Land der Verzweifelten
Nach Jahren der Krise ist das Leben in Venezuela zum Überlebenskampf geworden. Hunger, Angst und Entbehrung prägen den Alltag vieler Menschen. Es könnte noch schlimmer kommen. Ein Lokalaugenschein.
Es geht alles sehr schnell: eine silbergraue Geländelimousine fährt am Eingang des Colegio de Ingenieros vor, die linke Hintertür geht auf und Juan Guaido´ steigt aus dem Wagen. Der selbsternannte Interimspräsident Venezuelas lacht in die Menschentraube aus Anhängern, Reportern, Kameramännern und Fotografen. Die Mittagssonne brennt. Es ist ruhig in Santa Rosa. Nur eine Autoalarmanlage stört. Keine Polizei weit und breit. „Bienvenido Presidente!“Kameras klicken. Jubelrufe. Eine grauhaarige Dame mit Kunstblumen im Haar umarmt Guaido´ und drückt ihm einen Kuss auf die Wange. Diese Volksnähe ist selbst für Südamerikaner außergewöhnlich.
Der Oppositionspolitiker schüttelt Hände, winkt, formt seine Hand zum Victory-Zeichen und verschwindet dann im Gedränge. Seine Anhänger, darunter Studenten, Anwälte und Pensionisten, sind alle in der Farbe Weiß gekleidet. Das Symbol der Hoffnung. Mit rot-gelb-blauen Flaggen dekoriert feiern sie ihren charismatischen Anführer. Sie demonstrieren für die Rückkehr der Demokratie, die die Alten in ihrer Jugend erlebten. Und sie verteufeln Präsident Nicolas´ Maduro. Hunger. Die wüsten Schmähungen gegen den verhassten Machthaber und die Rufe nach Aufbruch sind zehn U-Bahn-Stationen weiter in Petare längst verhallt. Politik ist in einem der schlimmsten Armenviertel des Kontinents keine Priorität. Hier bestimmen Hunger, Gewalt und Seuchen das Leben. Die Versorgungskrise des einst reichen Ölstaats schlägt in den Barrios, wie die Viertel genannt werden, besonders durch. Überall sieht man ausgemergelte Gesichter, struppige Haare, Hungerbäuche. 15 Prozent der Venezolaner sind laut Caritas unterernährt.
Die Tristesse ist am Schwarzmarkt an der Avenida Francisca de Miranda, benannt nach einem venezolanischen Unabhängigkeitskämpfer, allgegenwärtig. An der Mündung der Prachtstraße ins Elendsviertel tummeln sich eifrige Verkäufer, bettelnde Kinder und Obdachlose. Aus den mit Abfall überfüllten Abwasserrinnen kommt säuerlicher Gestank. Die Straße säumen verfallene Bauten und Baracken.
In Endlosschleifen preisen die Marktschreier ihre Waren an. Eine junge Mutter mit ihrem Kleinkind am Arm will sechs bräunliche Bananen an den Mann bringen. Ihr Leibchen ist schmutzig und zerrissen, ihre Augen sind müde. 1100 Bolivares steht auf dem Pappkarton. Daneben „Hay Punto“. Kartenzahlung möglich. Die Verkäuferin reicht einen Kreditkartenterminal. Kaum jemand zahlt in bar. Von den ohnehin fast wertlosen Scheinen sind wenige im Umlauf, die Geldausgabe am Bankschalter ist limitiert.
Inmitten der Menge sitzt ein älterer Mann mit nur einem Päckchen Arepa. Mehr als das Maismehl, aus dem die landestypischen Fladen gebacken werden, hat er nicht anzubieten. Er ist auf die 5000 Bolivares, umgerechnet 1,50 Euro angewiesen. Es ist das Vielfache des Preises, zu dem die Ware im Stadtzentrum von der Regierung an Supermärkte ausgegeben wird.
Das Weiterverkaufen hat sich in der Not zum Geschäftsmodell entwickelt. Vor den Verkaufsläden im bürgerlichen Stadtviertel Altamira stehen lange Schlangen. Frauen und Alte warten tagelang auf die Lieferung von Grundnahrungsmitteln. Sind die Regale mit Reis und Nudeln aufgefüllt, wird ein Teil der Ware sofort hinter der Ladentür an die Wartenden weiterverkauft.
Vor fünf Jahren, bevor der Ölpreis einbrach und Venezuela zum Sozialfall wurde, war das Angebot noch reichlich. Schokolade aus der Schweiz, Bier aus Belgien und Erdnussbutter aus England. An den Geschmack der Import-Köstlichkeiten könne er sich noch erinnern, sagt ein Familienvater beim Blick auf seinen fast leeren Einkaufskorb. Etwas Käse und Brot. Für mehr reicht das Geld mittlerweile nicht.
Die horrende Inflation, mittlerweile bei 2,7 Millionen Prozent, hat den Venezolanern alles geraubt. Die Preise verlieren nach wenigen Tagen ihre Gültigkeit. 12 Eier kosten heute 15.000 Bolivares, ein Fläschchen Essig selbiges, 500 Gramm Rindsfaschiertes 7000 Bolivares. Zum Vergleich: 18.000 Bolivares Mindestlohn werden monatlich vom Staat gleichermaßen an Straßenkehrer, Verkäuferinnen und Universitätsprofessoren ausbezahlt. Von umgerechnet rund fünf Euro kann keine Familie über die Runden kommen.
Nur wer es sich leisten kann, fliegt zum Einkauf nach Aruba oder Miami. Oder flieht vor der Trostlosigkeit. Täglich sind es über 5000 Menschen, die das Land verlassen. Insgesamt haben mehr als 3,5 Millionen Venezolaner ihrer Heimat den Rücken gekehrt, schätzt die Internationale Organisation für Migration (IOM). Die Geldsendungen der Auswanderer sind es, die Venezuela und seine Bewohner noch irgendwie am Leben erhalten. Pracht. Bei einer Rundfahrt durch Caracas ist die jahrelange Misswirtschaft nicht sofort ersichtlich: Neben der Autopista ragen schöne Glasbauten in den Himmel. Parks mit bronzenen Statuen und prächtigen Springbrunnen erinnern an die Hochkonjunktur Anfang der 2000er-Jahre. Farbenfrohe Werbebanner über mehrere Stockwerke hängen an den Gebäuden. Der Machthaber grinst mit Kindern und Arbeitern von Plakaten. Die Botschaft „Vamos Venezuela. Todo es possible“: Auf geht’s, Venezuela. Alles ist möglich.
Der Spruch klingt wie purer Hohn: Gerade hat ein massiver Stromausfall das Land lahmgelegt. Seit Wochen gibt es kein fließendes Wasser. Müll wird nur sporadisch eingesammelt. In den Bergen aus Abfall wühlen Hungernde in Lumpen nach Essbarem.
Um ihre mickrigen Einkommen aufzubessern, unternehmen die Menschen vieles. Sie dealen, sie stehlen. Oder sie verkaufen sich selbst. Junge Mädchen, keine 18 Jahre alt, lehnen an Gartenzäunen an einer mit Bäumen gesäumten Straßenecke zur Avenida Libertador. Ihren Dienst bieten die jungen Frauen mit dem apathischen Blick für 70 Dollar-Cent an. Davon kaufen die Prostituierten Drogen. Von dem, was übrig bleibt, ernähren sie ihre Familie, ihre Kinder – ungewollte Schöpfungen längst vergangener Nächte. Für Verhütung bleibt kein Geld. Kondome sind schwer zu ergattern und teuer. Drei Stück für ein Drittel eines Monatslohns.
Viele Schwangerschaften sind ungewollt. Nicht wenige Ungeborene werden noch im Mutterleib getötet, mit spitzen Gegenständen oder Seifenpasten. Eine Frauenrechtsexpertin dokumentiert die Fälle. Die Zahlen sind gestiegen. Parallel dazu nimmt die Ausbreitung von Hepatitis, HIV, Gelbfieber und Kinderkrankheiten rasend schnell zu, wie das Rote Kreuz bestätigt. Vom Staat finanzierte Impfungen gibt es längst nicht mehr. Genauso wenig wie Aspirin, Vitaminpulver oder Kalziumtabletten.
Das Weiterverkaufen hat sich in der Not zu einem Geschäftsmodell entwickelt. Das Gesundheitssystem ist kollabiert. Kranksein kann das Todesurteil bedeuten.
Die Schränke in den Apotheken sind mit Schönheitsprodukten angefüllt. Auf die Lieferung von Medikamenten müssen sie oft wochenlang warten. Gibt es welche, werden viele unter dem Ladentisch verkauft. Das Gesundheitssystem ist kollabiert. Kranksein kann ein Todesurteil sein. Es gibt keine Desinfektionsmittel, keine frischen Nadeln, keine Antibiotika.
Die Krankenschwestern der Abteilung Geburts- und Frauenheilkunde im Universitätsklinikum stehen achselzuckend vor dem leeren Vorratsschrank. Sie können nicht helfen, nur Trost spenden. Es ist stickig. Der warme Wind weht leicht durch das Fenster, die Scheiben fehlen. Im Nebenraum stillt eine Mutter ihr Neugeborenes. Sie liegt auf einem alten, rostigen Bett. Die Laken sind übersät mit Flecken. Der penetrante Geruch von Urin sticht in der Nase. Ratten suchen in den Gängen nach Futter. Zum Ekel gesellt sich Furcht: Patienten werden bestohlen oder stehlen selbst.
Es geht ums nackte Überleben. Die Krise hat Missgunst und Angst gesät und vielen die Heiterkeit geraubt. Doch es könnte noch schlimmer kommen: Das Benzin – eine Tankfüllung kostet weniger als eine Banane – ist ebenfalls knapp. Ist es aus, droht der Stillstand. Und in drei Monaten werden die Lebensmittelvorräte im Land aufgebraucht sein. Venezuela steht vor dem Untergang. Nicht nur dem politischen.