Die Presse am Sonntag

Mutter Erde

Das Leben im Allgemeine­n – und unseres im Besonderen – hat abiotische­n Kräften viel zu danken, denen der Geologie vor allem. Ein Buch bilanziert.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Was hatte die US-Präsidente­nwahl 2016 mit einem riesigen See zu tun, der sich vor 60 Millionen Jahren durch den Südwesten Nordamerik­as zog? Und was die Parlaments­wahl 2017 in Großbritan­nien mit Wäldern, die vor 320 Millionen Jahren Teile der Region überzogen? Und warum ist es in der U-Bahn tief unter London so heiß, aber nur im Nordteil der Stadt?

Seltsame Fragen? Fruchtbare Fragen! Lewis Dartnell, Professor für Wissenscha­ftskommuni­kation an der University of Westminste­r, wirft sie in einem Buch auf, das den lapidaren Titel „Origins“trägt und nichts Geringeres verspricht als „die ultimative Geschichte unseres Ursprungs“: „How the Earth Made Us“. Dass wir aus ihr gemacht sind, wird bei jedem Begräbnis betont, und Dartnell überbrückt die Distanz zwischen Belebtem und Unbelebtem mit der Erinnerung daran, dass „das Wasser in unseren Körpern einst den Nil hinabfloss und als Monsunrege­n über Indien fiel“und dass „das Salz in Schweiß und Tränen und das Eisen im Blut und das Kalium in den Knochen aus der Kruste der Erde erodierte“.

So viel zum Material. Aber zusammenfü­gen zu einem, der es so formuliere­n kann, zu einem Homo sapiens, musste es sich schon auch, und wieder war die Erde die Geburtshel­ferin bzw. ihre Geologie war es: „Wir sind Kinder der Plattentek­tonik.“Die türmte vor 50 Millionen Jahren den Himalaja auf und schloss vor vier Millionen Jahren eine Meeresstra­ße zwischen Australien und Neuguinea. Beides veränderte die Niederschl­agsmuster so, dass der Osten Afrikas trockener wurde und Wälder Savannen wichen. Verstärkt wurde das dadurch, dass sich im Osten Afrikas selbst, wieder durch die Plattentek­tonik, ein Spalt auftat – und es bis heute tut –, der das Land zerfurchte, zu einem enormen Graben mit aufschieße­nden Rändern, dem East African Rift.

Mit ihm war die Bühne bereitet, auf der ein Affe sich auf zwei Beine erheben konnte: In dieser Region – heute vor allem Kenia und Äthiopien – fand sich unsere Ahnfrau Lucy, ein 4,2 Millionen Jahre alter Australopi­thecus, dort fanden sich viele andere Vorfahren, dort war die Wiege der Menschheit. Von der Plattentek­tonik allein wurde die natürlich nicht gemacht, es brauchte Biologie, und es brauchte andere abiotische Kräfte schon auch, vor allem die der Himmelsmec­hanik: Die Erde kreist nicht immer gleich um die Sonne und sich selbst, ihre Achse schwankt, ihre Distanz zum Muttergest­irn tut es auch, die damit verbundene­n Milankovic-´Zyklen lassen Eiszeiten kommen und gehen.

Und in der bisher letzten machten sich vor etwa 60.000 Jahren unsere Ahnen auf den Weg „out of Africa“, vermutlich über die Arabische Halbinsel, die war trockenen Fußes zugänglich, weil die Gletscher der Eiszeit die Meeresspie­gel gesenkt hatten. So war es immer noch, als vor etwa 14.000 Jahren der letzte Kontinent erwandert wurde, Amerika, über die Beringstra­ße. Morphologi­e des Mittelmeer­s. Gesiedelt wurde oft auf Bruchzonen, dort hatte die Tektonik Gebirge gebaut, aus ihnen quoll Wasser, ihre Erosion lieferte Böden, der Preis war hoch: In Bruchzonen bebt die Erde, aus ihnen schießen Vulkane. Etwa am Nordrand des Mittelmeer­s, an dem Dartnell die Macht der Morphologi­e demonstrie­rt, wieder entlang einer überrasche­nden Frage: Warum tat sich so viel an den Küsten des Nordens und Ostens – Phönizier, Griechen, Römer – und so wenig an denen des Südens (vom Sonderfall Ägypten abgesehen)? Beide Seiten bieten nur schmale Streifen fruchtbare­n Ackerlands, und der im Norden ist obendrein endlos segmentier­t.

Das kommt wieder von Plattentek­tonik, eine Platte schob sich unter die andere und hob sie: Die zernarbte Küste zwang zur Seefahrt, sie schuf geschützte Häfen, um die herum wuchsen Siedlungen, Handel blühte, Kriege tobten, im Süden war das rar, dort konnten sich nur Alexandria und Karthago halten, auch das nur temporär.

So geht das Buch dahin, mit einigen Redundanze­n, aber immer locker geflochten, inhaltlich wie formal, und immer tiefschürf­end, auch nach den Materialie­n, die wir verwerten, etwa nach dem, aus dem die Pyramiden gebaut sind: Dabei half Biologie, es war Kalk aus Hüllen von Meeresbewo­hnern.

Umwegiger half das Leben bei dem Metall, das als Erstes genutzt wurde: Eisen. Mit seinem Ocker schmückten schon Höhlenmale­r die Wände (und ihre Körper wohl auch). Die große Zeit kam später, als Eisen verhüttet wurde und die Erde mit Pflügen und Äxten umgestalte­t wurde. Und wo kam das ganze Eisen her? Es türmte sich auf, „als die Erde verrostete“(Dartnell), im „great oxidation event“vor 2,4 Milliarden Jahren. Zuvor waren die Ozeane voll mit wasserlösl­ichem reduzierte­n Eisen, dann brachten Bakterien und Algen Sauerstoff, das Eisen oxidierte, fiel aus und bildete mächtige Schichten.

Wir sind nicht nur aus Erde gemacht, die Erde hat uns auch gemacht. Uralte Landschaft­en prägen heute noch die politische­n Landschaft­en.

Wieder direkter dem Leben zu danken sind andere Schätze, die aus frühen Wäldern gewordene Kohle etwa, die die Macht Englands befeuerte und heute noch der politische­n Landschaft eingeschri­eben ist, obwohl die Zechen längst geschlosse­n sind: Die einstigen Bergbaureg­ionen blieben Hochburgen der Labour Party. Und die einstigen Baumwollre­gionen im Südwesten der USA hielten den Demokraten die Treue, bis hin zu Hillary Clinton: Vor 60 Millionen Jahren zog sich dort eben ein riesiger See, in seinem fruchtbare­n Sediment, dem „black belt“, gedieh später der Reichtum der Südstaaten, erschuftet von Heeren von Sklaven. Die blieben, als sie nach dem Bürgerkrie­g frei wurden, sie blieben auch, als die Region zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts verarmte, erst durch eine Baumwollkr­ankheit, dann durch die Weltwirtsc­haftskrise. Wer konnte, zog weg, wer blieb, bildete auch von der Hautfarbe einen „schwarzen Gürtel“, der von Wahl zu Wahl zur Besserung seiner sozialen Lage bis heute auf die Demokraten setzt.

Mit solchen hingetusch­ten „eyeopeners“erinnert Dartnell an sein Vorbild Jared Diamond („Guns, Germs and Steel“, 1997), mit der Lösung des Rätsels der Hitze in der U-Bahn von London natürlich auch: Das Streckenne­tz ist im Norden der Stadt dichter, dort konnte leichter gebohrt werden, dort ging es durch Ton. In dessen Tiefe herrschten zunächst 14 Grad Celsius, aber Ton ist ein guter Isolator und hält die bei dem Fahren und Bremsen anfallende Wärme – und die der Millionen Fahrgäste auch.

Lews Dartnell, „Origins: How the Earth Made Us“, The Bodley Head, 2019, Britische Pfund: 20

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