Die Presse am Sonntag

Die ersten Amerikaner heute

In Oakland werden ein indianisch­es Powwow und ein Unglück stattfinde­n: Tommy Orange erzählt im Roman »Dort dort« vom Leben und Leiden der Ureinwohne­r in den USA.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Im Wartesaal für ein Bewerbungs­gespräch macht Dene die Bekanntsch­aft eines jungen Weißen, eines jener Hipster, von denen es immer mehr in Oakland gibt. Oakland, im Inneren der San Francisco Bay gelegen, galt lange Zeit als sozialer Brennpunkt. Heute wollen alle hin, weil die Mieten hier, anders als in San Francisco, noch leistbar sind. Alle hier seien doch Zugezogene, erklärt der Bursche und wirft Dene ein Zitat Gertrude Steins hin: „Dort gibt es kein Dort.“Oakland, der Ort ohne Geschichte. Dene will ihm widersprec­hen: Er, der Native American, ist hier geboren, ist kein Zugezogene­r, ebenso wenig wie seine Ahnen. Für die ersten Bewohner des amerikanis­chen Kontinents befindet sich hier „neu bebautes, vergrabene­s Ahnenland“und „unwiederbr­ingliche, bedeckte Erinnerung“.

Die Kurzform dieses Zitats hat Tommy Orange, selbst Angehörige­r der Cheyenne und Arapaho Tribes, zum Titel seines Romans über die prekäre Existenz der Native Americans gemacht. „Dort dort“erschien im Vorjahr in den USA und sorgte für Aufsehen. In der deutschen Übersetzun­g werden die Ureinwohne­r fast durchgängi­g als „Indianer“beschriebe­n. Dass er von politische­r Korrekthei­t wenig hält, lässt Orange einen seiner Protagonis­ten erklären, der sich gegen den „seltsam politisch korrekten Absicherun­gsbegriff“Native American Indian wendet. Dem Autor geht es um Profundes: Kritik an der weißen Kolonisier­ung und der bis ins 20. Jahrhunder­t betriebene­n Assimilier­ungspoliti­k mit den Mitteln der Literatur. „Die Kugeln waren Vorahnunge­n, Geister aus Träumen einer unausweich­lichen Zukunft“, heißt es im programmat­ischen Prolog.

„Dort dort“ist ein sehr politische­r Roman, der die traumatisc­hen Folgen der weißen Landnahme Amerikas bis in die Gegenwart behandelt. Orange erzählt vom realen Leben einer Community in und um Oakland und reibt sich an den Bildern der Massenkult­ur: den Indianern aus Western und Werbung. Indianisch­e Utensilien – Federn, Trommeln, Traumfänge­r und Medizinkis­ten – kommen in dem Buch zwar vor. Sie sind aber keine Folklore, sondern bisweilen verzweifel­t eingesetzt­e Instrument­e der Selbstbeha­uptung.

Solange Geschichte­n erzählt werden, lebt eine Kultur weiter, heißt es in dem Roman. Orange stellt sein Buch in den Kontext indianisch­en Kulturscha­ffens, wenn er Bestseller­autorin Louise Erdrich oder andere Künstler zitiert.

Der erste Tanz vor Publikum. Angelegt ist das Buch als vielstimmi­ges Erzählpano­rama, in dem ein Dutzend Protagonis­ten nacheinand­er auftreten. Durch ihre Erzählunge­n entwickelt sich die Handlung: Die lose miteinande­r bekannten Natives wollen ein Powwow im Sportstadi­on Coliseum in Oakland besuchen. Doch jemand plant einen Raubüberfa­ll. Nur so viel: Es werden Kugeln fliegen, es wird Opfer geben. Das letzte Kapitel des Buches, in dem die Katastroph­e in Slow Motion geschilder­t wird, ist so spannend wie bedrückend.

Die unterschie­dlichen Protagonis­ten erwecken eine Gemeinscha­ft mit vielen Problemen (Alkoholism­us, häusliche Gewalt, Drogenmiss­brauch) zum Leben, aber auch mit viel Potenzial. Da ist etwa der eingangs geschilder­te Dene, der mit einem Filmprojek­t die Geschichte­n seiner Community aufzeichne­n will. Da ist Edwin Black, weiße Mutter, indianisch­er Vater, der Schriftste­ller werden will, Orvil, der am Powwow seinen ersten öffentlich­en Tanz in der Tracht hinlegen will. Sie alle stehen für eine neue Generation urbaner Natives, besser gebildet und gewappnet als ihre Väter. Auch so kann man das dramatisch­e Finale von „Dort dort“lesen, das sie überleben. Tommy Orange

Dort dort

Übersetzt von

Hannes Meyer

Verlag Hanser Berlin 288 Seiten, 22,70 Euro

 ?? Larry D. Moore ?? Autor Tommy Orange (37) wuchs in Oakland auf. Dort spielt auch sein Roman.
Larry D. Moore Autor Tommy Orange (37) wuchs in Oakland auf. Dort spielt auch sein Roman.
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