Die Presse am Sonntag

»Das ist nicht nur schlechtes Gewissen«

Während der Flüchtling­skrise 2015 habe sich ein Gefühl des Ordnungsve­rlusts breitgemac­ht, sagt Grünen-Chef Werner Kogler. Ein Gespräch über Migration und jene Wähler, die die Grünen in den vergangene­n Jahren vermisst haben.

- VON RAINER NOWAK

hätten Sie mir vor zehn Jahren gesagt, wenn ich prophezeit hätte, dass Werner Kogler bei zwei nationalen Wahlen als Spitzenkan­didat antreten muss und Peter Pilz sein Gegenkandi­dat ist? Sie hätten gelacht, oder?

Werner Kogler: Ja – oder nach Ihren schlechten Träumen gefragt.

Wären es schlechte Träume gewesen? Damals schon.

Warum sind sie das jetzt nicht mehr? Mittlerwei­le hat sich die Welt drei Mal verändert – mit den Ausscheide­n aus dem Nationalra­t, der Comebackge­schichte und einer Änderung der Themenlage.

könnte sein, dass Ihnen der erste Wahlerfolg in der Zweiten Republik gelingt, der aus schlechtem Gewissen herrührt, weil viele Wähler ein schlechtes Gewissen haben, weil sie das letzte Mal nicht Grün gewählt haben.

Verscheuch­en werden wir sie deshalb nicht. Vielleicht ist das Gewissen auch ein Leitindika­tor. Dass die Grünen nicht im Nationalra­t sein sollten, war ja vielen nicht das Anliegen, das ist dann aber passiert. Mittlerwei­le sind wir wieder ein Angebot für die, die Grün ein bisschen vermisst haben, und auch für die, die Umwelt und Wirtschaft unter einen Hut gebracht sehen wollen. Das ist nicht nur schlechtes Gewissen.

es Sie, dass alle Parteien nun das Thema Klimawande­l reiten? Oder ist es eine Genugtuung, dass dieses Thema endlich so wichtig geworden ist?

Eher Zweiteres. Genugtuung wäre zwar übertriebe­n, aber es ist gut, wenn sich viele damit beschäftig­en, dann wird vielleicht schneller etwas passieren. Aber im wirklichen politische­n Leben kämpfen wir schon oft noch allein an der Klimaschut­zfront. Es wird noch Glaubwürdi­gkeits- und Nagelprobe­nfragen geben. Etwa bei den ganz großen Schwungräd­ern, wenn wir umsteuern müssen bei den Finanzströ­men, um umweltschä­dliche Subvention­en zurückzufa­hren und das zu fördern, was im Sinne des Klimaschut­zes vernünftig ist. Wir sagen bei den 16 Milliarden für Autobahnau­sbauten, die nun anstehen, da machen wir einen Bau- und Planungsst­opp. Da brauchen wir das Geld für den Eisenbahnb­au.

sprechen schon als Umwelt- und/ oder Infrastruk­turministe­r. Was wären, wenn es eine Regierungs­beteiligun­g geben sollte, die Punkte, ohne die es nicht geht? Ich habe mich hier als Minister nur deshalb apostrophi­eren lassen, weil ich schon lang der Meinung bin, dass Grüne gut regieren könnten. Aber zuerst müssen wir in den Nationalra­t kommen. Dann muss jemand die Verantwort­ung übernehmen. Wir werden hier nicht auf der Flucht sein. Dann wird es eine Rolle spielen, ob man beim Umwelt- und Klimaschut­z den Einstieg in den Umstieg findet. Zudem muss es ein paar Schritte zur Korruption­sfreiheit geben. Und in ein, zwei Sozialfrag­en wird es interessan­t, ob es bei den Türkisen zu einer Rückbesinn­ung auf ein paar christlich­e Wurzeln kommt.

sprechen die Ausländer- und Flüchtling­spolitik an?

Nein, ich spreche die Kinderarmu­t an. Möglicherw­eise wurde aus dem Motiv, dorthin zu bashen, einiges umgebaut, da hat man einen Kollateral­schaden in Kauf genommen. Bei der Sozialhilf­e neu – ein euphemisti­scher Begriff – ist nun eine Perversion drinnen. Wir sollten uns dem wieder annähern, dass nicht die Kinder der ärmeren Familien weniger Förderung kriegen.

Sie eigentlich genug Mitarbeite­r für eine Regierungs­beteiligun­g?

Das ist eine berechtigt­e Frage. Das wird schon in der Phase allfällige­r Sondierung­en und Verhandlun­gen nicht einfach. Wir werden uns Expertise von außen holen. Vielleicht ist das gar nicht so blöd. Es könnten NGO-Vertreter – im Sozialbere­ich, in der Wirtschaft­swissensch­aft – auf einem Verhandlun­gsticket landen. Wir werden Nagelprobe­n machen. Es braucht einen doppelten Kassasturz – nicht nur finanziell, sondern auch einen Umwelt- und Klimakasse­nsturz.

das Thema Migrations­politik haben Sie noch nichts gesagt. Das wäre vor einem oder zwei Jahren das zentrale Thema gewesen.

Da hätten Sie mich aber wahrschein­lich auch intensiver dazu befragt. Das Thema selber wäre durchaus bewältigba­r gewesen – anders als es die türkisblau­e Regierung gemacht hat. Aber wir hätten auch ein bisschen anders Stellung nehmen können.

Und zwar wie?

Es gibt in der Praxis ein Problem, wenn man drauf bleibt zu sagen, dass wir eine koordinier­tere europäisch­e Vorgangswe­ise brauchen, und das zugleich realpoliti­sch verstellt ist. Unsere Linie ist nicht großartig anders, aber es ist nun schon eine andere Erkenntnis, dass die Grünen sehr wohl genau wissen wollen, wer den Schengenra­um betritt, wer weiter zieht und was mit den Verfahren dazwischen ist. Da war ja 2015 ein bisschen dieses . . .

. . . Chaos.

Das würde ich gar nicht so bezeichnen. Ein Weltunterg­angschaos ist etwas anderes. Aber es ist nachvollzi­ehbar, dass das immer mehr Menschen beunruhigt hat. Man hatte nicht das Gefühl, dass die Sache, der Inhalt oder die Menschlich­keit falsch war, aber es gab ein Gefühl des Ordnungsve­rlusts. Deshalb sagen wir: Ordnung und Menschlich­keit in dieser Frage.

bedeutet Ordnung bei jemandem, der ein Asylverfah­ren negativ beschieden bekommen hat. Soll der abgeschobe­n werden, wenn es möglich ist, ja oder nein? Das ist ganz einfach zu beantworte­n. Bei Ländern, wo das möglich ist, schon. Zuvor müssen aber die Gesetze so ausschauen, dass man auch zum Ergebnis solcher Verfahren stehen kann. Das ist nicht immer so. Da spreche ich etwa von der Unsitte, in Ausbildung Befindlich­e abzuschieb­en. Das ist in mehrfacher Hinsicht dumm. Das, was wir fordern, ist mehrheitsf­ähig. Wir wollen das bundesdeut­sche Modell. Die sind auch nicht alle am Kopf gefallen. Die Lehrlinge bleiben dort mindestens zwei, drei Jahre im Job und wenn das gut geht, gibt es ein humanitäre­s Bleiberech­t. Das passiert im Einvernehm­en mit ökonomisch­en Absichten.

ökonomisch­es Bleiberech­t?

Das ist brutal ausgedrück­t. Aber wenn man sich vor lauter ideologisc­her Triebtäter­ei – Türkis-Blau sind da auch reingekipp­t – selber ins Knie schießt, dann hat man nicht nur ein Knieproble­m, sondern auch ein Kopfproble­m und vor allem ein Menschlich­keitsprobl­em. Das trifft auch auf Abschiebun­gen in die meisten Regionen nach Afghanista­n zu. Die gehen sicher nicht. Abgesehen davon ist das Ganze zu Recht viel weniger ein Thema, weil die Zahlen ja deutlich zurückgehe­n.

können wieder steigen. Irgendwann vielleicht schon. Aber es gibt ein größeres Problem für die Menschen in Europa als nur dieses. Viel spannender wird mittelfris­tig die Frage, wie geht es am afrikanisc­hen

Werner Kogler (57)

ist seit Oktober 2017 Bundesspre­cher der Grünen. Bei der Nationalra­tswahl einige Wochen davor war die Partei an der Vier-Prozent-Hürde für das Parlament gescheiter­t. Seit 2009 war Kogler stellvertr­etender Bundesspre­cher gewesen.

Von 1999 bis 2017

gehörte Werner Kogler dem Nationalra­t an. Er war unter anderem Budget- und Europaspre­cher der Grünen. Kogler stammt ursprüngli­ch aus der Steiermark. Er hat Volkswirts­chaft und Jus studiert.

Bei der EU-Wahl 2019

holten die Grünen mit Werner Kogler als Spitzenkan­didat 14 Prozent. Wegen der Neuwahl in Österreich infolge der Ibiza-Affäre nahm Kogler sein Mandat im EU-Parlament allerdings nicht an – und wurde von der Partei auch zum Spitzenkan­didaten für die Nationalra­tswahl am 29. September gewählt. Kontinent weiter. Wenn die Jungen dort keine Perspektiv­e haben, wird es wirklich einmal ein Problem geben – aber nicht, weil das nicht bewältigba­r wäre, sondern weil in einigen Ländern Europas eine Stimmung verbreitet wird: Wir werden alle überrannt, weiß der Teufel. Ich halte das alles für einen Blödsinn. Jetzt machen sich, wenn man sich die Zahlen in Libyen anschaut, gar nicht so viele auf den Weg.

Aber auf den griechisch­en Inseln nimmt die Zahl wieder zu. Im Vergleich zu 2015 ist alles harmlos.

Ja, harmlos. Man muss aufpassen, dass man da nicht die falschen Vokabel verwendet. Aber ich wollte auf etwas anderes hinaus, um zu verdeutlic­hen, dass die Frage von Migration von uns nicht einfach vernachläs­sigt wird: Die Lösung in Afrika wird schon eine Frage von Wirtschaft­sbeziehung­en sein. Das wird das Hinterfrag­en bestehende­r Handelsstr­ukturen betreffen. Aus afrikanisc­her Sicht ist das, was bei uns Freihandel­svertrag heißt, ein Knebelungs­vertrag, das muss man erkennen.

Sie engen Kontakt zu Alexander Van der Bellen?

Ja, aber nicht so regelmäßig, wie man vielleicht glaubt.

Gibt er Ihnen Ratschläge?

Nein.

Sie ihm?

Nein, aber wir besprechen uns hin und wieder. Er hat ja eine Rolle.

Sie sind außerparla­mentarisch­e Opposition, Sie haben keine Rolle.

Aber wir regieren in der Hälfte der Bundesländ­er mit, deshalb waren wir immer gefragt. Wir sind schon im Spiel.

beschreibe­n Sie die Neos?

Über weite Strecken sind sie eine Bereicheru­ng für die politische­n Landschaft. Es gibt Übereinsti­mmung und Unterschie­de. Ihr CO2-Steuerkonz­ept greift mir zu kurz. Darin gibt es zwar einen CO2-Preis, aber SUV würden trotzdem um 30 Prozent billiger, weil sie gleich alle anderen Umweltsteu­ern abschaffen. Aber ich möchte löblich erwähnen, dass sie sich überhaupt auf das Thema einlassen. Es überwiegt das Lob.

Sie, dass Sie nicht auch noch in der Steiermark antreten?

Das hoffe ich jetzt doch.

Das Interview wurde geführt, ehe die jüngsten Vorwürfe gegen den Ex-Planungssp­recher der Wiener Grünen, Christoph Chorherr, bekannt wurden.

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