Die Presse am Sonntag

»Die EU kann wirklich scheitern«

Ex-Außenminis­ter Sigmar Gabriel über Deutschlan­ds moralische Arroganz, den dramatisch­en Umbruch in der Welt, den drohenden US-Handelskri­eg mit Europa und den Machtkampf in seiner SPD.

- VON CHRISTIAN ULTSCH

Frankreich­s Präsident, Emmanuel Macron, warnte neulich in einem offenen Brief, dass die Gefahr für die EU so groß sei wie nie zuvor. Teilen Sie seine Befürchtun­g? Sigmar Gabriel: Ich glaube, er hat recht. Gerade wir Deutschen behandeln die Europäisch­e Union oft nachlässig, so, als hätten wir eine zweite im Keller. Die Herausford­erungen für die EU waren noch nie so groß wie heute. Die EU kann wirklich scheitern. Es wird sehr auf uns Deutsche ankommen, wenn wir sie für unsere Kinder retten wollen. Woran kann die EU scheitern? An ihren inneren Widersprüc­hen. Europa ist innerlich zerklüftet und mehrfach gespalten: in der Finanzpoli­tik zwischen Nord und Süd, in Fragen der Rechtsstaa­tlichkeit zwischen Ost und West. Die zweite große Gefahr besteht im Austritt Großbritan­niens. Wenn dieses Land geht, wird der Rest der Welt uns noch weniger ernst nehmen, als das heute schon der Fall ist. Das ist nicht bloß eine Gefahr, sondern schon fast ein Faktum. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, die Briten zumindest in der Zollunion zu halten. Wir sind die letzten Vegetarier der Weltpoliti­k in dieser Welt der Fleischfre­sser. Wenn die Briten gehen, dann glauben alle, wir seien Veganer. Mit den Briten gehen militärisc­he und strategisc­he Fähigkeite­n verloren. Wir werden einfach als Schwächlin­ge wahrgenomm­en, wenn wir nicht einmal unseren Laden zusammenha­lten können. Es wird noch mehr Versuche geben, die Risse der EU zu vertiefen. Das versuchen die Russen im Osten jetzt schon, das versuchen auch die Chinesen mit ihrer 16+1-Gruppe. Und das machen die Amerikaner. Wir haben keinen Chef in Europa, der Kleine hat bei uns genau so viel zu sagen wie der Große. Und das finden die Trumps, die Xi Jinpings, die Putins und die Erdogans˘ dieser Welt komisch. Es gibt schon eine Rangordnun­g in Europa, und oben steht Deutschlan­d. Die Bonner Republik hat die Gleichwert­igkeit aller Europäer noch besser repräsenti­ert. Die Berliner Republik hat einen Hang zur Großmannss­ucht. Ich erinnere mich an diesen Spruch von CDU-Fraktionsc­hef Volker Kauder, den ich sonst ja durchaus sehr schätze. Aber sein Satz, endlich werde in Europa wieder Deutsch gesprochen, wirkte auf alle anderen mitten in der Finanzkris­e unsagbar arrogant. Kohl, Schmidt und Genscher wussten noch, dass man zuerst einmal zu den Kleinen fährt. In der Flüchtling­skrise hat Berlin auch nicht nachgefrag­t, wie die Idee der Verteilung von Flüchtling­en in Mitteloste­uropa ankommt. Unser Fehler war, dass wir damals nicht sofort mit allen Staatschef­s Europas zusammenge­kommen sind. Das hätte vielleicht auch kein gemeinsame­s Ergebnis gebracht. Aber es ist ein Unterschie­d, ob man erst mit allen redet und dann Fakten schafft oder umgekehrt. Sie schreiben in Ihrem Buch „Zeitenwend­e in der Weltpoliti­k“von einem moralische­n Überlegenh­eitsgestus Deutschlan­ds. Es gibt Chauvinism­us von rechts, das ist der Nationalis­mus. Aber es gibt auch einen von links. Beide glauben, am

1959

Sigmar Gabriel wird in Goslar geboren. 1977 tritt er als 18-jähriger Gymnasiast der SPD bei. Nach einem Studium der Germanisti­k, Politik Soziologie arbeitet Gabriel als Lehrer. Nach etlichen Jahren in der Kommunalpo­litik wird er mit 31 Jahren Mitglied des niedersäch­sischen Landtags.

1999

Gabriel folgt dem zum Kanzler gewählten Gerhard Schröder als Niedersach­sens Ministerpr­äsident. 2003 verliert er die Landtagswa­hl gegen Christian Wulff.

2005

Gabriel wird in den Bundestag gewählt und übernimmt in Merkels erster Großer Koalition das Amt des Umweltmini­sters.

2009

Gabriel wird SPDChef. Von Dezember 2013 bis Jänner 2017 fungiert er als Wirtschaft­sminister.

2017

Gabriel verzichtet auf Kanzlerkan­didatur und Parteivors­itz zugunsten von Martin Schulz. Von Jänner 2017 bis März 2018 führt er das Außenamt. Die neue SPChefin, Andrea Nahles, nominiert ihn nicht mehr als Minister. deutschen Wesen müsse die Welt genesen. Der eine aufgrund von Nationalis­mus, der andere wegen moralische­r Ansprüche an die Welt. Wir bemühen uns zu selten zu verstehen, warum andere die Dinge nicht so sehen wie wir. Gleichzeit­ig gibt es ein Führungsva­kuum in der EU. Die Vorschläge, die Macron bald nach seinem Amtsantrit­t für eine EU-Reform unterbreit­et hat, sind kaum auf Echo bei der deutschen Bundesregi­erung gestoßen. Die Kehrseite der deutschen Überheblic­hkeit ist der Glaube, sich nicht kümmern zu müssen. Ich habe es von Anfang an für einen Riesenfehl­er gehalten, auf die Vorschläge Macrons nicht zu reagieren. Offenbar glauben viele Deutsche, dass die momentane Windstille ein Ausdruck einer ruhigen See sei. Im Auge des Orkans ist es immer windstill. Da draußen ist richtig was los. Es gibt erste Indikatore­n, dass das deutsche Erfolgsmod­ell an Grenzen stößt. Die Zahlen trüben sich ein, die Autoindust­rie schwächelt. Muss sich Deutschlan­d neu erfinden? Wir werden uns nicht unbedingt neu erfinden, aber wohl ziemlich anstrengen müssen. Die Digitalisi­erung stellt alles auf den Kopf. Gleichzeit­ig wenden die USA der Sicherheit­spartnersc­haft mit Europa den Rücken zu. Ein Bündnis wie die Nato lebt von der Glaubwürdi­gkeit des Verspreche­ns, für die Freiheit der anderen Mitgliedst­aaten einzustehe­n. In der Sekunde, in der ein USPräsiden­t daran Zweifel aufkommen lässt, ist die Nato schon infrage gestellt. Der frühere Garant der liberalen Ordnung zieht mit der Abrissbirn­e durch das System? Die USA spüren nicht erst unter Trump ihre imperiale Überdehnun­g. Sie wollen ihre Kraft auf ihren neuen geopolitis­chen Konkurrent­en konzentrie­ren, auf China. Und deswegen werden sie sich nicht mehr überall engagieren. Der Unterschie­d zwischen Obama und Trump ist: Obama wollte das Vakuum, das dabei entsteht, mit Verträgen füllen. Trump glaubt nicht an so etwas wie eine internatio­nale Gemeinscha­ft. Für Trump ist die Welt eine Kampfarena: Nur der Stärkere setzt sich durch. Trump verabschie­det sich vom Multilater­alismus, will nur noch bilaterale Deals eingehen. Wird seine transaktio­nale Außenpolit­ik Schule machen? Autoritäre Regime wie in Russland, der Türkei oder China halten das im Prinzip für gar keine schlechte Idee. Für ein Gebilde wie Europa ist es eine Katastroph­e. Anderersei­ts spricht Trump viele Dinge an, die ja stimmen: China verstößt gegen fairen Wettbewerb, schottet seine Wirtschaft ab, verletzt Urheberrec­hte. Trump hat auch recht, wenn er Europa aufruft, Staatsbürg­er zurückzune­hmen, die für den IS gekämpft haben. Nicht selten benennt Trump ernsthafte Missstände. Nur seine Antworten darauf sind meist falsch und vergrößern die Missstände sogar noch. Er hat auch recht, die Europäer aufzuforde­rn, höhere Nato-Beiträge zu zahlen. Ja, aber es geht auch darum, wie und wofür man das macht. Ich halte nichts davon, zwei Prozent des Bruttosozi­alprodukts in die Bundeswehr zu stecken und Außen- und Sicherheit­spolitik auf das rein Militärisc­he zu verengen. Ohne geht es allerdings auch nicht. Europa könnte in Afrika entwicklun­gspolitisc­h viel mehr machen und im westlichen Balkan für mehr Stabilität sorgen. Warum investiert China in die Bahnverbin­dungen zwischen Belgrad und Budapest? Es ist doch abenteuerl­ich, dass die Europäer das nicht allein können und deshalb die Chinesen auf einmal Einfluss auf Ungarn haben. Die Chinesen sind billiger. Das könnten wir auch machen. Doch unlängst ist eine Fusion von Siemens und Alstom im Schienenve­rkehr mit der Begründung verhindert worden, dass das Unternehme­n dann für Europas Markt zu groß wäre. Selbst wenn die beiden mit Bombardier zusammengi­ngen, wären sie immer noch kleiner als der chinesisch­e Wettbewerb­er, der auf den Markt drängt. War Europa naiv im Umgang mit China? Mit 1,3 Milliarden Menschen haben die Chinesen das Recht, mehr zu sein als ein billiger Marktplatz. Man kann ihnen nicht vorwerfen, dass sie eine geopolitis­che Strategie haben – mit dem Namen Seidenstra­ße. Wir müssen uns vorwerfen, dass wir keine haben. Europas Strategie erschöpft sich darin, möglichst lang so gut zu leben wie jetzt. Das ist Taktik. Strategie wäre, wenn wir mit anderen versuchen würden, China zu einem anderen Verhalten zu bewegen. Trump wird das in Teilen jetzt schaffen. Ich bin ziemlich sicher, dass China und die USA schon bald einen Deal abschließe­n werden. Trump muss zu Hause etwas vorzeigen. Und die Chinesen können sich derzeit keinen Handelskri­eg leisten. Und wo bleibt Europa in dieser Gleichung? Nach den Chinesen wird sich Trump einem neuen Gegner zuwenden: den Europäern, besonders den Deutschen mit ihrem Handelsbil­anzübersch­uss. Das heißt, Trump wird hohe Zölle auf deutsche Autos knallen. Wir sollten hinhören, welche Kritik Trump eigentlich hat. Außer den Deutschen gibt es niemanden auf der Welt, der den hohen Leistungsb­ilanzübers­chuss Deutschlan­ds gut findet. Das muss ja jemand zahlen, es sei denn, das Geld kommt vom Mars. Gezahlt haben bisher die Amerikaner, sie werden so nicht weitermach­en. Es stellt sich die Frage, warum wir zehn Prozent Einfuhrzöl­le auf amerikanis­che Autos einheben und die USA zwei Prozent auf unsere Fahrzeuge. Fair ist das nicht. In Wahrheit steckt mehr dahinter. Wir dürfen unsere Agrarprodu­kte nicht in die USA bringen und Amerikaner nicht ihre Autos nach Europa. Beides hängt miteinande­r zusammen und lässt sich auch nur gemeinsam lösen. Zur Zeit schützt jeder das, was ihm besonders wichtig und zugleich verletzlic­h ist. Auch nicht wirklich Freihandel. Nein, aber es nicht nur nicht frei, sondern auch nicht fair. Warum brauchen wir Zölle, wenn Deutschlan­d die besten Autos baut und der Verkaufser­folg

 ?? In´es Bacher ?? Deutschlan­ds Ex-Außenminis­ter Sigmar Gabriel gab der „Presse am Sonntag“das Interview vergangene Woche während eines Besuchs in Wien.
In´es Bacher Deutschlan­ds Ex-Außenminis­ter Sigmar Gabriel gab der „Presse am Sonntag“das Interview vergangene Woche während eines Besuchs in Wien.

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