Der ungeliebte Präsident
Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko muss heute, Sonntag, um seine Wiederwahl fürchten. 2014 haben ihn in seiner Heimatstadt Bolhrad noch viele unterstützt. Mittlerweile hat er sogar dort die Sympathien verspielt. Was ist in seiner Amtszeit passier
Die Welt des Erstklässlers Petro Poroschenko war übersichtlich wie das Schachbrettmuster, in dem seine Heimatstadt angelegt ist. Seinen Sitzplatz hatte er in der dritten Reihe in einem Erdgeschoß-Klassenzimmer mit Blick auf den Schulhof. Das Schulgebäude lag fünf Minuten von seinem Elternhaus entfernt. Bog man an der großen gelben Kirche nach Westen ab, gelangte man in ein paar Minuten zum schilfgesäumten Jalpuhsee. Dahinter lag schon ein anderes Land: Moldawien. Folgte man dem baumgesäumten Lenin-Prospekt, an dem das einstöckige Haus der Poroschenkos mit dem kleinen Balkon stand, war man wenig später im schattigen Komsomolzenpark. Ein paar Hundert Meter weiter, immer die schnurgerade Straße und die daran aufgefädelten Häusern entlang, endete Bolhrad.
Bolhrad ist ein Städtchen inmitten von Getreidefeldern, Obstplantagen und Weingärten im südwestlichsten Winkel der Ukraine. Hier scheint die Sonne viel und lang. Bessarabien mit seiner südlichen Wärme ist eine Heimat, die man im Herzen behält, auch wenn man hier nur die ersten Jahre verbringt und noch viel vorhat. Anlegen ließ die Stadt der russische General Iwan Insow in strenger geometrischer Ordnung, nachdem er die Osmanen von hier vertrieben hatte. Das war im frühen 19. Jahrhundert. Flüchtlinge aus den bulgarischen Landen siedelten sich an. Bolhrad ist bis heute die Heimat der ukrainischen Bulgaren. Und die Heimatstadt Petro Poroschenkos, des fünften Präsidenten der Ukraine, der 1965 hier geboren wurde.
Ob Poroschenko weiterhin ukrainischer Präsident bleibt, ist unsicher. Sicher ist nicht einmal, ob er es im heutigen Wahlgang in die Stichwahl schafft. Diese gilt als wahrscheinlich, da keiner der 39 Kandidaten mehr als 50 Prozent der Stimmen bekommen dürfte. Vor fünf Jahren wurde Poroschenkos Amtszeit mit einem Erstrundensieg über Julia Timoschenko eingeläutet. Schon bald könnte sie zu Ende sein.
Poroschenko kam an die Macht, als die Ukraine ihre größte Krise seit der Unabhängigkeit 1991 erlebte. Die Krim war gerade von Russland annektiert, im Donbass griffen von Moskau unterstützte Aufrührer nach der Macht. Es
war klar, dass dies keine einfache Präsidentschaft werden würde. Poroschenko und der nach den Parlamentswahlen im Herbst 2014 ernannten Regierung gelang die wirtschaftliche Stabilisierung des Landes. Mit forschen Schritten setzte der Staatschef den Westkurs des Landes fest: Das EU-Assoziierungsabkommen trat in Kraft, ebenso wie die Visumfreiheit für Ukrainer. Der Beitritt des Landes zu EU und Nato wurde in der Verfassung festgeschrieben. Poroschenko, der sich öfter in Flecktarn als in Anzügen zeigte, stärkte auch die Armee.
Doch anders als im Wahlkampf versprochen ist der Krieg im Osten noch immer nicht beendet. Die Wirtschaft des alten Industrielands orientiert sich schrittweise nach Europa und hat alte Absatzmärkte verloren. Der Kampf gegen Korruption und den Einfluss der Oligarchen geht unter Rückschlägen voran. Viele haben das Gefühl, sich heute weniger als früher leisten zu können. Das vom reichen Schokoladenunternehmer versprochene „neue Leben“hat nicht begonnen. Am Ende der Amtszeit Poroschenkos überwiegt deshalb der Verdruss. Einkäufer aus dem Nachbarland. Auch auf dem Markt von Bolhrad mischt sich Desillusionierung unter die Energie des multikulturellen Bessarabien. Kommuniziert wird auf Bulgarisch, Rumänisch, Russisch, Gagausisch, Ukrainisch. Aus den Boxen plärrt aufgeregte Schlagermusik. Bratgeruch zieht sich durch die Luft. Geldwechsler bieten Einkäufern aus der nahen Republik Moldau ihre Dienste an. Für die Moldauer ist es beim Nachbarn günstig.
Swetlana Iwanowna offeriert einer Kundin einen Plastikkübel. Auf den von der Frau gewünschten Rabatt von fünf Hrywnja kann sie sich nicht einlassen. Alles ist knapp kalkuliert. 25 Hrywnja kostet der Eimer, knapp einen Euro. Die Frau gibt ihr die Summe münzgenau. Eine schlechte Meinung habe man hier über den Präsidenten, verrät die 45-jährige Verkäuferin. Sie ebenfalls. „Die Preise steigen, wie weit denn noch?“Vor allem Pensionisten bliebe nichts zum Leben übrig. Von den 1400 Hrywnja Pension, knapp 50 Euro, gehe mehr als die Hälfte für Strom und Gas drauf.
Als der Präsident vor fünf Jahren vor der Wahl die Stadt besuchte, war die Stimmung eine andere, erinnert sich eine Gewürzverkäuferin ein paar Meter weiter. „Unbeschwert und fröhlich war das.“Davon ist nichts geblieben. „Das Leben ist einfach zu schwer. Wir hoffen auf Besseres.“
Im Oktober 2018, als Poroschenko das letzte Mal nach Bolhrad kam, war die Stimmung schon gekippt. Seine Schule, nun ein Gymnasium, feierte sein 160-jähriges Bestehens. Auf der Mauer wurde eine Plakette angebracht, dass Poroschenko hier von 1972 bis 1974 Schüler war. Ein gläsernes Standesamt vermachte damals der Fonds des Präsidenten der Stadt, vier Paare wurden getraut und erhielten Geldumschläge. Im Heimatmuseum richtete man eine Ecke ein, die die Verdienste des prominenten Bolhraders würdigt. Er sei stets wissbegierig gewesen, ist hier zu erfahren. Sport betrieben habe er weniger gern. Dem Bewohner des früheren Hauses der Familie Poroschenko setzte man vor der Visite ein neues Aludach auf. Es ist ein älterer Herr mit beigefarbener Stoffkappe auf dem Kopf, der sich als Stepan vorstellt. Was hält er vom Präsidenten? „Erschießen werde ich ihn nicht“, sagt er.
Drei Dinge sind es, die die Bolhrader dem Präsidenten vorwerfen: der fortdauernde Krieg, die wegen der Forderungen der internationalen Kreditgeber stark gestiegenen Ausgaben für Gas und Strom, die läppischen Pensionen. Dass nicht alles in der Ukraine in seiner Hand liegt, sieht man nicht. Poroschenko hat sich als starker Mann geriert, nun muss er dafür büßen. Kartoffelpüree aus der Kantine. Der Budschak, so nennt man das südliche Bessarabien, gilt als strukturschwache Region der Ukraine. In der Kleinstadt mit 15.000 Einwohnern gibt es keine feinen Restaurants, dafür aber eine kostengünstige Kantine, die stets voll ist und Krautwickel und Kartoffelpüree auf farbenfrohen Tellern ausgibt. Jurij Moschul sitzt an der Fensterfront und blickt auf die Straße. Er sieht Grau. Im Frühsommer sei es schön hier, sagt er.
Dann versucht er zu erklären, warum selbst Bolhrad sich gegen Poroschenko gewendet hat. Moschul ist Gemeinderatsabgeordneter der Partei Unser Land, die in den multikulturellen Regionen des Westens und Ostens erfolgreich ist. Anders als der Donbass, der als Schwerindustrieregion in der Sowjetzeit entwickelt wurde, ist der Südwesten landwirtschaftlich geprägt. Hier wie dort gibt es viele einflussreiche Lokalpatrone. Diese sammeln sich in der Gruppierung, die früher Viktor Janukowitschs Partei der Regionen nahestand und 2015 ihre Loyalitäten wechselte. Nunmehr gilt sie als Poroschenko-nah. Doch Kiew ist weit weg von Bolhrad, und Moschul hat eben eine andere Meinung: Der Amtsinhaber habe sich auf zu viele Kompromisse eingelassen. „Er hätte alle alten Kader davonjagen und junge Leute anheuern sollen. Nur so kann man das alte System ändern.“Viele Bürger hätten mittlerweile den Eindruck, „dass es unter Viktor Janukowitsch besser war“.
Auch das nationalpatriotische Programm des Präsidenten – prägnant formuliert im Slogan „Armee, Sprache, Glauben“– stößt in der Region auf wenig Gegenliebe. Am Ukrainischen als Staatssprache gebe es nichts zu rütteln, sagt Moschul, niemand stelle infrage, dass der Budschak ein Teil der Ukraine sei. Dennoch – Poroschenko hat es für den Lokalpolitiker mit seiner Betonung des Ukrainischen zu weit getrieben.
Bessarabien hat eine starke regionale Identität – und vieles, was aus Kiew kommt, beäugt man hier traditionell mit Skepsis. Man ist gewohnt, am Rand zu leben – und manche lokalen Größen verstehen das zu nutzen. Die Dezentralisierungsreform ist so eine Sache, die in den vergangenen Jahren aus Kiew kam: Der geplanten Zusammenlegung der oft ethnisch geteilten Gemeinden widersetzen sich viele hier. Gleichzeitig profitieren verschmolzene Gemeinden von den größeren Einnahmen, die künftig in der Region bleiben. Auch Abgeordneter Moschul sieht den Vorteil, „dass mehr Steuern hierbleiben und nicht nach Kiew gehen“. Weinbau und Sonnenenergie. Ein paar Meter weiter, im schuhschachtelgleichen Hochhaus der Bezirksverwaltung, lobt Denis Musienko, 39, das Gelingen dieser Reform uneingeschränkt. Er ist der aus Kiew abkommandierte Chef der Bezirksverwaltung, trägt Siegelring und sein schwarzes Haar im strengen Seitenscheitel. Seit fast vier Jahren
Das vom Schokoladenkönig versprochene »neue Leben« hat nicht begonnen. In der multikulturellen Region stößt die »Ukrainisierung« auf wenig Gegenliebe.