Geplagte Giganten
Selbst die größten Flüsse geraten durch Eingriffe des Menschen in solche Not, dass sie und ihre Ökosysteme irreversibel Schaden nehmen.
Nil, Euphrat und Tigris, Ganges, Gelber Fluss – sie waren die Adern der frühen Hochkulturen, sie gliederten das Jahr, brachten Fruchtbarkeit und Schrecken oft auch und Routen, auf denen die Menschen die Kontinente erschlossen, mit Handel und mit Krieg. Bei den anderen großen Flüssen wird es ähnlich gewesen sein, der Dschungel des Amazonas – bzw. in böser Ironie seine Entwaldung – gibt immer mehr Zeugnisse früher dichter Besiedelung frei. Und der Kongo? Der liegt noch im Herzen der Finsternis.
Aber Licht bringen soll er schon bzw. elektrischen Strom, für den Export nach Südafrika: Am Inga, dem (dem Volumen nach) größten Wasserfall der Erde, sollen Staudämme hochgezogen werden, die die Stromproduktion ganz Afrikas um ein Drittel erhöhen würden: 40 Gigawatt Leistung sind geplant – ein typisches Atomkraftwerk hat ein GW, ein Gaskraftwerk ein paar Hundert Me
gawatt –, fast doppelt so viel wie beim bisher größten Stau, dem der Drei Schluchten in China. Für den mussten 1,2 Millionen Menschen weichen, und die verbliebene Bevölkerung wird mit dem Segen kaum bedacht, so wenig wie die am Kongo: „Die betroffenen Menschen haben keine Vorteile wie bessere oder billigere Stromversorgung.“So bilanziert Emilio Moran (Sao˜ Paulo), er sieht analoge Probleme am Amazonas und Mekong: „Die sozialen Kosten der Wasserkraft und die für die Umwelt werden unterschätzt“(Pnas, 115, S. 11891).
Solche Kritik ist rar geworden, es mag am Klimawandel liegen bzw. am Ruf nach erneuerbarer Energie: 16 Prozent des elektrischen Stroms der Erde werden aus dem des Wassers gezogen, das sind 70 Prozent von allem Erneuerbaren, und die Kraft des Wassers ist erst zu 22 Prozent genutzt. Aber der Preis ist schon jetzt so hoch, dass Jim Best (University of Illinois) warnt, dass „einige der großen Flüsse einen Wandel erleiden werden, von dem es keine Erholung gibt“(Nature Geoscience 12, S. 7).
Best hat die vom Einzugsgebiet her 32 größten Ströme durchgemustert, die Donau liegt auf Platz 22, der Rhein auf 32, beide gehören zu den Fließgewässern, an denen es nichts mehr auszubauen gibt: Flüsse werden seit 5000 Jahren gestaut, erste große Dämme kamen im 19. Jahrhundert in Nordamerika und Europa, Mitte des 20. ging es explosiv voran, inzwischen ist die Zahl der Megadämme – mit Mauern über 15 Meter Höhe – erdweit auf über 45.000 gestiegen. Rückbaue bzw. Abrisse hat es auch schon gegeben, und das nicht nur aus Umweltgründen. Auch Stauseen haben eine begrenzte Lebensdauer: Sie werden immer kleiner, weil sie sich mit Sediment füllen, das an der Mauer nicht vorbeikommt ( Water Ressources Research 49, S. 5732). Sinkende Deltas. Was oben hängen bleibt, fehlt unten bitter: Das erste gigantische Projekt der Dritten Welt, der Nasser-Damm in Assuan hoch am Nil, schützt seit 1970 zwar vor dem Fluch der Überflutungen, aber auch ihr Segen blieb aus: Im Delta musste gedüngt werden. Und: Das Delta sank, und es sinkt, Kairo sinkt mit, Salzwasser drängt den Nil hinauf. Das ist in vielen Deltas so – James Syvitzki (University of Colorado) hat es dokumentiert (Nature Geoscience 2, S. 681) – es ist umso bedrohlicher, als in diesen Regionen 500 Millionen Menschen leben. Die brauchen Platz, den Flüssen bleibt wenig, ihre Ökosysteme können nur blühen, wo es wenige Menschen gibt, denen es obendrein schlecht geht: Das Delta der Donau konnte trotz geringer Sedimentfrachten renaturiert werden, als nach dem Sturz Ceaucescus¸ die Ökonomie Rumäniens zusammenbrach (Anthropocene 1, S. 35).
All das heißt nicht, dass die Ströme bzw. ihre Anrainer durch Verbauungen nur leiden: Jeder Stau segmentiert den Fluss, nimmt ihm Dynamik und seinen Bewohnern Wanderrouten, nicht nur die uns vertrauten der Aale und Lachse: Das Problem ist am Amazonas viel größer, dort wandern 70 Prozent aller Fische bzw. sie taten es und nährten Land und Leute, Edgardo Latrubesse (University of Texas) sieht die Folgen der Verbauung dramatisch: Durch die 428 bestehenden/geplanten Dämme gerät das ganze Ökosystem in Gefahr (Nature 546, S. 363).
Und Verbauungen sind nicht das einzige Problem, Flüsse werden auch als Müllhalden benutzt, hier bietet der Ganges, von dessen Wasser 43 Prozent der Inder leben, das bedrohlichste Beispiel: In ihn gehen Abwässer der Industrie mit ihren Chemikalien und der Städte mit ihren Fäkalien, in ihn gehen Pestizide der Landwirtschaft, und in ihn gehen, zu Fuß, Menschen, um sich rituell zu reinigen: Das größte dieser Feste, das Kumbh Mela der Hindus, zog 2013 über 55 Tage hinweg 120 Millionen Pilger in die durch sie weiter getrübte Brühe.
Und man gibt Flüssen nicht nur, man nimmt ihnen auch, in größtem Maßstab, das Material, aus dem unsere Zivilisation gebaut ist: Sand (und Kies). Dadurch erodieren Ufer, dadurch stürzen Brücken ein, am Yangtse wurde das Problem anno 2000 so bedrohlich, dass das Ausbaggern verboten wurde. Um so ärger werden andere Flüsse ruiniert, der Mekong vor allem, bei dem Philip Minderhoud (Utrecht) gerade alarmiert hat, das Delta sinke, auch durch Übernutzung des Grundwassers, um zwei Zentimeter pro Jahr, das treffe 18 Millionen Menschen und die Reisversorgung von 200 Millionen (Environmental Research Letters 18. 2.).
»Die sozialen Kosten der Wasserkraft und die für die Umwelt werden unterschätzt.« Jeder Stau segmentiert den Fluss, nimmt ihm Dynamik und seinen Bewohnern Raum.
Immerhin, die alten Schrecken sind gebändigt, wenigstens partiell, bisweilen zeigen die Giganten mit Hochwassern ihre Macht, und manchmal kommt es noch ärger: Am 9. Oktober 1963 brach der 261 Meter hohe Vajont-Damm in den italienischen Alpen, 2600 Menschen starben. Ausgelöst wurde das durch Felsstürze in den See, und die wurden durch das Gewicht des gestauten Wassers ausgelöst: Stauseen stehen hinter manchen Erdbeben, vermutlich auch hinter dem, das 2008 in der chinesischen Provinz Sichuan 80.000 Menschenleben forderte.
Und die vereinten Lasten des Wassers bringen die Erde noch ganz anders in Bewegung, auch wenn wir es nicht bemerken: In den 88 größten Stauseen war schon 1990 so viel – 10.000 Kubikkilometer –, dass Benjamin Fong Chao (Nasa) ans Rechnen ging (Geophysical Research Letters 22, S. 3529): Weil das Wasser meist weitab vom Äquator konzentriert ist, hat es die Erdachse bzw. den Nordpol um zwei Zentimeter verschoben und die Erdrotation um 0,06 Mikrosekunden beschleunigt (theoretisch: In Wahrheit wird die Rotation durch den Mond gebremst, aber eben um 0,06 Mikrosekunden weniger).