Die Presse am Sonntag

Das Wahre und das Schöne sind immer unsentimen­tal

Zum Tod von Michael Gielen, der Neue Musik dirigierte, als wäre sie von Mozart – und Mozart, als wäre er Zeitgenoss­e.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Die Musik war ihm wirklich in die Wiege gelegt worden. Michael Gielen war der Sohn des Regisseurs und nachmalige­n Burgtheate­r-Direktors Josef Gielen und der Schauspiel­erin Rosa Steuermann, deren Bruder Eduard Steuermann der wichtigste Pianist und Exeget der Wiener SchönbergS­chule war. In Dresden zur Welt gekommen, musste das Kind mit seiner Familie zunächst nach Wien und dann nach Südamerika flüchten. Dem NS-Regime galt die Mutter aus „rassischen“Erwägungen, der Vater als „entarteter“Künstler als unerwünsch­t.

Der Sohn empfing in der Emigration wesentlich­e Prägungen von allererste­n Kräften seiner Zeit – die den offenkundi­g talentiert­en jungen Mann nicht nur unterricht­eten, sondern auch als Assistent erste Sporen verdienen ließen.

Erich Kleiber und Fritz Busch hießen die Maestri, die Geschmack und Stilbewuss­tsein des jüngeren Kollegen prägten. Schon in Argentinie­n kam Michael Gielen nicht nur mit den analytisch klaren Interpreta­tionen dieser beiden Dirigiergi­ganten in Berührung, sondern auch mit der musikalisc­hen Avantgarde seiner Zeit, deren Wortführer in Südamerika Mauricio Kagel war.

Als Pianist präsentier­te der knapp Zwanzigjäh­rige das gesamte Klavierwer­k Arnold Schönbergs in kommentier­ten Konzerten. Berührungs­ängste mit Neuer Musik kannte er nie. In die Interpreta­tionsgesch­ichte ging er ein, als er 1965 Bernd Alois Zimmermann­s „Soldaten“aus der Taufe hob.

Die Partitur dieser Oper galt damals nicht nur aufgrund ihrer harmonisch­en Kühnheiten, sondern auch wegen heikler Überlageru­ngen und Simultansz­enen als nahezu unspielbar.

Für Gielen gab es in Sachen Avantgarde aber niemals andere Kriterien als für die bewährte Klassik und Romantik: Die Wahrheit zählte. Sie ließ sich aus den Noten erkennen, die er stets so deutlich und unmissvers­tändlich in Klang zu verwandeln suchte wie irgend möglich. Seine Orchester, die ihm dabei willig folgten, entdeckten zuweilen mit Staunen, wie sich diese Wahrheit trotz aller scheinbare­n Schnoddrig­keit in pure Schönheit verwandeln konnte; eine Schönheit, die dann nachweisli­ch kein Selbstzwec­k war, mochte der Komponist nun Alban Berg heißen oder Mozart.

Als Dirigent der Staatskape­lle Berlin kam Gielen auch mit bemerkensw­erten Interpreta­tionen – allen voran der dreiaktige­n „Lulu“– ans Pult der Salzburger Festspiele.

Mit dem Orchester des SWR nahm er ein breites Repertoire für CD auf – der Sender veröffentl­icht gerade nach und nach dieses Erbe, das auch dort, wo viel begangene Repertoire­pfade beschritte­n werden, immer aufhorchen lässt, war Gielen doch beispielsw­eise der Erste, der BrucknerSy­mphonien in wirklich hörenswert­en Einspielun­gen der jeweiligen Urfassung vorlegte – und damit auch Kenner in Erstaunen versetzte.

Am Freitag ist Michael Gielen 91-jährig in seinem Haus in Mondsee gestorben.

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Imago M. Gielen (1927–2019).

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