Wie wir gerade unsere Handschrift verlieren
Es ist traurig, wenn eine alte und vertraute Kulturtechnik verschwindet. Derzeit geht gerade etwas verloren, was immer einen Teil menschlicher Individualität ausgemacht hat: die Handschrift, das Schreiben mit der Hand. Mit Stift auf Papier. Eine Verlustan
Wann haben Sie zuletzt mit der Hand, also ohne die Tastatur eines digitalen Mediums, einen längeren Text geschrieben? Wenn Sie im Berufsleben stehen und nicht zur Minorität der Tagebuch- oder Briefschreiber gehören, vermutlich schon lang nicht. Und wenn Sie es dann doch angehen: Entsteht da nicht das Gefühl, ungelenk geworden zu sein, zu fremdeln mit den fast ein ganzes Leben lang hindurch ausgeübten Bewegungen? Ist diese Erfahrung nicht betrüblich? Bedeutet es nicht den Verlust von etwas, was wir seit der Schulzeit als Teil unserer Individualität betrachteten? Und haben wir nicht ein ungutes Gefühl, wenn wir in der Schuldiskussion ständig von „reinen Laptop-Klassen“hören?
Wenn die Geschichte unserer Zivilisation in den vergangenen vier Jahrtausenden wie oft behauptet eine Geschichte des geschriebenen Wortes ist, was erleben wir denn da gerade? In einer geschriebenen Welt leben wir unbestreitbar noch, ohne die Errungenschaft des Alphabets und die Kunstfertigkeit des Verfassens von Texten wären auch digitale Medien nicht möglich. Und in manchem ähneln wir heute beim Lesen mehr denn je unseren Vorfahren aus der Zeit der Papyrusrollen. Sie lesen diesen Text vielleicht auf raschelndem Papier, vielleicht aber auch auf einem Bildschirm, wo wieder von oben nach unten gescrollt wird. Das hat weniger mit Buchseiten gemeinsam als mit den Schriftrollen der Antike. Auch unsere Körperhaltung beim Tippen auf einem Tablet ähnelt dem der antiken Schreiber: Oft sitzen wir im „Schneidersitz“am Boden, über die Tafel auf unserem Schoß gebeugt.
Die Magie der Tontafel. Doch was wir im Vergleich zu unseren Vorfahren gerade verlernen, sind die kognitiven und motorischen Fähigkeiten, die mit dem Schreiben mit Stift auf Papier zusammenhängen. Welche handschriftlichen Spuren werden von uns übrig bleiben? „Zauber der Schrift“nennt sich ein neues Buch aus dem Taschen-Verlag, es erzählt von der Magie handgeschriebener Seiten, sie stammen von berühmten Menschen wie Königin Elisa
Zauber der Schrift. Autografen aus neun Jahrhunderten − die Sammlung von Pedro Corrˆea do Lago
Der Band präsentiert 140 handschriftliche Dokumente berühmter Persönlichkeiten aus neun Jahrhunderten, von mittelalterlichen Päpsten bis Frida Kahlo und Albert Einstein. Geschichte und Einblicke in eine intime Welt anhand von persönlichen Schriftzügen.
Taschen-Verlag, 30 Euro, 464 Seiten beth I., Marie Antoinette, Isaac Newton oder Marcel Proust. Sie sind manchmal schwer entzifferbar, immer aber beschwören sie den Menschen herauf, der einmal das Papier beschrieben hat, in seiner Euphorie, auch in seiner Not und Verzweiflung.
Irgendwo in den Gewölben der Schøyen Collection in London liegt eine sumerische Tontafel aus dem Jahr 3100 vor Christus mit einer Auflistung aller 41 Titel und Berufe der Zeit. Sie ist auf der Rückseite von einem Schreiber namens Gar Ama signiert worden und somit der früheste bekannte Beweis für das Schreiben in Verbindung mit einem Individuum. Gar Ama, von dem wir gar nichts sonst wissen, hat hier unbewusst mit seiner Unterschrift die Rolle des Individuums festgelegt. Mit dem Auftauchen der Signatur war es weitgehend zu Ende mit der blinden Anonymität, die persönliche Markierung wurde zur einfachsten Form der Sicherung eines Vermächtnisses. Man übt sie, wiederholt sie, so wird sie unauslöschlich, etwas Einzigartiges, leicht zu identifizieren und unnachahmbar.
Im antiken Griechenland verehrte man die Manuskripte wichtiger Schriftsteller als Schätze und kulturelles Erbe. Die Bibliothek von Alexandria wurde zur größten Sammlung originaler Handschriften, ihr Brand trug dazu bei, dass uns heute die Originalmanuskripte aus der Antike fehlen. Was würden Sammler oder Museen für eine Originalhandschrift von Aristoteles bezahlen? So kam es, dass die handschriftlichen Dokumente eine besondere Magie ausüben, „jene Glücksgefühle, Seufzer der Traurigkeit, Liebeskrämpfe, Flammen der Rebellion“, die ein Verehrer von Giacomo Puccini in einem Manuskript des Komponisten entdeckte.
1907 schrieb der 25-jährige Stefan Zweig einen langen Brief an den von ihm verehrten Rainer Maria Rilke, er schloss mit einer kühnen Bitte: „Ich möchte Sie um ein kostbares Geschenk
Handschriften beschwören den Menschen herauf, der das Papier einst beschrieben hat.
bitten, um das Manuskript eines Ihrer Versbücher.“Und er setzte fort: „Wie froh wäre ich, ein Werk von Ihnen zu behüten: Es könnte vielleicht in bessere, aber kaum in sorgsamere Hände gelangen. Ich weiß, ich verlange sehr viel, denn ich kenne den Zauber der Schrift, ich weiß, dass man mit der Handschrift eines Buches nicht nur schenkt, sondern auch ein Geheimnis verrät.“Er bekam seinen Wunsch erfüllt. Rilke sandte ihm ein Manuskript seines „Cornet“, ordentlich eingewickelt in