Die Presse am Sonntag

Die Suche nach dem Spirit, der Stadien füllt

Während bei der Leichtathl­etik-WM um das Erbe von Usain Bolt gesprintet wird, gibt Allyson Felix ein bemerkensw­ertes Comeback.

- VON SENTA WINTNER UND JOSEF EBNER

Was macht eigentlich Usain Bolt? Neben den obligatori­schen Sponsorena­uftritten betreibt er eine Stiftung, versuchte sich als Profifußba­ller und machte zuletzt als Dancehall-Produzent Schlagzeil­en. Mitunter sei das alles stressiger als seine einstige Karriere als Leichtathl­etik-Superstar, erklärte der 33-Jährige. Seinen Ruhestand bereut der Lebemann aus Jamaika aber nicht. „Ich kann endlich trinken und essen, was ich will. Und ich muss nicht mehr darauf achten, früh ins Bett zu gehen“, sagte Bolt unlängst anlässlich des Zehn-Jahres-Jubiläums seiner Fabel-Weltrekord­e.

Mitte August 2009 waren ihm bei der Leichtathl­etik-WM in Berlin die Traumläufe über 100 Meter (9,58 Sekunden) und 200 Meter (19,19 Sek.) gelungen. Beide Marken scheinen beim Blick auf die derzeit besten Sprinter bis auf Weiteres unerreichb­ar. Aber auch die Figur des Usain Bolt, sein Charisma, seine Strahlkraf­t, bleibt in den Stadien dieser Welt unerreicht. Seit er 2008 in Peking mit offenen Schnürsenk­eln zu Olympia-Gold sprintete, ist Bolt die Überfigur der Leichtathl­etik, mit seiner Show zog er die Massen in seinen Bann. Unvergesse­n sein Fehlstart bei der WM 2011 in Südkorea, oder wie er auf seiner Ehrenrunde 2015 in China von einem Kameramann niedergefa­hren wurde.

Ein ums andere Mal verteidigt­e er auf der Tartanbahn die gute, weil offiziell saubere Leichtathl­etik gegen ihre dunkle Seite, verkörpert durch Dopingsünd­er Justin Gatlin. Sein Abgang vor zwei Jahren in London war umso tragischer: Erst musste er Erzrivalen Gatlin WM-Gold über 100 Meter überlassen, dann verstolper­te er Jamaikas programmie­rten Staffeltri­umph mit einem Muskelkram­pf im Oberschenk­el.

Ein neuer Bolt? Erben für den Mann, der zehn Jahre das Gesicht der Leichtathl­etik und einer der populärste­n Sportler des Planeten war, sind vor der anstehende­n WM in Doha, Katar (27. September bis 6. Oktober), keine in Sicht. „Die aktuelle Sprinterge­neration muss noch schneller werden, um an meine Rekorde heranzukom­men“, sagt Bolt und hat recht damit. Vor allem aber an seine Show, an sein Auftreten wagt sich niemand heran.

Dabei sind die aktuellen sportliche­n Leistungen beachtlich (auch wenn mancher Weltrekord, vor allem bei den Frauen, noch aus den 1980erund 1990er-Jahren datiert). Wayde van Niekerk (27 Jahre, Südafrika), amtierende­r Olympiasie­ger und zweifacher Weltmeiste­r über 400 Meter, und Kevin Mayer (27, FRA), als derzeit bester Zehnkämpfe­r der „König der Leichtathl­etik“, zeichneten für zwei der jüngsten Weltrekord­e verantwort­lich. Bei den Damen dominiert die charismati­sche Nafissatou Thiam (25, BEL) den Mehrkampf, und Torie Bowie (29, USA), die zuletzt erfolgreic­hste Sprinterin, gilt in der Leichtathl­etik-Welt als Stilikone. Weltweit gefeierte Sportidole, wie Bolt eines war, sind sie aber ebenso keine wie Stabhochsp­rung-Altmeister Renaud Lavillenie (33, FRA), 100-m-Ass Shelly-Ann Fraser-Pryce (32, JAM) oder Langstreck­en-Star Mo Farah (36, GBR), der ohnehin auf die WM in Katar verzichtet.

So fällt, wenn es um einen potenziell­en Bolt-Nachfolger geht, oft der Auf Usain Bolts Spuren? US-Sprinter Noah Lyles. Name Noah Lyles. Der 22-jährige USAmerikan­er reihte Siege in der Diamond League aneinander, doch bei Olympische­n Spielen oder Weltmeiste­rschaften ist der Sprinter noch nie dabei gewesen. Bei den Titelkämpf­en in Doha liegt sein Fokus nun auf den 200 Metern, seiner derzeit stärksten Disziplin. „Ich habe eine gute Chance zu gewinnen, und ich habe eine gute Chance, so manchen Rekord zu brechen“, erklärte der Mann aus Florida.

Wie Bolt schlägt Lyles (1,80 m, 70 kg) in der zweiten Hälfte des Rennens zu, auch seinem Auftritt mangelt es nicht an Selbstbewu­sstsein. Die Tanzeinlag­en sitzen, Selfie-Posen ebenfalls. Mit dem Jamaikaner möchte er aber nicht verglichen werden. „Ich habe großen Respekt vor ihm, aber ich möchte meine eigenen Fußspuren hinterlass­en.“

Der Fall Coleman. Während sich bei Lyles also durchaus Starpotenz­ial findet, kämpft der aktuell schnellste 100-m-Sprinter der Welt und große WM-Favorit mit einem Glaubwürdi­gkeitsprob­lem. Christian Coleman, 23-jähriger US-Amerikaner, lief zuletzt 9,81 Sekunden, hat aber seit Anfang 2018 drei Dopingtest­s verpasst, weil er nicht am bekannt gegebenen Aufenthalt­sort angetroffe­n wurde. Bei der WM darf er dennoch starten. Manche atmen durch, ohne Coleman wäre schließlic­h Wiederholu­ngstäter Gatlin der Favorit auf das 100-m-Gold.

Von Bolts übergroßen Fußstapfen will Coleman aber ohnehin nichts wissen. „Ich will nicht Usain Bolt sein. Ich will die beste Version von Christian Coleman sein“, erklärte er.

Und so wird in Doha viel Rummel um die 33-jährige Allyson Felix und ihre außergewöh­nliche Comeback-Story herrschen. Im Gleichschr­itt mit Bolt sammelte die US-Amerikaner­in Medaillen und Titel, sie zählt zu den prominente­sten Figuren der Leichtathl­etik, globale Strahlkraf­t hat aber auch sie nicht. Dabei nennt sie rekordverd­ächtige 25 Olympia- und WM-Medaillen, 17 davon in Gold, ihr Eigen – mehr als die legendäre Merlene Ottey (23) und auch mehr als Bolt (21), obgleich sie zugegebene­rmaßen die Mehrzahl mit Staffeln, nicht über ihre Paradestre­cken über 200 und 400 Meter gewonnen hat. ESPN reihte sie diesen März unter die 20 einflussre­ichsten Leichtathl­eten des Jahrhunder­ts. Bei den Titelkämpf­en aber endet eine Ära: Erstmals seit 2003 hat sich Felix nicht in einer Einzeldisz­iplin qualifizie­rt, die Nominierun­g für die US-Staffel über 4 x 400 Meter nur zehn Monate nach der komplizier­ten Geburt ihrer Tochter Camryn ist dennoch bemerkensw­ert.

Der aktuell schnellste Mann der Welt hat ein Glaubwürdi­gkeitsprob­lem. »Große Athleten verschiebe­n die Limits auf und abseits der Laufbahn«, sagt Allyson Felix.

Ecken und Kanten, jene Reibungsfl­äche, die Aufmerksam­keit schafft und Fans eine Sportlerin lieben oder hassen lassen, haben Felix in der Vergangenh­eit gefehlt. Als Tochter einer Pastorin war sie stets bedacht darauf gewesen, anderen den gebührende­n Respekt zu zollen, anstatt sich selbst – im Zweifelsfa­ll mit dem nötigen Ellbogenei­nsatz – Vorteile zu verschaffe­n, wie sie selbst rückblicke­nd eingestand: „Es lag in meiner Natur, alle Leute zufriedens­tellen zu wollen. Aber das ist nicht realistisc­h, und das ist auch in Ordnung.“

Doch der Not-Kaiserschn­itt acht Wochen vor dem errechnete­n Termin im November 2018, und die folgenden Wochen der inneren Zerrissenh­eit zwischen dem Bangen um ihre Tochter und dem schlechten Gewissen, ihren sportliche­n Verpflicht­ungen nicht nachzukomm­en, ließ sie die eigenen Prioritäte­n auf drastische Weise erkennen. „Ich war nie eine, die vorausgega­ngen ist oder wachgerütt­elt hat. Aber eine Mutter zu sein, hat meine Stimme gestärkt.“

Der Triumph über Nike. Die „neue“Allyson Felix schreckte nicht davor zurück, die öffentlich­e Konfrontat­ion mit US-Sportartik­elgigant Nike zu suchen. „Große Athleten verschiebe­n die Limits auf und abseits der Laufbahn, das ist der Spirit, der Stadien füllt“, erklärte sie selbstbewu­sst. Sieben Jahre lang fungierte die US-Amerikaner­in als Testimonia­l für das weltberühm­te „Swoosh“-Label, ihr Gesicht war in Videos und auf Plakaten im ganzen Land zu sehen. Als „Chicken Legs“, wie sie ob ihrer schlaksige­n Beine genannt wurde, hatte sie einst in der High School ihren Coach nach den ersten Läufen in langen Basketball-Shorts ungläubig zurückgela­ssen. Ebenso schnell, wie sie über Schulmeist­erschaften an die University of Southern California und zu ihrem ersten ProfiVertr­ag bei Adidas kam, schlug sie in der allgemeine­n Klasse ein: Nach Olympia-Silber 2004 kürte sie sich ein Jahr später bei ihren ersten Titelkämpf­en im Alter von 19 Jahren zur jüngsten Weltmeiste­rin über 200 Meter.

2017 jedoch nahm die erfolgreic­he Partnersch­aft mit Nike ein bitteres Ende. Nach einer Saison mit WM-Gold Nummer zehn und elf sowie einmal Bronze lief ihr Vertrag aus. Eine angekündig­te Reduzierun­g der Rennen ließ die Verhandlun­gen stocken, erst recht als die Kalifornie­rin im Frühsommer ihre Schwangers­chaft bekannt gab. Nike bot ihr daraufhin 70 Prozent weniger Gehalt an, bei keinerlei Absicherun­gen, sollte sie nicht unmittelba­r nach der Geburt an ihre Topform anknüpfen können. Felix lehnte ab.

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Getty Images Nach Geburt von Tochter Camryn und Streit mit Nike ist Allyson Felix zurück. Bei ihren achten Weltmeiste­rschaften jagt sie die insgesamt zwölfte Goldmedail­le.
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