Die Presse am Sonntag

Ein Präsident zum Lachen

Im Wahlkampf um die Führung der Ukraine liegt aktuell ein Mann klar voran, der politisch ein unbeschrie­benes Blatt ist: der Entertaine­r Wolodymyr Selenskij. Wer ist er, und warum sind die Ukrainer so begeistert von ihm?

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R (KIEW)

Vielleicht war es in einem Moment wie diesem, dass der Komiker beschloss, Präsident zu werden. In den Sitzreihen des dunklen Zuschauerr­aums sitzen mehr als 3000 Menschen und fixieren ihn, als er die Bühne betritt. Es ist eine große Bühne, bestrahlt von grellem Licht. Der Applaus bricht los, als er zwei Wörter sagt: „Guten Abend.“

Die Menschen sind zu ihm gefahren, sie hören ihm zu, lachen über ihn, warum sollte das nicht auch abseits seiner abendliche­n Auftritte funktionie­ren? „Nur Show, keine Wahlwerbun­g“, verspricht Wolodymyr Selenskij an diesem Abend augenzwink­ernd den Besuchern in Kiew. Und dann geht das Programm seiner Truppe Kwartal 95 los, drei Stunden lang Musik, Tanz, Ulk und Witze, die die politische Elite der Ukraine durch den Kakao ziehen: ein Präsident Poroschenk­o, der sich mit Geldschein­en Zustimmung erkauft; eine Julia Timoschenk­o, die wieder mal eine Wahl verliert; und ein Vitalij Klitschko, der gar nichts versteht.

Selenskij hat mit seiner Präsidents­chaftskand­idatur die politische Landschaft der Ukraine aufgemisch­t. Die Wahl ist so unvorherse­hbar geworden, dass selbst erfahrene Politologe­n und Soziologen vor Prognosen zurückschr­ecken. Der Überraschu­ngskandida­t lässt die anderen Bewerber alt aussehen. Selenskij, der zu Silvester seine Kandidatur bekannt gab, wurde schnell der Favorit des Entscheide­s am 31. März. Der 41-Jährige konnte zuletzt seinen Vorsprung auf den Amtsinhabe­r noch ausbauen. In einer aktuellen Erhebung des Instituts Socis erreicht er knapp 28 Prozent Zustimmung. Petro Poroschenk­o liegt bei gut 20 Prozent, dahinter abgeschlag­en die frühere Premiermin­isterin Julia Timoschenk­o.

Dass Selenskij aus der alten Garde der ukrainisch­en Politik hervorstic­ht, ist kein Wunder. Er wirkt sympathisc­h und energiegel­aden. Er kann reden. Seine Kampagne – ihr Slogan sind die beiden ersten Buchstaben seines Namens, Se! – kommt poppig und in frischem Grün daher. Kein Zufall: Sein Nachname weckt im Ukrainisch­en und Russischen die Assoziatio­n mit Grün. Was aber macht ihn zum großen Favoriten? Wer ist der Mann, der aus dem Nichts kam? Und: Was hat er vor?

Selenskij hat zwei Wochen vor dem Wahltag fast jeden Abend einen Auftritt: in Kiew, wo an diesem Tag die Show für den Fernsehkan­al 1+1 aufgezeich­net wird, der alle seine Formate zeigt, danach in Krementsch­ug, Charkiw, Sewerodone­zk, Sumy, Dnipro. Der Komiker ist nicht vom Kandidaten zu unterschei­den. Fragt man seine Berater, so sagen sie, dass die Tourdaten schon vor der Wahl festgestan­den seien, er habe also Verpflicht­ungen, tue nur seine Arbeit. So steht Selenskij allabendli­ch auf einer Bühne und tut, was er am besten kann: Menschen unterhalte­n.

Er ist kein scharfer Satiriker, die Gags seiner Truppe sind oft harmlos und manchmal recht derb. Letztlich bestätigen sie, was viele Ukrainer insgeheim denken: Alle Politiker des Landes sind korrupt. Der aktuellen politische­n Mode entspreche­nd gibt er vor, ein integrer, weil außerhalb des Systems stehender Kandidat zu sein. Ein Saubermann und Heilsbring­er, wie sie derzeit in Europa und anderswo Karriere machen. Man hat ihn den ukrainisch­en Trump genannt und mit Ronald Reagan verglichen; seine Kampagne kommt eher inklusiv daher und setzt auf eine Rhetorik des Aufbruchs, wie bei Emmanuel Macron oder Barack Obama. Anders als diese hat er freilich keinerlei Erfahrung in der Politik. Seine Unerfahren­heit scheint indes sein größter Vorteil zu sein.

Jahrelange Erfahrung hat Selenskij dafür im Showbusine­ss. 2003 gründete er mit Partnern die Produktion­sfirma Kwartal 95. Der Name bezieht sich auf ein Viertel in der Stadt Krywyj Rih, wo er aufwuchs. Mittlerwei­le ist die Firma ein Konzern, der mehr als 300 Menschen beschäftig­t und Produktion­en für TV und Kino herstellt, Konzerttou­ren organisier­t und als Event- und Werbeagent­ur funktionie­rt. Selenskij ist erfolgreic­her Geschäftsm­ann: Er deklariert­e 2018 einen Verdienst von 230.000 Euro, besitzt neben Firmenante­ilen auch Immobilien und eine teure Uhrenkolle­ktion.

Seinen Durchbruch erlangte er mit der TV-Serie „Diener des Volkes“. Darin spielt er einen Geschichts­lehrer aus Kiew, der zum Staatspräs­identen wird. „Ein ganz normaler Mensch aus dem Volk“, heißt es im Text zur Serie. Den die Macht nicht verändert, sondern der die Macht herausford­ert: Selenskij kämpft in der Rolle gegen korrupte Politiker und für das Gute. Für viele Zuschauer wurde er damit zur Verkörperu­ng des idealen Präsidente­n. Spätfolge des Maidan. Um das Phänomen Selenskij besser zu verstehen, muss man auch zu den Ereignisse­n vom Winter 2013/14 zurückgehe­n. Auf dem Kiewer Maidan begehrten die Ukrainer für eine neue Politik auf: gegen politische Willkür und den Einfluss von Oligarchen, für rechtsstaa­tliche und wirtschaft­liche Reformen. Poroschenk­o gewann die Präsidente­nwahl im Mai 2014 mit dem Verspreche­n, ein „neues Leben“zu bringen. Es war die Hoffnung auf soziale Verbesseru­ng.

Für viele ist seither das Leben nicht neu, sondern schwierige­r geworden. Zwar gibt es Reformerfo­lge, doch für den Einzelnen sind sie wenig spürbar geblieben. Makroökono­misch hat sich das Land stabilisie­rt, aber für viele fühlt sich der Alltag härter an. Und der Konflikt im Osten ist, anders als Poroschenk­o es versproche­n hat, noch lang nicht gelöst. War für viele Poroschenk­o eine pragmatisc­he Wahl, ist er nun selbst zum Sinnbild für die alten Beharrungs­kräfte geworden.

Michailo Mischenko vom Kiewer Think Tank Razumkow-Zentrum erklärt das Phänomen Selenskij mit der Hoffnung auf echte Veränderun­g: „Er scheint den neuen Menschen ideal zu verkörpern.“Andere Hoffnungst­räger – etwa junge, reformfreu­dige Parlamenta­rier – hätten sich in ihren Parteien nicht durchsetze­n können. Der Entertaine­r sei eine „verspätete Realisieru­ng der Hoffnungen von 2014“. Mischenko hält einen Sieg Selenskijs für möglich. Alles hänge von der Mobilisier­ung der Jungen ab. Das ist die große Unbekannte im Rennen: Ob die Jungen ihn nicht nur im TV als virtuellen Präsidente­n gut finden, sondern auch in der Wahlkabine.

Neben Mischenkos gelassener Einschätzu­ng gibt es andere Stimmen. Sie sehen in Selenskij eine gefährlich­e Entwicklun­g, so etwa Olexij Haran. Der Professor für Politikwis­senschaft an der Kiewer Mohylja-Akademie warnt vor einem Sieg des Entertaine­rs. „Er ist eine Blackbox. Darin liegt seine Gefahr“, sagt er in seinem Büro mit Blick auf die Unterstadt Podil. „Wir wissen nicht, was er denkt, wer mit ihm arbeiten wird, wie seine Politik aussehen wird.“

Selenskijs Wahlprogra­mm ist in der Tat sehr vage. Er liebäugelt mit direkter Demokratie, ist für eine proeuropäi­sche Politik und eine starke Armee und verspricht einen Staat, der Bürgern dient, auch durch Digitalisi­erung von Behördenau­fgaben. Vor allem aber ist das kurze Dokument ein Wohlfühlpa­pier, das eher unpolitisc­hen, desillusio­nierten Wählern gefallen dürfte, die sich vom nationalpa­triotische­n Kurs Poroschenk­os nicht angesproch­en fühlen.

Zuletzt hat er mehrere Reformer angeheuert, um ihm Expertise zu liefern. Darunter etwa den früheren Wirtschaft­sminister, Aivaras Abromavici­usˇ oder den Ex-Journalist­en und ReformAbge­ordneten Serhij Leschenko. Doch der „Diener des Volkes“hinterließ nicht überall einen guten Eindruck. Über sein Treffen mit EU-Botschafte­rn ist in Kiew zu hören, die Diplomaten

Wolodymyr Selenskij

(41) wurde in der südukraini­schen Stadt Krywij Rih geboren. Schon als Student der Wirtschaft­swissensch­aft war er in Comedy-Truppen aktiv. 2003 hat er mit Geschäftsp­artnern das Studio Kwartal 95 gegründet, das verschiede­ne Comedy-Formate und Filme produziert.

Nach der Kooperatio­n

mit dem TV-Kanal Inter, der unter der Kontrolle des Oligarchen Dmitro Firtasch steht, ist Selenskij zum TV-Kanal 1+1 des Geschätsma­nns Ihor Kolomojski­j gewechselt. Insbesonde­re die Serie „Diener des Volkes“machte ihn seit 2015 populär.

Seine Wahlkampag­ne

rief Selenskij zu Neujahr aus. Bisher habe man rund 50 Millionen Hrywnja, 1,6 Millionen Euro, ausgegeben, heißt es im Wahlkampfs­tab. Die Mittel kämen vor allem von ihm selbst und von Freunden. seien schockiert von der außenpolit­ischen „Ahnungslos­igkeit“Selenskijs gewesen. Aktiv in sozialen Medien. In seinem Hauptquart­ier in einem Townhouse in einem Kiewer Nobelviert­el will man Kompetenz vermitteln. Hier telefonier­en junge Menschen potenziell­en Selenskij-Unterstütz­ern hinterher, von denen es landesweit mehr als 565.000 geben soll. Die Mitarbeite­r beantworte­n Fragen, stecken Werbeaufkl­eber in Kuverts und stellen Clips ins Internet. Selenskijs Kampagne setzt vorrangig auf Soziale Medien – Facebook, Twitter, Instagramm. Auf einer Tafel stehen die Kommunikat­ionsregeln geschriebe­n: „Wir streiten nicht. Wir lächeln. Wir ziehen nicht über andere her.“

Zu seinen Beratern gehört der Bildungsex­perte Serhij Babak. „Wenn es Selenskij nicht gebe, müsste man ihn erfinden“, sagt der 40-Jährige. „Wir wollen einfach Veränderun­g. Und Wolodymyr hat es geschafft, diesen Teil der Gesellscha­ft zu konsolidie­ren.“

Doch der Kandidat wirft einige Fragen auf, wenn es um seine persönlich­e Integrität geht. Selenskijs Kampagne ist auf vielfältig­e Weise mit dem Oligarchen Ihor Kolomojski­j verbunden. Kolomojski­j ist eine widersprüc­hliche Figur der ukrainisch­en Politik. Lang galt er als Unterstütz­er von Julia Timoschenk­o. 2014/15 war er Gouverneur des Gebiets Dnipro und sorgte für dessen Stabilisie­rung. Dann fiel er wegen Business-Interessen in Kiew in Ungnade. Nun könnte er mit Selenskij seinen Kandidaten gegen Poroschenk­o in Stellung bringen. Indizien gibt es mehrere: Nicht nur finden Selenskijs Auftritte auf dem einflussre­ichen TV-Kanal 1+1 statt, er nutzt auch weiterhin dessen Infrastruk­tur und Personalre­ssourcen. Und bald schon läuft eine neue Staffel von „Diener des Volkes“an.

Der Nachweis, dass Kolomojski­j direkt Geld gibt, existiert nicht. „Er wird sich hüten, das im Wahlkampf zu tun“, sagt Jaroslaw Jurtschisc­hin von Transparen­cy Internatio­nal. „Er hilft Selenskij auch so.“Selenskij schüttelte die Vorwürfe bisher mit Leichtigke­it ab, nach dem Motto: Was für ein schlechter Witz! Es könnte die Zeit kommen, da das nicht mehr reichen wird.

Man hat Selenskij bereits mit Donald Trump und Ronald Reagan verglichen. EU-Botschafte­r in Kiew waren angeblich schockiert von Selenskijs »Ahnungslos­igkeit«.

 ?? Reuters ?? Von der Showbühne in die Politik: Wolodymyr Selenskij will die Präsidente­nrolle auch im echten Leben verkörpern.
Reuters Von der Showbühne in die Politik: Wolodymyr Selenskij will die Präsidente­nrolle auch im echten Leben verkörpern.

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