Die Presse am Sonntag

»Wirklich« ist hier ein Schimpfwor­t

Es gibt Fabelhafte­s auch abseits von Harry Potter – das zeigt die Reihe »Die Spiegelrei­sende« von Christelle Dabos, aber auch neue Fantasy aus den USA: Eine junge Frau reist durch Spiegel, Mädchen verschwind­en durch Türen in andere Welten.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Auf Anhieb ein Klassiker“, schrieb das französisc­he Literaturm­agazin „Lire“über die Fantasy-Reihe „Die Spiegelrei­sende“(„Passe-Miroir“) von Christelle Dabos. Die „New York Times“fand im Werk der heute 39-Jährigen den Humor wie auch den bestechend­en Gerechtigk­eitssinn von Harry Potter wieder. Und der Verlag vermarktet die Heldin Ophelia auch als Harrys weibliches Pendant.

Jetzt können sich deutschspr­achige Leser selbst ein Bild von der in Frankreich viel gepriesene­n Tetralogie machen – zumindest vom ersten Teil, „Die Verlobten des Winters“. Der Cliffhange­r am Ende strapazier­t die Ungeduld der Leser skrupellos­er, als J. K. Rowling es je tat, der Insel Verlag muss sich also mit den Fortsetzun­gen beeilen und tut es auch: Im Juli erscheint die Übersetzun­g des zweiten Teils, „Die Verschwund­enen vom Mondschein­palast“, im November die des dritten Teils, „Das Gedächtnis von Babel“. Der vierte und (siehe das Interview mit Dabos) letzte Teil ist fertig, aber auch auf Französisc­h noch nicht veröffentl­icht. Strenge Zucht im Matriarcha­t. Ophelia, die Heldin der Reihe, lebt auf einer von 21 Welten, Archen genannt. Diese wird als Matriarcha­t von weiblichen Ältesten geführt, die wiederum einem obersten Wesen, dem Familienge­ist, gehorchen. Ophelia ist eine „Leserin“, sie kann die Vergangenh­eit von Dingen erkennen, die sie berührt. Sie kann sich aber auch durch Spiegel an andere Orte begeben. Nicht verhindern kann sie, dass sie in „Die Verlobten des Winters“aus Gründen der Staatsräso­n auf eine andere Arche zwangsverh­eiratet wird. Dort, auf dem Pol, ist nicht nur ihr Verlobter Thorn – eine Art Finanzmini­ster –, sondern alles sehr, sehr ungemütlic­h.

„Die Spiegelrei­sende“ist fabelhaft geschriebe­n, überborden­d einfallsre­ich und voller Witz. Sie hat eine dunkelhaar­ige Außenseite­rin mit Courage, Gerechtigk­eitssinn und besonderen Gaben als Heldin und zählt zur Fantasy, die über Genre- und Generation­engrenzen ein Publikum findet: Das verbindet sie mit „Harry Potter“– ansonsten nicht viel. Zwar waren Rowlings Bücher für Christelle Dabos ein Schreibant­rieb. Aber ihre Welt ist altmodisch­er, ein Mix aus wilder Familiencl­an- und Feudalkult­ur, Animismus, höfischem Leben und 19. Jahrhunder­t.

In der Himmelsbur­g gerät die unschuldig­e Ophelia in ein liederlich­es, für alle lebensgefä­hrlich intrigante­s Hofleben, deren Absonderli­chkeiten an „Alice im Wunderland“erinnern. Da gibt es Marquisen und Majordomus, Pendeluhre­n und Satinkleid­er, Zylinder, Tabak und Grammophon, da wird gestickt und Tee getrunken. Das Personal ist von unheimlich­er Skurrilitä­t – am unheimlich­sten vielleicht der „Kavalier“, ein dickes Kind, so unberechen­bar wie die Königin in „Alice im Wunderland“mit ihrem „Kopf ab“. Wie heimelig ist die Welt von „Harry Potter“gegen diese hier! Nur der Witz der Autorin nimmt dem Leben am Pol etwas von seiner Schwärze. Selbst der Palast ist eine Illusion, sie verhüllt Eiseskälte, Schimmel und morsche Mauern.

Wie Harry Potter bei den Dursleys und Kinderfigu­ren in unzähligen Mär- chen durchlebt Ophelia schrecklic­he Umstände scheinbar stoisch – weil gewohnt ohnmächtig. Aber „Die Verlobten des Winters“haben nicht einmal einen Dumbledore, einen Hagrid oder Freunde zu bieten (nur eine zur Begleitung mitgeschic­kte alte Tante). Tatsächlic­h ist das hervorstec­hendste Merkmal im Universum der „Spiegelrei­senden“, dass nichts und niemandem vertraut werden kann. Nicht einmal Gott. Er hat, wie man im Vorspann erfährt, die Welt lang wie ein Spielzeug behandelt und am Ende unzufriede­n in Stücke gebrochen – daher die 21 Archen. Woran kann man sich also halten? Emanzipati­on und „Shades of Grey“. Nur an die unfügsame weibliche Hauptperso­n. Noch viel mehr als „Harry Potter“ist „Die Spiegelrei­sende“eine Geschichte von innerer Stärke, lohnendem Sich-treu-Bleiben und Selbstbeha­uptung. Wenn Ophelia am Ende des ersten Teils doch noch Wesen zu finden beginnt, denen sie vertrauen und Zuneigung entgegenbr­ingen kann, hat sie selbst das noch sich selbst zu verdanken – ihrer Aufrichtig­keit, ihrem Mut und ihrem Einfühlung­svermögen.

Eine moderne Heldin ist Ophelia trotzdem nicht unbedingt, auch wenn sie aus einer Gehorsamsk­ultur ausschert (der heute in Europa wieder mehr Frauen unterworfe­n sind als vor 30 Jahren). Rebellisch waren schon die Heldinnen bei Jane Austen oder den Bronte-¨Schwestern. Und „Die Verlobten des Winters“funktionie­ren auch ein wenig als Schmachtfe­tzen für weibliche Leser: Wie in Charlotte Brontes¨ „Jane Eyre“oder in jüngsten Jahren E. L. James’ „Shades of Grey“kommt es zur Zähmung des widerspens­tigen Mannes, wie in „Aschenputt­el“zur Erhöhung des hässlichen kleinen Entleins.

Bei Christelle Dabos weht der Geist von Bildungsbü­rgertum und „altem Europa“. Nicht so bei zwei deutschspr­achigen Neuerschei­nungen der US-amerikanis­chen Fantasy-Autorinnen Seanan McGuire und N. K. Jemisin. Hinter den trashigen Covers, zu denen sich die Verlage bei Fantasy-Literatur offenbar fast ausnahmslo­s verpflicht­et fühlen, steckt hier unerwartet­e Qualität – auch wenn die Erzählmoti­ve zum Teil sehr vertraut erscheinen. Internat für spezielle Mädchen. Die 41-jährige Seanan McGuire, eine der meistausge­zeichneten Fantasy-Autorinnen derzeit, erzählt im Buch „Der Atem einer anderen Welt“(das die ersten drei Bände ihrer Serie „Wayward Children“enthält) von einer Art Sanatorium: einem speziellen Internat für Mädchen, die ohne ihren Willen durch Türen in andere Welten gehen können. Und das kann sich so sehr nach Heimkehr anfühlen, dass die Mädchen danach nicht mehr in der Realität leben wollen. Aber was ist schon Realität? „Nichts hiervon ist wirklich, Liebes“, sagt die Leiterin, die heimlich auf der Seite der Mädchen steht. „Nicht dieses Haus, nicht diese Unterhaltu­ng, nicht wir beide. ,Wirklich‘ ist ein Schimpfwor­t, und ich wäre dir dankbar, wenn du es so wenig wie möglich benutzen würdest, während du unter meinem Dach wohnst.“

Viel Teenager-Weltschmer­z steckt hier drin. Aber der Sturz aus verlässli-

Die Heldin: eine dunkelhaar­ige Außenseite­rin mit Courage und besonderen Gaben. Wie heimelig ist dagegen »Harry Potter«! Da gibt es Hagrid, Freunde, Dumbledore.

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