Der Mann, der uns auf Urlaub schickt
Die Reise-Seite Tripadvisor hat Unternehmen groß gemacht – und andere vernichtet. Ihre Macht, die auf Hunderten Millionen Bewertungen und Meinungen fußt, bringt sie aber an wirtschaftliche und moralische Grenzen. »Die Presse am Sonntag« traf ihren Gründer
Es war einmal eine Restaurantchefin. Sie konnte jeden Monat gerade noch ihre Rechnungen begleichen. Dabei waren das Personal und die Küche ausgezeichnet. Dann empfahl ihr jemand, sie solle die Gäste um Rezensionen und Fotos auf Tripadvisor bitten, wenn es ihnen geschmeckt hat. Ihr Lokal ist heute das bestbewertete im südafrikanischen Kapstadt, die Tische immer gebucht, die Rechnungen beglichen.
Das ist der Stoff, aus dem die Geschichte der Reise-Seite Tripadvisor gemacht ist. Dem digitalen Gästebuch, in dem sich Urlauber bis dato 730 Millionen Mal Lob und Kritik über Hotels, Restaurants, Attraktionen, Touren und Dutzende andere Erlebnisse von der Seele geschrieben haben. TripadvisorChef Stephen Kaufer liebt solche Geschichten. Am Mittwoch kam der Sohn der Restaurantbesitzerin aus Kapstadt auf der weltgrößten Tourismusmesse ITB in Berlin auf ihn zu, um ihm die Hand zu schütteln und Danke zu sagen. „Ich bin selig, wenn ich die unglaubliche Zahl herzerwärmender Berichte von Unternehmern höre, denen wir aus dem Nichts das Wachstum ermöglicht haben“, sagt Kaufer. Der sympathische Mr. Kaufer. Das will man ihm glauben. Der studierte Informatiker wirkt im Gespräch wie der sympathische Familienvater, der sich selbst nicht allzu wichtig nimmt, seine Firma – die er 2004 verkaufte, viel zu früh, wie er später anmerkte – aber sehr. Er sei bei Studien grundsätzlich skeptisch, aber diese hätten Tripadvisor attestiert, dass es zehn Prozent des internationalen Reiseverhaltens beeinflusst. „Ich bin mir sicher, wir haben einige Betriebe aus dem Markt gedrängt – weil sie ihre Kunden nicht glücklich machen konnten oder einfach über ihr Angebot gelogen haben.“Bei solchen Sätzen erinnert Kaufer weniger an den netten Familienvater. Mehr an den machtbewussten Chef eines sieben Mrd. Dollar schweren, börsenotierten IT-Konzerns, der er ist.
Alles fing im Jahr 2000 an, fünf Jahre nachdem eine Handelsplattform namens Amazon den gewagten Schritt tat, Kunden Bewertungen zu ihren gekauften Produkten verfassen zu lassen. Stephen Kaufer war auf seiner Mexikoreise erstaunt gewesen, wie wenig die Bilder im Reisekatalog der Realität vor Ort entsprachen und wie wenige Empfehlungen er im Internet fand. Konkurrenten wie Holidaycheck gab es noch nicht. So gründete der Harvard-Absolvent 2000 mit neun Mitarbeitern in einem Vorort von Boston die Firma Tripadvisor. Zuerst fütterten sie die Plattform mit Fachliteratur aus Reiseführern. Nach einem Jahr öffneten sie die Seite zur Probe für die Reisenden selbst. Jeder konnte jetzt seine Meinung kundtun, jeder konnte sich in der wachsenden Gemeinschaft Rat unter Gleichen holen. Das schlug ein. Die Privatmeinungen verdrängten die pro-
Millionen Menschen
suchen Tripadvisor im Monat auf, um Empfehlungen zu Hotels, Restaurants, Flügen und Sehenswürdigkeiten zu lesen oder zu hinterlassen.
Milliarden Dollar
Umsatz machte die Reise-Seite 2018. Seit geraumer Zeit stockt das Geschäft mit den Bewertungen, was den Aktienwert seit 2014 halbierte. Der Informatiker Stephen Kaufer fand, dass Mexiko im Prospekt ganz anders aussah – und baute Tripadvisor, wo Reisende ihre eigenen Eindrücke teilen können. fessionellen Beiträge. Kaufer ist seit 2000 etwas gelungen, das keine andere Reisefirma geschafft hat: Er hat einen Berg an Informationen zu so gut wie jedem mehr oder weniger sehenswerten Ort der Welt angehäuft, der dank einer riesigen, unbezahlten Armee – Tripadvisor zählt 160 Millionen registrierte Mitglieder – ständig auf dem neuesten Stand bleibt. Minütlich kommen weltweit 256 neue Einträge dazu. Tripadvisor wirbt damit, dem orientierungslosen Reisenden dank des „wisdom of the crowds“, dem Wissen der Massen, bei der Entscheidung zu helfen, wo er übernachten, wie er fliegen, was er unternehmen und wo er essen soll.
Das Geschäftsmodell steht und fällt mit dem Anspruch völliger Authentizität, dem Versprechen eines wahrheitsgetreuen Blicks auf die Welt. Das weiß Kaufer. Und er will keinen Zweifel aufkommen lassen, ob seine Seite ihr Versprechen hält: „An diesem Punkt ist unser Ruf als zuverlässige Community gefestigt.“Damit das so bleibt, arbeiten mehrere hundert Mitarbeiter in der hauseigenen Anti-Betrugsabteilung. Ihr Feind ist eine Branche, die großteils in Asien sitzt und „Reputation Management“verkauft – gute Bewertungen auf Plattformen wie Tripadvisor, Yelp oder Booking.com. Da diese für viele Restaurants und Hotels zur Geschäftsgrundlage geworden sind, findet das Angebot Abnehmer. Seit 2015 hat die Abteilung mehr als 60 Firmen aus dem Verkehr gezogen. Im Herbst feierte sie eine der ersten strafrechtlichen Verurteilungen eines bezahlten süditalienischen Bewertungsbetrügers zu neun Monaten Haft als Durchbruch.
Gefeit ist die Plattform trotz ihrer Spürhund-Algorithmen und Ermittlerteams aber nicht. 2017 zeigte ein britischer Vice-Journalist exemplarisch vor, wie man die eigene Gartenlaube dank einer coolen Website und der gebündelten Fehlinformation des Freundeskreises zum besten Lokal Londons küren lässt. 2014 machte das Verbrauchermagazin „Konsument“den Test: Seine sinnfreie Rezension eines Salzburger Nobelskihotels ging durch. Nach zwei Tagen stellte der Manager klar, dass es sich nicht um ein „Strandhotel mit Krokodilen, Affen und Karibikflair“handle. Nach drei Wochen wurde der Beitrag gelöscht. Schon seit 2012 wirbt Tripadvisor nicht mehr mit „Bewertungen, denen du vertrauen kannst“. Die Plattform wurde nach einer Rüge der britischen Wettbewerbsbehörde bescheidener und wandelte ihr Versprechen in den Slogan „Know better. Book better. Go better.“ Schiedsrichter wider Willen. Kaufer betont, Fake-Bewertungen seien nicht, was ihn in der Nacht wachhält. Sie sind aber ein Ausschnitt des Gesamtproblems, vor dem seine Seite steht: Mit zunehmender Größe und Einfluss fällt ihr die Rolle des allumfassenden Schiedsrichters zu: Welche Meinung ist zulässig? Welche wird freigegeben? Wenn der Gast über Lebensmittelvergiftung klagt und das Hotel entgegenhält, dass es gerade eine Hygieneprüfung bestanden hat, wer hat recht? „Sie können sich eine Million Fälle vorstellen, wo wir nicht Richter und Jury sein können, aber wir wollen fair sein“, sagt Kaufer. Fairness in der Welt von Tripadvisor sieht so aus, dass das Management eine Antwort auf Beschwerden schreiben kann. Der Eintrag bleibt.
Schädlicher für den völligen Transparenzanspruch sind Geschichten wie von Christine aus Toronto. Diese Woche veröffentlichte der britische „Guardian“ihren Fall: Sie sei in einem Hotel in der Karibik im Familienurlaub vergewaltigt worden. Ihre Warnung an Reisende auf Tripadvisor endete verräumt unter Tonnen von Bewertungen. Eine zweite Frau, die von einem Tourguide vergewaltigt wurde, habe dagegen ihre Warnung nicht veröffentlichen können, weil sie den Vorgang nicht wie erforderlich aus der Ich-Perspektive schilderte, schrieb der „Guardian“.
Tripadvisor hat mit solchen PRBomben Erfahrung: 2017 hatte eine US-Journalistin herausgefunden, dass die Seite regelmäßig Kommentare über Gewaltverbrechen gelöscht oder ver- graben hatte. Das sei nicht mehr so, betont Kaufer. Die familienfreundliche Foren-Regel, die Vergewaltigung zum Tabuthema machte, sei aufgehoben worden. Und man arbeite aktiv an Lösungen, um solche Fälle für andere Urlauber sichtbarer zu machen.
Auch wenn der „Guardian“-Artikel bei Kaufers Ankunft in Berlin ganz frisch war, wollte er bei seinem ersten Messeauftritt in seiner 19-jährigen Karriere als Tripadvisor-Chef über anderes reden. Vorrangig über das „neue“Tripadvisor. Wie sich herausstellte, war die Präsentation selbst unter Fachleuten nötig. Die wenigsten Zuhörer im Saal hatten die Generalüberholung im Herbst mitbekommen.
»Ich bin mir sicher, wir haben einige Betriebe aus dem Markt gedrängt.« Seit 2012 wirbt Tripadvisor nicht mehr mit »Bewertungen, denen du vertrauen kannst«. »Unser Problem ist, dass die meisten kommen, sich etwas ansehen und wieder gehen.«
Die neue Seite erinnert in der Aufmachung an Facebook und soll die Nutzer mit einer persönlicheren Ansprache und neuen Funktionen stärker ans Unternehmen binden – je länger sie bleiben, je mehr sie klicken, desto mehr verdient Tripadvisor. Und das ist nach ein paar wackeligen Jahren nötig. „Wir haben mehr Nutzer als die anderen zusammen“, sagt Kaufer. „Unser Problem ist, dass die meisten hereinkommen, sich etwas ansehen und wieder gehen. Sie haben keine Beziehung zu uns geknüpft und alles gefunden, was wir anzubieten haben.“Daran änderte schon der erste Strategiewechsel 2014 nichts: Bis dahin hatte Tripadvisor mit Werbung und der Weiterleitung auf andere Seiten Geld verdient. Nun sollten die Menschen direkt bei Kaufer ihr Hotel buchen. Es war ein Flop. Die Möglichkeit wird nicht mehr aktiv beworben, eher verräumt.
Tatsache ist: Das große Geld machen die Konkurrenten Booking.com und Expedia, von deren Werbegeldern Tripadvisor stark abhängt. Der eigene Umsatz stagniert dagegen seit einigen Jahren. Der Aktienwert halbierte sich