwischen Ost und West. Die zweite große Gefahr besteht im Austritt Großbritanniens. Wenn dieses Land geht, wird der Rest der Welt uns noch weniger ernst nehmen, als das heute schon der Fall ist. Das ist nicht bloß eine Gefahr, sondern schon fast ein Faktum. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, die Briten zumindest in der Zollunion zu halten. Wir sind die letzten Vegetarier der Weltpolitik in dieser Welt der Fleischfresser. Wenn die Briten gehen, dann glauben alle, wir seien Veganer. Mit den Briten gehen militärische und strategische Fähigkeiten verloren. Wir werden einfach als Schwächlinge wahrgenommen, wenn wir nicht einmal unseren Laden zusammenhalten können. Es wird noch mehr Versuche geben, die Risse der EU zu vertiefen. Das versuchen die Russen im Osten jetzt schon, das versuchen auch die Chinesen mit ihrer 16+1-Gruppe. Und das machen die Amerikaner. Wir haben keinen Chef in Europa, der Kleine hat bei uns genau so viel zu sagen wie der Große. Und das finden die Trumps, die Xi Jinpings, die Putins und die Erdogans˘ dieser Welt komisch. Es gibt schon eine Rangordnung in Europa, und oben steht Deutschland. Die Bonner Republik hat die Gleichwertigkeit aller Europäer noch besser repräsentiert. Die Berliner Republik hat einen Hang zur Großmannssucht. Ich erinnere mich an diesen Spruch von CDU-Fraktionschef Volker Kauder, den ich sonst ja durchaus sehr schätze. Aber sein Satz, endlich werde in Europa wieder Deutsch gesprochen, wirkte auf alle anderen mitten in der Finanzkrise unsagbar arrogant. Kohl, Schmidt und Genscher wussten noch, dass man zuerst einmal zu den Kleinen fährt. In der Flüchtlingskrise hat Berlin auch nicht nachgefragt, wie die Idee der Verteilung von Flüchtlingen in Mittelosteuropa ankommt. Unser Fehler war, dass wir damals nicht sofort mit allen Staatschefs Europas zusammengekommen sind. Das hätte vielleicht auch kein gemeinsames Ergebnis gebracht. Aber es ist ein Unterschied, ob man erst mit allen redet und dann Fakten schafft oder umgekehrt. Sie schreiben in Ihrem Buch „Zeitenwende in der Weltpolitik“von einem moralischen Überlegenheitsgestus Deutschlands. Es gibt Chauvinismus von rechts, das ist der Nationalismus. Aber es gibt auch einen von links. Beide glauben, am
1959
Sigmar Gabriel wird in Goslar geboren. 1977 tritt er als 18-jähriger Gymnasiast der SPD bei. Nach einem Studium der Germanistik, Politik Soziologie arbeitet Gabriel als Lehrer. Nach etlichen Jahren in der Kommunalpolitik wird er mit 31 Jahren Mitglied des niedersächsischen Landtags.
1999
Gabriel folgt dem zum Kanzler gewählten Gerhard Schröder als Niedersachsens Ministerpräsident. 2003 verliert er die Landtagswahl gegen Christian Wulff.
2005
Gabriel wird in den Bundestag gewählt und übernimmt in Merkels erster Großer Koalition das Amt des Umweltministers.
2009
Gabriel wird SPDChef. Von Dezember 2013 bis Jänner 2017 fungiert er als Wirtschaftsminister.
2017
Gabriel verzichtet auf Kanzlerkandidatur und Parteivorsitz zugunsten von Martin Schulz. Von Jänner 2017 bis März 2018 führt er das Außenamt. Die neue SPChefin, Andrea Nahles, nominiert ihn nicht mehr als Minister. deutschen Wesen müsse die Welt genesen. Der eine aufgrund von Nationalismus, der andere wegen moralischer Ansprüche an die Welt. Wir bemühen uns zu selten zu verstehen, warum andere die Dinge nicht so sehen wie wir. Gleichzeitig gibt es ein Führungsvakuum in der EU. Die Vorschläge, die Macron bald nach seinem Amtsantritt für eine EU-Reform unterbreitet hat, sind kaum auf Echo bei der deutschen Bundesregierung gestoßen. Die Kehrseite der deutschen Überheblichkeit ist der Glaube, sich nicht kümmern zu müssen. Ich habe es von Anfang an für einen Riesenfehler gehalten, auf die Vorschläge Macrons nicht zu reagieren. Offenbar glauben viele Deutsche, dass die momentane Windstille ein Ausdruck einer ruhigen See sei. Im Auge des Orkans ist es immer windstill. Da draußen ist richtig was los. Es gibt erste Indikatoren, dass das deutsche Erfolgsmodell an Grenzen stößt. Die Zahlen trüben sich ein, die Autoindustrie schwächelt. Muss sich Deutschland neu erfinden? Wir werden uns nicht unbedingt neu erfinden, aber wohl ziemlich anstrengen müssen. Die Digitalisierung stellt alles auf den Kopf. Gleichzeitig wenden die USA der Sicherheitspartnerschaft mit Europa den Rücken zu. Ein Bündnis wie die Nato lebt von der Glaubwürdigkeit des Versprechens, für die Freiheit der anderen Mitgliedstaaten einzustehen. In der Sekunde, in der ein USPräsident daran Zweifel aufkommen lässt, ist die Nato schon infrage gestellt. Der frühere Garant der liberalen Ordnung zieht mit der Abrissbirne durch das System? Die USA spüren nicht erst unter Trump ihre imperiale Überdehnung. Sie wollen ihre Kraft auf ihren neuen geopolitischen Konkurrenten konzentrieren, auf China. Und deswegen werden sie sich nicht mehr überall engagieren. Der Unterschied zwischen Obama und Trump ist: Obama wollte das Vakuum, das dabei entsteht, mit Verträgen füllen. Trump glaubt nicht an so etwas wie eine internationale Gemeinschaft. Für Trump ist die Welt eine Kampfarena: Nur der Stärkere setzt sich durch. Trump verabschiedet sich vom Multilateralismus, will nur noch bilaterale Deals eingehen. Wird seine transaktionale Außenpolitik Schule machen? Autoritäre Regime wie in Russland, der Türkei oder China halten das im Prinzip für gar keine schlechte Idee. Für ein Gebilde wie Europa ist es eine Katastrophe. Andererseits spricht Trump viele Dinge an, die ja stimmen: China verstößt gegen fairen Wettbewerb, schottet seine Wirtschaft ab, verletzt Urheberrechte. Trump hat auch recht, wenn er Europa aufruft, Staatsbürger zurückzunehmen, die für den IS gekämpft haben. Nicht selten benennt Trump ernsthafte Missstände. Nur seine Antworten darauf sind meist falsch und vergrößern die Missstände sogar noch. Er hat auch recht, die Europäer aufzufordern, höhere Nato-Beiträge zu zahlen. Ja, aber es geht auch darum, wie und wofür man das macht. Ich halte nichts davon, zwei Prozent des Bruttosozialprodukts in die Bundeswehr zu stecken und Außen- und Sicherheitspolitik auf das rein Militärische zu verengen. Ohne geht es allerdings auch nicht. Europa könnte in Afrika entwicklungspolitisch viel mehr machen und im westlichen Balkan für mehr Stabilität sorgen. Warum investiert China in die Bahnverbindungen zwischen Belgrad und Budapest? Es ist doch abenteuerlich, dass die Europäer das nicht allein können und deshalb die Chinesen auf einmal Einfluss auf Ungarn haben. Die Chinesen sind billiger. Das könnten wir auch machen. Doch unlängst ist eine Fusion von Siemens und Alstom im Schienenverkehr mit der Begründung verhindert worden, dass das Unternehmen dann für Europas Markt zu groß wäre. Selbst wenn die beiden mit Bombardier zusammengingen, wären sie immer noch kleiner als der chinesische Wettbewerber, der auf den Markt drängt. War Europa naiv im Umgang mit China? Mit 1,3 Milliarden Menschen haben die Chinesen das Recht, mehr zu sein als ein billiger Marktplatz. Man kann ihnen nicht vorwerfen, dass sie eine geopolitische Strategie haben – mit dem Namen Seidenstraße. Wir müssen uns vorwerfen, dass wir keine haben. Europas Strategie erschöpft sich darin, möglichst lang so gut zu leben wie jetzt. Das ist Taktik. Strategie wäre, wenn wir mit anderen versuchen würden, China zu einem anderen Verhalten zu bewegen. Trump wird das in Teilen jetzt schaffen. Ich bin ziemlich sicher, dass China und die USA schon bald einen Deal abschließen werden. Trump muss zu Hause etwas vorzeigen. Und die Chinesen können sich derzeit keinen Handelskrieg leisten. Und wo bleibt Europa in dieser Gleichung? Nach den Chinesen wird sich Trump einem neuen Gegner zuwenden: den Europäern, besonders den Deutschen mit ihrem Handelsbilanzüberschuss. Das heißt, Trump wird hohe Zölle auf deutsche Autos knallen. Wir sollten hinhören, welche Kritik Trump eigentlich hat. Außer den Deutschen gibt es niemanden auf der Welt, der den hohen Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands gut findet. Das muss ja jemand zahlen, es sei denn, das Geld kommt vom Mars. Gezahlt haben bisher die Amerikaner, sie werden so nicht weitermachen. Es stellt sich die Frage, warum wir zehn Prozent Einfuhrzölle auf amerikanische Autos einheben und die USA zwei Prozent auf unsere Fahrzeuge. Fair ist das nicht. In Wahrheit steckt mehr dahinter. Wir dürfen unsere Agrarprodukte nicht in die USA bringen und Amerikaner nicht ihre Autos nach Europa. Beides hängt miteinander zusammen und lässt sich auch nur gemeinsam lösen. Zur Zeit schützt jeder das, was ihm besonders wichtig und zugleich verletzlich ist. Auch nicht wirklich Freihandel. Nein, aber es nicht nur nicht frei, sondern auch nicht fair. Warum brauchen wir Zölle, wenn Deutschland die besten Autos baut und der Verkaufserfolg