Heimkehr auf die Ägäis-Insel
Vor vielen jahrzehnten vertrieb die türkei die griechische Bevölkerung der Insel Imbros. mittlerweile ziehen viele menschen zurück – und bauen mit der Hilfe des türkischen staates kirchen, schulen und Dörfer neu auf. Ein Besuch bei der wachsenden Gemeinde
Im Garten seines Großvaters gibt es für Dimitri Asanaki noch viel zu tun. Ein halbes Jahrhundert ist der Obstgarten im Dorf Agridia auf der Insel Imbros brachgelegen – seit Dimitris Eltern die Insel in den 1960er-Jahren verlassen mussten. Nun ist das Grundstück mit Gestrüpp und Gras zugewachsen, Bäume und Sträucher sind verwildert. Auch sonst hat sich auf Imbros viel verändert, seit die griechisch-orthodoxe Bevölkerung vor 50 Jahren fliehen musste. Dimitri zeigt auf eine Bergspitze, die von einer Kugel gekrönt ist – einer Radarstation des türkischen Militärs.
Früher sei da eine Kapelle gestanden, erzählt Dimitri: die Elias-Kirche. Zum Namenstag des Heiligen Elias zogen die Dorfbewohner jeden Sommer auf den Berg zum Gottesdienst. Hunderte Kirchen gab es auf Imbros, Tausende griechische Christen lebten auf der Insel, so wie die Eltern und Großeltern von Dimitri. Hier vorn an der Ecke, das sei sein Elternhaus, sagt Dimitris Vater, Antonio Asanaki, und dahinter das Elternhaus seiner Frau, dort die Häuser der Onkel und Tanten und Großeltern – fast das ganze Viertel habe seine Familie bewohnt, erzählt der 85-Jährige.
Antonio zog mit seiner Frau in den 1960ern nach Griechenland und holte später seine Mutter und Schwiegermutter nach. Die alten Damen zählten zu den letzten Christen auf Imbros, das auf Türkisch Gökceada¸ heißt und vor der Südspitze der Dardanellen liegt. Und sie wollten eigentlich nicht weg. „Aber sie konnten nicht bleiben, denn die Lage war schlimm und die meisten Griechen waren schon fort“, erzählt Antonio. „Wir versprachen ihnen, dass sie wiederkommen würden, weil wir dachten, es würde einmal wieder besser. Aber es kam anders. Sie sind in Athen gestorben, ohne die Insel wiedergesehen zu haben.“
Die Folgen eines Krieges. Das hatte sich die Völkergemeinschaft anders vorgestellt, als sie Imbros und die Nachbarinsel Tenedos nach dem Griechisch-Türkischen Krieg (1919−1922) im Vertrag von Lausanne 1923 der Türkei zuschlug. Da die Inseln vor den Dardanellen liegen, sollten so die Sicherheitsinteressen der Türkei berücksichtigt werden. Die Griechen sollten bleiben dürfen und erhielten im Vertrag das Recht auf Selbstverwaltung. Die Türkische Republik entzog es ihnen schon wenige Jahre später.
Die regelrechte Vertreibung begann dann 1964. „Da wurden erst die griechischen Schulen geschlossen, dann wurde uns verboten, Griechisch zu sprechen“, erzählt Antonio. „Deshalb sind alle Familien mit Kindern fort, nach Athen, bis Amerika und Australien.“Einige Griechen blieben, aber schließlich mussten auch sie gehen. „Denn der Staat hat eine Strafkolonie auf der Insel eröffnet und die Sträflinge frei herumlaufen lassen“, sagt Antonio und schüttelt den Kopf. „Da sind furchtbare Dinge geschehen, entsetzliche Sachen.“
Organisierte Vertreibung. Berechnend ging der Staat vor, um die Christen der Ägäis-Insel zu vertreiben; das belegt ein Dokument des Nationalen Sicherheitsrats, das viele Jahre später publik wurde. „Auflösungsplan“hieß der Beschluss Nummer 35 vom 27. März 1964, er zählte Maßnahmen zur „Auflösung“der griechischen Bevölkerung auf Imbros auf: Schließung der Schulen, Sprachverbot, Enteignung, Flutung durch einen Stausee, Bau von Strafkolonie und Militärbasis. Und die Türkifizierung der Insel durch Ansiedlung von Moslems.
Die Vertreibung war Ausdruck der kemalistischen Staatsideologie, die den Islam als soziales Ordnungsinstrument einsetzte und nicht muslimische Bürger als Risiko sah. Von fast zehntausend Griechen auf Imbros zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren anno 2000 kaum 250 übrig; dafür lebten dort etwa 8500 Türken (heute sind es fast 10.000), während es 100 Jahre zuvor weniger als 100 gewesen waren. Als „Krönung“wurde die Insel umbenannt, auf den türkischen Namen Gökceada,¸ „himmlische Insel“.
Für die Griechen von Imbros schien das Kapitel abgeschlossen. Nie hätte sie gedacht, dass sie zurückkehren könnte, sagt Katerina Asanaki, die Frau von Antonio und Mutter von Dimitri. Und doch sitzt sie jetzt auf der Terrasse ihres Hauses in Agridia und blickt über die Dächer des Dorfs auf den Stausee im Tal, wo einst Olivenhaine standen. Seit fünf Jahren betreibe die Familie hier eine Pension für Rückkehrer aus Athen, Amerika und Australien, sagt Antonio.
Die Vertreibungspolitik endete in den 1990ern, sagt Antonio, doch trauten die Vertriebenen dem Frieden lang nicht. 2013 aber machte eine griechische Schule auf Imbros auf. Das hatte Laki Vingas durchgesetzt, ein griechischstämmiger Unternehmer, der dafür in Ankara Klinken geputzt hatte. „Ich hab das bewusst in Ankara getan, nicht in Brüssel, Athen oder Berlin“, erzählt er. „Ich habe mich nicht ans Ausland gewandt, um unser Recht einzufordern, sondern ging in Ankara von Tür zu Tür und habe die Behörden zu überzeugen versucht: Sind wir Bürger dieses Landes oder nicht, habe ich gesagt.“
Er fand Gehör. Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ hat weniger Vorbehalte gegen die christliche Minderheit als ihre kemalistischen Vorgänger. So bekamen christliche Gemeinden unter der AKP zumindest einen Teil des Besitzes zurück, der ihnen zuvor entzogen worden war. Erdogan˘ persönlich legte heuer den Grundstein für die erste neue Kirche in der Türkei seit Gründung der Republik 1923.
Ein Neuanfang mit Kindern. Die griechische Grundschule wurde seither um Kindergarten, Mittelschule und Gymnasium erweitert, heute sind fast 50 Kinder von Rückkehrern dort. Tendenz steigend. Mit den Kindern kamen natürlich die Familien. Dimitris Yorgiu (45) zählte mit Frau und vier Kindern zu den ersten Rückkehrern. Er sah wegen der Wirtschaftskrise in Griechenland keine Zukunft und hat jetzt ein Lokal in Panagia, dem größten Ort der Insel. Ein Wagnis sei es natürlich schon gewesen. „Wir haben das erste griechische Geschäft hier seit 49 Jahren gegründet, und die Behörden haben uns unterstützt“, erzählt er. „Der Bürgermeister sagte, dass die Insel uns und unsere Kultur braucht.“
Die Familie hat neue Wurzeln geschlagen und ist nicht allein: Mehr als 500 Griechen leben wieder auf Imbros. Dutzende Kirchen wurden restauriert, in den Dörfern läuten wieder die Glocken, zweimal im Jahr kommt der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, der selbst aus Imbros stammt.
In Agridia gibt es wieder ein griechisches Kafenion am Dorfplatz, wo Rückwanderer nach einem halben Jahrhundert beim starken, schwarzen Kaffee zusammensitzen. Der 58-jährige Niko erzählt von einem Leben in der Fremde, seit er als Kind gehen musste, weil die Schule geschlossen worden war. Fast 50 Jahre war er fort, 20 davon hat er in deutschen Fabriken gearbeitet. Sein Auto hat immer noch ein deutsches Kennzeichen.
„Ich habe meine türkische Staatsbürgerschaft zurückbekommen, die ich durch die Abwesenheit verloren hatte. Das ging problemlos“, sagt er. „Auch unser Haus wurde mir zügig überschrieben.“Nach einem halben Jahrhundert in der Fremde lebt Niko jetzt also wieder in seinem Elternhaus in Agridia.
von fast 10.000 Griechen auf Imbros um 1900 herum waren anno 2000 kaum 250 übrig.