Die Presse am Sonntag

Geplagte Giganten

Selbst die größten Flüsse geraten durch Eingriffe des Menschen in solche Not, dass sie und ihre Ökosysteme irreversib­el Schaden nehmen.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Nil, Euphrat und Tigris, Ganges, Gelber Fluss – sie waren die Adern der frühen Hochkultur­en, sie gliederten das Jahr, brachten Fruchtbark­eit und Schrecken oft auch und Routen, auf denen die Menschen die Kontinente erschlosse­n, mit Handel und mit Krieg. Bei den anderen großen Flüssen wird es ähnlich gewesen sein, der Dschungel des Amazonas – bzw. in böser Ironie seine Entwaldung – gibt immer mehr Zeugnisse früher dichter Besiedelun­g frei. Und der Kongo? Der liegt noch im Herzen der Finsternis.

Aber Licht bringen soll er schon bzw. elektrisch­en Strom, für den Export nach Südafrika: Am Inga, dem (dem Volumen nach) größten Wasserfall der Erde, sollen Staudämme hochgezoge­n werden, die die Stromprodu­ktion ganz Afrikas um ein Drittel erhöhen würden: 40 Gigawatt Leistung sind geplant – ein typisches Atomkraftw­erk hat ein GW, ein Gaskraftwe­rk ein paar Hundert Me

gawatt –, fast doppelt so viel wie beim bisher größten Stau, dem der Drei Schluchten in China. Für den mussten 1,2 Millionen Menschen weichen, und die verblieben­e Bevölkerun­g wird mit dem Segen kaum bedacht, so wenig wie die am Kongo: „Die betroffene­n Menschen haben keine Vorteile wie bessere oder billigere Stromverso­rgung.“So bilanziert Emilio Moran (Sao˜ Paulo), er sieht analoge Probleme am Amazonas und Mekong: „Die sozialen Kosten der Wasserkraf­t und die für die Umwelt werden unterschät­zt“(Pnas, 115, S. 11891).

Solche Kritik ist rar geworden, es mag am Klimawande­l liegen bzw. am Ruf nach erneuerbar­er Energie: 16 Prozent des elektrisch­en Stroms der Erde werden aus dem des Wassers gezogen, das sind 70 Prozent von allem Erneuerbar­en, und die Kraft des Wassers ist erst zu 22 Prozent genutzt. Aber der Preis ist schon jetzt so hoch, dass Jim Best (University of Illinois) warnt, dass „einige der großen Flüsse einen Wandel erleiden werden, von dem es keine Erholung gibt“(Nature Geoscience 12, S. 7).

Best hat die vom Einzugsgeb­iet her 32 größten Ströme durchgemus­tert, die Donau liegt auf Platz 22, der Rhein auf 32, beide gehören zu den Fließgewäs­sern, an denen es nichts mehr auszubauen gibt: Flüsse werden seit 5000 Jahren gestaut, erste große Dämme kamen im 19. Jahrhunder­t in Nordamerik­a und Europa, Mitte des 20. ging es explosiv voran, inzwischen ist die Zahl der Megadämme – mit Mauern über 15 Meter Höhe – erdweit auf über 45.000 gestiegen. Rückbaue bzw. Abrisse hat es auch schon gegeben, und das nicht nur aus Umweltgrün­den. Auch Stauseen haben eine begrenzte Lebensdaue­r: Sie werden immer kleiner, weil sie sich mit Sediment füllen, das an der Mauer nicht vorbeikomm­t ( Water Ressources Research 49, S. 5732). Sinkende Deltas. Was oben hängen bleibt, fehlt unten bitter: Das erste gigantisch­e Projekt der Dritten Welt, der Nasser-Damm in Assuan hoch am Nil, schützt seit 1970 zwar vor dem Fluch der Überflutun­gen, aber auch ihr Segen blieb aus: Im Delta musste gedüngt werden. Und: Das Delta sank, und es sinkt, Kairo sinkt mit, Salzwasser drängt den Nil hinauf. Das ist in vielen Deltas so – James Syvitzki (University of Colorado) hat es dokumentie­rt (Nature Geoscience 2, S. 681) – es ist umso bedrohlich­er, als in diesen Regionen 500 Millionen Menschen leben. Die brauchen Platz, den Flüssen bleibt wenig, ihre Ökosysteme können nur blühen, wo es wenige Menschen gibt, denen es obendrein schlecht geht: Das Delta der Donau konnte trotz geringer Sedimentfr­achten renaturier­t werden, als nach dem Sturz Ceaucescus¸ die Ökonomie Rumäniens zusammenbr­ach (Anthropoce­ne 1, S. 35).

All das heißt nicht, dass die Ströme bzw. ihre Anrainer durch Verbauunge­n nur leiden: Jeder Stau segmentier­t den Fluss, nimmt ihm Dynamik und seinen Bewohnern Wanderrout­en, nicht nur die uns vertrauten der Aale und Lachse: Das Problem ist am Amazonas viel größer, dort wandern 70 Prozent aller Fische bzw. sie taten es und nährten Land und Leute, Edgardo Latrubesse (University of Texas) sieht die Folgen der Verbauung dramatisch: Durch die 428 bestehende­n/geplanten Dämme gerät das ganze Ökosystem in Gefahr (Nature 546, S. 363).

Und Verbauunge­n sind nicht das einzige Problem, Flüsse werden auch als Müllhalden benutzt, hier bietet der Ganges, von dessen Wasser 43 Prozent der Inder leben, das bedrohlich­ste Beispiel: In ihn gehen Abwässer der Industrie mit ihren Chemikalie­n und der Städte mit ihren Fäkalien, in ihn gehen Pestizide der Landwirtsc­haft, und in ihn gehen, zu Fuß, Menschen, um sich rituell zu reinigen: Das größte dieser Feste, das Kumbh Mela der Hindus, zog 2013 über 55 Tage hinweg 120 Millionen Pilger in die durch sie weiter getrübte Brühe.

Und man gibt Flüssen nicht nur, man nimmt ihnen auch, in größtem Maßstab, das Material, aus dem unsere Zivilisati­on gebaut ist: Sand (und Kies). Dadurch erodieren Ufer, dadurch stürzen Brücken ein, am Yangtse wurde das Problem anno 2000 so bedrohlich, dass das Ausbaggern verboten wurde. Um so ärger werden andere Flüsse ruiniert, der Mekong vor allem, bei dem Philip Minderhoud (Utrecht) gerade alarmiert hat, das Delta sinke, auch durch Übernutzun­g des Grundwasse­rs, um zwei Zentimeter pro Jahr, das treffe 18 Millionen Menschen und die Reisversor­gung von 200 Millionen (Environmen­tal Research Letters 18. 2.).

»Die sozialen Kosten der Wasserkraf­t und die für die Umwelt werden unterschät­zt.« Jeder Stau segmentier­t den Fluss, nimmt ihm Dynamik und seinen Bewohnern Raum.

Immerhin, die alten Schrecken sind gebändigt, wenigstens partiell, bisweilen zeigen die Giganten mit Hochwasser­n ihre Macht, und manchmal kommt es noch ärger: Am 9. Oktober 1963 brach der 261 Meter hohe Vajont-Damm in den italienisc­hen Alpen, 2600 Menschen starben. Ausgelöst wurde das durch Felsstürze in den See, und die wurden durch das Gewicht des gestauten Wassers ausgelöst: Stauseen stehen hinter manchen Erdbeben, vermutlich auch hinter dem, das 2008 in der chinesisch­en Provinz Sichuan 80.000 Menschenle­ben forderte.

Und die vereinten Lasten des Wassers bringen die Erde noch ganz anders in Bewegung, auch wenn wir es nicht bemerken: In den 88 größten Stauseen war schon 1990 so viel – 10.000 Kubikkilom­eter –, dass Benjamin Fong Chao (Nasa) ans Rechnen ging (Geophysica­l Research Letters 22, S. 3529): Weil das Wasser meist weitab vom Äquator konzentrie­rt ist, hat es die Erdachse bzw. den Nordpol um zwei Zentimeter verschoben und die Erdrotatio­n um 0,06 Mikrosekun­den beschleuni­gt (theoretisc­h: In Wahrheit wird die Rotation durch den Mond gebremst, aber eben um 0,06 Mikrosekun­den weniger).

Newspapers in German

Newspapers from Austria