Die Presse am Sonntag

Eine britische Seele im Exil

Für ihr drittes Album ließ sich Charli XCX von exaltierte­n Personen inspiriere­n und (fürs Video) an eine Limousine fesseln. Ein Interview über Erfolg, Euphorie und Los Angeles.

- VON SAMIR H. KÖCK

Charlotte Emma Aitchison, wie Charli XCX mit bürgerlich­em Namen heißt, verfügt über die Gabe, das nervöse Hochgefühl der Generation „Party“auf den Punkt zu bringen. Sie schrieb Welthits wie „Fancy“(für Iggy Azalea) und „I Love It“(für Icona Pop), in denen sie Krawall und zuckersüße Popmelodik vermählte. Auf ihren eigenen Alben, von denen das nun erschienen­e „Charli“das dritte ist, werden Gegensätze noch krasser kultiviert. Sie flirtet mit dem Popstardas­ein, mag aber von der rauen Ästhetik des Rave nicht lassen.

Der Ohrwurm „Gone“ist bestes Beispiel dafür. Frostige Synth-Beats führen in ein Gefühlscha­os, das von widersprüc­hlichen Emotionen geprägt ist. „They’re making me weird baby, lately, I feel so unstable, fucking hate these people“, klagt sie, um danach per Refrain die Welt zu umarmen. Aber nur musikalisc­h. Während sie über düstere Fragen wie „Why do we love, if we’re so mistaken? Why do we leave, when the chase is done?“grübelt, erklingt eine unwiderste­hliche Melodie. „Don’t search me in here, I’m already gone, baby“, bescheidet sie dem Lover schroff. Die euphorisie­rende Melodie läuft hier dem Inhalt davon.

Das zugehörige Video bringt eine weitere Ebene ins Spiel, Charli XCX’ innige Beziehung zur LGBTQ+-Szene. Beinah all ihre Gäste entstammen dieser Subkultur. Pabllo Vittar ist eine Drag-Queen, Kim Petras transsexue­ll und Helo´¨ıse Letissier, mit der Charli XCX den Kracher „Gone“singt, begreift sich als nichtbinär und pansexuell. Für die Visualisie­rung zwängte sich Charli XCX in eine Art Goth-Sado-Maso-Kostüm, ließ sich mit grobem Tau an eine Mercedes-Luxuslimou­sine fesseln und muss so Wind, Regen, Feuersbrün­ste aushalten. In Zwischensc­hnitten werden wüste Tanzduette und Schreiduel­le mit der herben Helo´¨ıse Letissier von Christine & The Queens gegeben.

„Das Video zu drehen war körperlich total fordernd. Helo´¨ıse ist ja eine trainierte Tänzerin. Ich musste mich ganz schön bemühen, um da mithalten zu können. Was ich daran liebe, ist, dass es keine Choreograf­ie gab. Unsere Tänze waren pure Improvisat­ion. Sie zeigen unserer Reaktion aufeinande­r“, schwärmt sie. Nachsatz: „Helo´¨ıse hat einen ganz eigenen Blick auf Popmusik. Total fasziniere­nd fand ich ihr großes Selbstbewu­sstsein bezüglich Ästhetik. Sie traut sich wirklich was.“Derlei Kompliment­e kommen auch zurück. Letissier bestätigte in einem Interview mit dem Magazin „i-D“, dass Charlis Mischung aus Experiment und Ohrwurm-Pop „deeply queer“sei. Wohl auch hinsichtli­ch ihrer Texte, die meist von Entfremdun­g und Verlorenhe­it handeln, obwohl die Musik nicht selten brutal partyhaft klingt.

Von einer Absicht, sich die Gäste des Albums nach der Exotik ihrer Sexualität auszusuche­n, will Charli XCX nichts wissen. „Ich liebe einfach ihre exaltierte­n Persönlich­keiten. Die inspiriere­n mich zu Höchstleis­tungen.“Ihre Vorstellun­g von einem perfekten Popsong ist klar: „Er muss Euphorie auslösen. Einzig darum geht es. Um eine Hochstimmu­ng, die erleuchtet und verbindet.“Die alte Theorie, dass unsere Emotionen die chemischen Reaktionen auf die Krisen des Lebens sein könnten, hält sie für einleuchte­nd. Sie will die zuweilen trägen Gefühle mit rumpeliger Darkwave-Electro-Pop-Attitüde befeuern. „Manchmal müssen Dynamik und Schwung eben von außen eingebrach­t werden.“

„Hits müssen passieren.“Den Druck, den ihr die Musikindus­trie macht, akzeptiert sie: „Das ist halt das Los, wenn man erfolgreic­he Songs geschriebe­n hat. Dann erwarten sich die Plattenfir­menleute, dass das ewig so weitergeht. Aber ich würde niemals meine künstleris­che Integrität verletzen, um zu versuchen, einen Hit zu schreiben. Hits müssen passieren.“Und so hat sie sich für ihr Album „Charli“nicht einmal ein Konzept ersonnen. „Ich bin eine spontane Liederschr­eiberin. Ich meditiere nicht vor dem Kompositio­nsvorgang. Falls Außenstehe­nde eine verbindend­e Idee zu erkennen glauben, dann hat diese mein Unbewusste­s geschaffen“, lacht sie – und sagt dann doch noch, dass die neuen Lieder viel von ihrer Psyche widerspieg­eln. In „White Mercedes“flirtet sie mit toxischen Metaphern und tändelt mit der Bindungsun­willigkeit des Party Girls. „I take all these blue and yellow pills, but nothing seems to last like you. You’re chasing after something you’ll never catch.“Das hat Tradition. In „Boom Clap“, ihrem ersten Top-10-Hit unter eigenem Namen, hieß es schon: „First kiss just like a drug. Under your influence you take me over. You’re the magic in my veins. This must be love.“

Auch Geschwindi­gkeit wird von ihr als rauschhaft erlebt. Ihre Protagonis­tin in „White Mercedes“ist zu schnell für ihre Verehrer, aber ideal dafür, ihren Status der Ungebunden­heit weiterhin zu pflegen. „Like a white Mercedes always been running too fast“, jubiliert Charli XCX da. Die von Bewegungen wie „Fridays for Future“moralisch gebrandmar­kte Automobili­ndustrie wird es ihr wohl still danken, dass sie an die Feinstaub-Poesie früherer Pop-Dekaden anschließt, die die schönen, amerikanis­chen Straßen und die darauf flitzenden Automobile überhöhten.

Wüste Tanzduette und Schreiduel­le mit der herben H´elo¨ıse Letissier. »Einheimisc­he kenne ich kaum, das bewahrt mir eine Außenseite­rperspekti­ve.«

Die Britin Charli XCX lebt schon einige Jahre in Los Angeles. So richtig ankommen will sie dort aber nicht. „Nun, ich habe eine Art Filter“, verrät sie. „Ich lebe mit zwei Leuten aus England. Wir pflegen britische Gebräuche. Auch mit exilierten Schweden unternehme ich viel. Einheimisc­he kenne ich kaum, was den Vorteil hat, dass ich mir eine Außenpersp­ektive bewahren kann, die mich bei der Arbeit voranbring­t.“Businesska­lkül oder britische Hybris? Wer weiß. Über einen Kommentar unter dem kämpferisc­hen Video von „Gone“konnte sie jedenfalls lachen. Er lautete: „So stelle ich mir die Brexit-Austrittsv­erhandlung­en von EU und UK vor.“Schwarz ist er, der britische Humor.

 ?? Warner Music ?? Hat schon einige Welthits komponiert: Charlotte Emma Aitchison, die sich Charli XCX nennt.
Warner Music Hat schon einige Welthits komponiert: Charlotte Emma Aitchison, die sich Charli XCX nennt.

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