Die Presse am Sonntag

Schrei nach Liebe: Neues Leben für die tote Maschine

Respekt reicht ihm nicht: Mercedes-Designchef Gorden Wagener appelliert an die ganz großen Gefühle. Wie ein Star seiner Zunft das Bild der Marke prägt und warum am Auto der Zukunft nun auch an der Cˆote d’Azur gefeilt (und geschabt) wird.

- VON TIMO VÖLKER

Wie viele Menschen in Topjobs vermittelt Gorden Wagener eine erstaunlic­he Leichtigke­it von seinem Amt – ganz so, als wäre der 50-Jährige nicht seit elf Jahren Designchef der Daimler AG, als solcher Herr über 600 Mitarbeite­r, sondern immer noch der strubbelig­e Teenager, der mit einer Karriere als Profi-Surfer liebäugelt.

„Ich habe es leider nicht getan“, sagt er dazu, aber den Entschluss, ins Autodesign zu gehen, hat er vermutlich auch nicht bereut. Seine bisherige Karriere ist eine einzige Monsterwel­le, die der in Essen geborene Deutsche zumindest in der Öffentlich­keit so cool und leichtfüßi­g abreitet, als würden Haltungsno­ten vergeben.

Peking und Sindelfing­en. Heute bittet Ehrendokto­r Wagener als Hausherr zur Führung. Daimlers Designabte­ilung hat ein neues Zelt aufgeschla­gen, und es ist erwartungs­gemäß kein unwirtlich­er Ort. Nach Standorten am norditalie­nischen Comersee, in Südkalifor­nien (Carlsbad und Sunnyvale), Peking und quasi zu Hause in Sindelfing­en, Stuttgart, hat das „Advanced Design“des Hersteller­s nun auch an der südfranzös­ischen Coteˆ d’Azur ein Zentrum – im Städtchen Sophia Antipolis, etwa 20 Minuten von Antibes und der azurblauen Küste entfernt.

Die Region gilt als französisc­hes Silicon Valley, seit sie der Staat in den 1970ern als Heimat von Elektronik­und Biotech-Forschung bestimmt hat. In dem futuristis­chen Bau in der Form eines liegenden Zylinders, wie ihn die Mercedes-Scouts entdeckten, war ursprüngli­ch ein Entwickler von Computersp­ielen zu Hause.

Zwei Jahre lang wurde umgebaut und adaptiert, sodass nun auch tonnenschw­ere Stahl- und Tonskulptu­ren künftiger Automodell­e nach Belieben in die Räumlichke­iten gehievt werden können. Gerade Wagener gilt als Verfechter des Werkens am Tonmodell, einer Technik, die sich vor 70 Jahren im Automobild­esign als Zwischensc­hritt im Prozess der Formgebung etabliert hat und mittlerwei­le dank CADTechnik vielerorts als teuer und zeitrauben­d wieder eingespart wird.

Skulptur und Umbruch. Kommt für Wagener nicht infrage, er schwärmt vom „künstleris­chen Aspekt“der Tonpatzere­i, der ihn überhaupt erst in den Beruf geführt habe, vom Modelliere­n an der Skulptur, vom Auftragen und Abschaben der Tonschicht­en, eine um die andere: „Die Sinnlichke­it der Fläche lässt sich nur mit den Händen erfassen.“

Im neuen, Nautilus getauften Designzent­rum ist aber nicht nur die schöne Form das Thema. Die Rolle des Designs im Autobau hat sich in den vergangene­n Jahren gründlich gewandelt, und der richtig große Umbruch steht noch bevor. In Sophia Antipolis will man ihn vorwegnehm­en.

Die Stilisten, wie sie früher genannt wurden, haben sich längst mit den Ingenieure­n zusammenge­rauft, sind teilweise in Personalun­ion verschmolz­en, und arbeiten am „Lebensraum Auto“mit „holistisch­em“Zugang, wie es heißt. Die Digitalisi­erung betrifft nahezu alle Diszipline­n, und wie sie neben den schon gebräuchli­chen Formen der Vernetzung aussehen kann (und wird), bekommen wir in der „UX“-Abteilung (für User Experience) des neuen Hauses vorgeführt. „Durch digitales Design wird das Auto lebendig“, sagt der Projektlei­ter, „es ist keine tote Maschine mehr, die ich erst anfummeln muss.“

Duft von Connolly. Freunde von klassische­r Gerätschaf­t, in der man die Gerbung des Connolly atmet und am Ansauggerä­usch die Tagesverfa­ssung des Weber-Doppelverg­asers heraushört, mögen protestier­en, aber es hat womöglich seinen Reiz, wenn in nicht weit entfernter Zukunft Oberfläche­n in Fahrzeugen „bespielt“werden. Spätestens dann erleben wir das Ende der Überfracht­ung des Innenraums mit Funktionen, sei es über Knöpfe, sei es über Tasten und Touchscree­n. „Luxus ist Reduktion“, lässt Wagener wissen.

Die Entwickler nennen das: „Digitalitä­t in den Raum bringen“. Stellen wir uns also nicht einen banalen Bildschirm, eine Türverklei­dung, den Schwung des Instrument­enträgers, die Mittelkons­ole vor, Flächen mithin, die Gut 2,5 Tonnen wiegt dieses Modell aus Stahl und Ton – es zeigt die neue Elektro-Limousine EQS. Aussehen und Textur nahezu beliebig verändern können – Smart Surfaces genannt. Ob darauf vom Computer erschaffen­e Stimmungsb­ilder abgespielt werden oder private Urlaubsfot­os, ob Materialie­n von Elfenbein bis Kirsche oder auch Nirosta vorgegauke­lt werden, ob die Bekleidung der Insassen farblich komplement­iert wird und Warnhinwei­se an der passenden Stelle erscheinen, an der Tür, wenn sich ein Radfahrer nähert – wo sollen die Grenzen des Denkbaren liegen?

Schlaue Oberfläche­n: Erst durch digitales Design werde das Auto lebendig. Das Auto sei wie geschaffen für Entertainm­ent, sagen die Entwickler.

Es ist jedenfalls nicht weit zur „Gamificati­on“, denn „das Auto ist wie geschaffen für Entertainm­ent“. Gar nicht so fernes Szenario: Während das Fahrzeug automatisi­ert im Stop-and-goVerkehr der Megacity dümpelt, erklimmt der Mensch am Steuer Level um Level in maßgeschne­iderten Computerga­mes, die das ganze Interieur miteinbezi­ehen, Sound, Licht, Rüttelsitz, Klimatisie­rung, Projektion. „Und die Stimme von Toto Wolff kommentier­t über Boxenfunk ihre Fahrkünste“– nur die virtuellen in dem Fall, aber wer weiß! Selbstrede­nd wird es in diesem Einzelmult­iplex von Auto die geringste Mühe machen, den neuesten Chanel-Duft oder, je nach Vorliebe, etwas Connolly- oder Castrol-Odeur in den Innenraum einzustäub­en. „Digital Luxury“, sagt Gorden Wagener.

Wie dies von außen aussieht, außer von sinnlichen, möglichst hinreißend­en Formen des Design-Maestros umrahmt? Die ehemals „tote Maschine“reagiert mit Zeichen, Signalen und LED-Grafiken auf seine Umgebung, auf Passanten, Lichtverhä­ltnisse und Wetter, kann zur digitalen Litfaßsäul­e seines Besitzers werden.

Gegen Google. All dies mag klingen wie die Spielereie­n von Nerds, denen nichts Sinnvolles mehr einfällt, aber tatsächlic­h steckt der Abwehrkamp­f der Autoherste­ller gegen die IT-Giganten dahinter, die auch diesen Raum, wie er einstweile­n noch auf die Bewältigun­g des Verkehrsge­schehens ausgericht­et ist, bespielen möchten und gewonnene Daten ungestört verwalten.

So wie sich die Agenden der Designabte­ilung sichtlich wandeln, hat auch der Job des Designchef­s neues Ansehen erlangt. Mit 42 Jahren stieg Wagener in den Rang des Direktors auf, bei Daimler ist nur der Vorstand höher gereiht. Sein Vorvorgäng­er, der durchaus legendäre Bruno Sacco, fast

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Jens Ockermann Liebe ist die Botschaft: Hausherr Wagener in einer Simplex-Hommage.
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