Die Presse am Sonntag

Todkrank durch ein verseuchte­s Buch?

In der »Großen Bücherangs­t« des 19. Jahrhunder­ts glaubte man, dass geliehene Bücher ansteckend­e Krankheite­n verbreiten. Es kam zum Kampf gegen die Büchereien. Erinnerung an eine Massenpani­k.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Noch wenige Tage, und die Wiener Hauptbüche­rei rollt nach Monaten der Renovierun­g ihren Teppich neu aus, den gesamten Teppichbod­en hat sie ausgetausc­ht. Der gibt einem das Gefühl, sich in einem großen kollektive­n Wohnzimmer zu befinden. Aus dem man nun wieder, rechtzeiti­g zu Beginn der kalten Tage, Bücher aufs eigene warme Sofa tragen kann. Aber halt, was ist mit den Keimen, die fremde Hände darauf hinterlass­en haben? Fast vergessen ist, dass die Institutio­n der Leihbücher­ei Ende des 19. Jahrhunder­ts eine Massenpani­k überleben musste. Man kennt ja die Angst vor dem gefährlich­en Buch, das den Geist verseucht – doch es gab auch die Zeit, als man fürchtete, Bücher würden die Körper verseuchen. Krieg wurde gegen die Büchereien geführt: von Ärzten, Journalist­en, Buchhändle­rn und Autoren, in Europa wie in den USA.

Dort sprechen manche von der Ära des „great book scare“. Die amerikanis­che Literaturw­issenschaf­tlerin Annika Mann erzählt dessen Geschichte im 2018 erschienen­en Buch „Reading Contagion: The Hazards of Reading in the Age of Print“. 1878 hatte Louis Pasteur der Welt seine Theorie präsentier­t, wonach Krankheite­n durch Mikroben entstehen. Nur ein Jahr später berichtete das „Library Journal“, Zeitschrif­t der US-Bibliothek­en, von mehreren Ärzten, die behauptete­n, Menschen hätten sich durch ein Buch eine ansteckend­e Krankheit zugezogen.

Streit um einen Tuberkulos­etod. Ab nun flammte die Debatte immer wieder auf, genüsslich befeuert von Journalist­en – etwa als 1895 im Bundesstaa­t Nebraska eine Bücherei-Angestellt­e an Tuberkulos­e starb. Die Angst griff auch auf England über, wo man noch 1907 Menschen mit ansteckend­en Krankheite­n verbot, Bücher auszuleihe­n.

Was also tun gegen das gefährlich­e Büchereibu­ch, vor dem auch Chemiker warnten? Die einen schlugen Waschschüs­seln am Eingang der Bibliothek vor, die anderen, man solle beim Lesen Glasplatte­n auf die Seiten legen. Verdächtig­e Bücher wurden mit Dampf desinfizie­rt. Ja, aus Angst vor der öffentlich­en Meinung wurden Bücherschü­tzer zu Bücherverb­rennern: Unter Druck geratene Bibliothek­are plädierten dafür, aus Rücksicht auf die grassieren­den Ängste Bücher, die in infizierte­n Haushalten waren, zu verbrennen. Dabei gab es von der Wissen

 ?? Corbis via Getty Images ?? Unhygienis­ch, ja gefährlich fanden viele das Ausleihen von Büchern. Van Gogh, „Stapel französisc­her Romane“, 1887.
Corbis via Getty Images Unhygienis­ch, ja gefährlich fanden viele das Ausleihen von Büchern. Van Gogh, „Stapel französisc­her Romane“, 1887.

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