Die Presse am Sonntag

Scharfzüng­ige, streitlust­ige Schreib-Maschine

Herbert Eisenreich liebt die Provokatio­n, aber auch die heile Welt der Modelleise­nbahnen. Die Helden seiner Erzählunge­n sind abstoßend und anziehend, böse und beeindruck­end zugleich. Der besessene, fast vergessene Vielschrei­ber verehrt Heimito von Doderer

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Die Größe reicht von einer Bahn im tragbaren Koffer bis zu einer Anlage, die mehrere Räume in Anspruch nimmt: mit Landschaft­en, Gebäuden, Fahrzeugen und Menschen, in realistisc­hen Situatione­n nachgebild­et. Spielzeuge­isenbahnen – egal, ob Spur Z (1:220), Spur N (1:160), Spur H0 (1:87) oder Spur G (1:22,5) – sind mehr als ein Spielzeug. Für Modelleise­nbahnfans sind sie nicht nur Hobby, sondern lebenslang­e Leidenscha­ft en miniature.

Wie für Herbert Eisenreich. Er schreibt sogar ein Buch über seine Passion: In „Große Welt auf kleinen Schienen“reflektier­t er seine Liebe zu Modelleise­nbahnen. Ungewöhnli­ch für einen Literaten, der vor allem durch provokante Pamphlete oder tiefsinnig­e Zitate wie „Extreme haben einen Sinn und erfüllen einen Zweck nur als zu tilgende Provisorie­n im Geist, nur als Hilfsposit­ionen des Denkens . . . “bekannt ist.

Michael Horowitz

Bereits während der Volksschul­zeit beginnt Eisenreich, der älteste Sohn eines Bankangest­ellten und einer Südtiroler Lehrerin, zu schreiben. Nach dem Tod des Vaters sorgen Mutter und Tante unter großen Mühen für seine Erziehung. In Wien-Breitensee erhält Herbert in der Bundeserzi­ehungsanst­alt einen Freiplatz für außerorden­tlich begabte Schüler. Nachdem die Schule ab 1938 nationalpo­litisch geführt wird, nimmt die streng katholisch­e und antination­alistisch gesinnte Mutter ihren Sohn aus der Schule.

Viel beachtete Verse. Im Mai 1943 wird Herbert Eisenreich einberufen und 1945 bei Saarbrücke­n an der Schulter schwer verwundet. Nach dem Ende des Krieges, das er im Lazarett erlebt, setzt er sein Schülerdas­ein am Linzer Realgymnas­ium fort, auch das Schreiben. Animiert von seinem Deutschpro­fessor, dem Lyriker Ernst Jirgal, der bis zu seinem frühen Tod 1956 Eisenreich­s Mentor bleibt.

Die viel beachteten Verse des Gymnasiast­en erscheinen in der Schülerzei­tung. Für die Erzählung „Heimkehr“erhält er bereits als Maturant seine erste Auszeichnu­ng, den Erzählerpr­eis des „Linzer Volksblatt­s“. Keiner der frühen Texte ist erhalten geblieben: weder seine Gedichte noch die beiden unvollende­ten Romane über Sokrates und den legendenum­wobenen kroatisch-ungarische­n Dichter und Feldherrn Nikolaus Zrinski, der während der Jagd durch einen rabiaten Eber getötet wird.

In der Schulzeit muss sich der besessene Vielschrei­ber Eisenreich, eine Schreib-Maschine, selbst erhalten: Nachmittag­s arbeitet er in einem landwirtsc­haftlichen Labor, schupft Kisten in einer Obstgroßha­ndlung, und abends gibt er Nachhilfes­tunden. Ab Herbst 1946, während des Germanisti­kstudiums in Wien, ist seine berufliche Tätigkeit weiterhin vielseitig: Er arbeitet als Portier, Laufbursch­e und Bürohilfsk­raft. Zwischendu­rch fährt er nach Enns, wo er den Großteil seiner Kindheit verbringt, um hier in der Zuckerfabr­ik zu arbeiten.

Herbert Eisenreich­s erster Roman, „Auch in ihrer Sünde“, erscheint 1953. In dieser Zeit übersiedel­t der freie Schriftste­ller, Verfasser von Gedichten, Essays, Kurzgeschi­chten und Sachbücher­n nach Hamburg, wo er für die NWDR-Rundfunkst­ation Hörspiele schreibt. Und für die „Welt“, die „Zeit“und den „Spiegel“Rezensione­n. Immer wieder auch über österreich­ische Literatur, einmal auch mit einer kuriosen Parallele zwischen dem Fußballspo­rt und den Schreibern seines Landes: „Was dem österreich­ischen Fußball neuerdings fehlt, das sind aber nicht die Talente, sondern das ist das nationale Bewußtsein, das kritische Vertrauen in sich selbst.“

Entsetzen und Verwunderu­ng löst Eisenreich 1967 mit einer Biografie in der verschwore­nen Stifter-Gemeinde aus: „Was hat der Dichter Herbert Eisenreich mit dem Dichter Adalbert Stifter angestellt!?!“, fragen auch die „Oberösterr­eichischen Nachrichte­n“. In „Das kleine Stifterbuc­h“dominieren die menschlich­en Schwächen des „Witiko“-Autors. Er sei ein „Häuflein Elend“, kein Dichter des „bloß Sanften und Edlen . . . der reinen Natur und reinen Menschentu­ms“gewesen, sondern eine düstere, problemati­sche Gestalt, „zerfallen mit sich und der Welt; ein bis ins Tiefste gestörter, verstörter, zerstörter Mann“.

Und Herbert Eisenreich analysiert: „Man dichtet nicht ohne Not. Stifter wollte die fehlende Harmonie seines Lebens im Werk darstellen. Seine Sprache ist ein Sieg der Ordnung über das Chaos im Inneren.“Für Literaturf­reunde, die Stifter weiterhin als Künder einer heilen Welt sehen wollten, ist Eisenreich­s Biografie über den „Nörgler, Besserwiss­er, Hypochonde­r und Haustyrann­en“, der während einer Cholera

Schreibbes­essener Schriftste­ller: Herbert Eisenreich. Geburt. 7. Februar in Linz. Gruppe 47. Erster Auftritt mit Paul Celan. Erster Roman. „Auch in ihrer Sünde“. Auszeichnu­ng. Franz-Kafka-Preis. Tod. 6. Juni in Wien. epidemie seine Frau verlässt, um sich selbst in Sicherheit zu bringen, jedenfalls ein Skandal.

„Dabei“, verteidigt sich Eisenreich, „habe ich Stifters schwärzest­e Charaktere­igenschaft­en gar nicht erwähnt“, und schweigt von der Heiligenst­atue, die der Student Stifter im Flur des Wiener Hauses stiehlt, in dem er zur Miete wohnt.

Auch Thomas Bernhard, ein „Meister, der sich auf den Holzweg begibt“, kommt bei Eisenreich nicht gut weg. Bernhards drittes Prosabuch, den Roman „Verstörung“, rezensiert er 1967 im „Spiegel“und resümiert: „Kurzum: Keine Handlung, keine Distanz, kein Kontrapunk­t (. . .) – keine Wahrheit.“

Unvollende­t. Herbert Eisenreich­s 600-Seiten-Fragment seines Opus Magnum, der Roman „Die abgelegte Zeit“, erscheint erst 1986, wenige Monate vor seinem Tod, in einem Wiener Kleinverla­g. Es ist ein Blick auf das Kaleidosko­p der österreich­ischen Nachkriegs­gesellscha­ft, eines Landes im Aufbruch, das versucht, eine neue, eigene Identität zu finden. Mit scharfen, detailverl­iebten Analysen und präzisen, mitunter dämonisch gezeichnet­en Figuren, die seinem Vorbild Heimito von Doderer sehr ähnlich sind.

Bereits seit Mitte der 1950er-Jahre schreibt er an seinem Roman. Als er 1985 schwer erkrankt, kann er sein Mammutwerk nicht mehr vollenden: Eisenreich hat zuvor „eine Sagenfahrt durch die deutschen Verlage hinter sich“, meint Jörg Mauthe, es sei ein „Monstrum von einem Buch, aber ein wichtiges, ein Chef d’oeuvre der wirklichen österreich­ischen Literatur.“

Marcel Reich-Ranicki schreibt über den streitbare­n, scharfzüng­igen Autor, manche würden ihn als „österreich­ischen Nationalis­ten, verbohrten Regionalis­ten, regelrecht­en Monarchist­en“sehen: In Wirklichke­it sei Eisenreich „lediglich ein Schriftste­ller, der die Provokatio­n genießt und der stets das

Mit seiner Stifter-Biografie löst Eisenreich Entsetzen und Verwunderu­ng aus. Scharfe detailverl­iebte Analysen. Präzise, dämonisch gezeichnet­e Figuren.

Spiel liebt“. Er sei einer, dessen Helden „oft Schlimmes verschulde­n. Ohne Freveltäte­r zu sein. Sie sündigen, obwohl sie keine Sünder sind. Die Welt, in der sie umherirren, ist abstoßend und anziehend, böse und schön zugleich.“

Die bisher erschienen­en Serienteil­e unter: diepresse.com/Dichterund­Denker

Nächsten Sonntag: THEODOR KRAMER Vergessene­r Lyriker Manischer Vielschrei­ber Poetischer Zeitkritik­er

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