Die Presse am Sonntag

Wie wir gerade unsere Handschrif­t verlieren

Es ist traurig, wenn eine alte und vertraute Kulturtech­nik verschwind­et. Derzeit geht gerade etwas verloren, was immer einen Teil menschlich­er Individual­ität ausgemacht hat: die Handschrif­t, das Schreiben mit der Hand. Mit Stift auf Papier. Eine Verlustan

- VON GÜNTHER HALLER

Wann haben Sie zuletzt mit der Hand, also ohne die Tastatur eines digitalen Mediums, einen längeren Text geschriebe­n? Wenn Sie im Berufslebe­n stehen und nicht zur Minorität der Tagebuch- oder Briefschre­iber gehören, vermutlich schon lang nicht. Und wenn Sie es dann doch angehen: Entsteht da nicht das Gefühl, ungelenk geworden zu sein, zu fremdeln mit den fast ein ganzes Leben lang hindurch ausgeübten Bewegungen? Ist diese Erfahrung nicht betrüblich? Bedeutet es nicht den Verlust von etwas, was wir seit der Schulzeit als Teil unserer Individual­ität betrachtet­en? Und haben wir nicht ein ungutes Gefühl, wenn wir in der Schuldisku­ssion ständig von „reinen Laptop-Klassen“hören?

Wenn die Geschichte unserer Zivilisati­on in den vergangene­n vier Jahrtausen­den wie oft behauptet eine Geschichte des geschriebe­nen Wortes ist, was erleben wir denn da gerade? In einer geschriebe­nen Welt leben wir unbestreit­bar noch, ohne die Errungensc­haft des Alphabets und die Kunstferti­gkeit des Verfassens von Texten wären auch digitale Medien nicht möglich. Und in manchem ähneln wir heute beim Lesen mehr denn je unseren Vorfahren aus der Zeit der Papyrusrol­len. Sie lesen diesen Text vielleicht auf raschelnde­m Papier, vielleicht aber auch auf einem Bildschirm, wo wieder von oben nach unten gescrollt wird. Das hat weniger mit Buchseiten gemeinsam als mit den Schriftrol­len der Antike. Auch unsere Körperhalt­ung beim Tippen auf einem Tablet ähnelt dem der antiken Schreiber: Oft sitzen wir im „Schneiders­itz“am Boden, über die Tafel auf unserem Schoß gebeugt.

Die Magie der Tontafel. Doch was wir im Vergleich zu unseren Vorfahren gerade verlernen, sind die kognitiven und motorische­n Fähigkeite­n, die mit dem Schreiben mit Stift auf Papier zusammenhä­ngen. Welche handschrif­tlichen Spuren werden von uns übrig bleiben? „Zauber der Schrift“nennt sich ein neues Buch aus dem Taschen-Verlag, es erzählt von der Magie handgeschr­iebener Seiten, sie stammen von berühmten Menschen wie Königin Elisa

Zauber der Schrift. Autografen aus neun Jahrhunder­ten − die Sammlung von Pedro Corrˆea do Lago

Der Band präsentier­t 140 handschrif­tliche Dokumente berühmter Persönlich­keiten aus neun Jahrhunder­ten, von mittelalte­rlichen Päpsten bis Frida Kahlo und Albert Einstein. Geschichte und Einblicke in eine intime Welt anhand von persönlich­en Schriftzüg­en.

Taschen-Verlag, 30 Euro, 464 Seiten beth I., Marie Antoinette, Isaac Newton oder Marcel Proust. Sie sind manchmal schwer entzifferb­ar, immer aber beschwören sie den Menschen herauf, der einmal das Papier beschriebe­n hat, in seiner Euphorie, auch in seiner Not und Verzweiflu­ng.

Irgendwo in den Gewölben der Schøyen Collection in London liegt eine sumerische Tontafel aus dem Jahr 3100 vor Christus mit einer Auflistung aller 41 Titel und Berufe der Zeit. Sie ist auf der Rückseite von einem Schreiber namens Gar Ama signiert worden und somit der früheste bekannte Beweis für das Schreiben in Verbindung mit einem Individuum. Gar Ama, von dem wir gar nichts sonst wissen, hat hier unbewusst mit seiner Unterschri­ft die Rolle des Individuum­s festgelegt. Mit dem Auftauchen der Signatur war es weitgehend zu Ende mit der blinden Anonymität, die persönlich­e Markierung wurde zur einfachste­n Form der Sicherung eines Vermächtni­sses. Man übt sie, wiederholt sie, so wird sie unauslösch­lich, etwas Einzigarti­ges, leicht zu identifizi­eren und unnachahmb­ar.

Im antiken Griechenla­nd verehrte man die Manuskript­e wichtiger Schriftste­ller als Schätze und kulturelle­s Erbe. Die Bibliothek von Alexandria wurde zur größten Sammlung originaler Handschrif­ten, ihr Brand trug dazu bei, dass uns heute die Originalma­nuskripte aus der Antike fehlen. Was würden Sammler oder Museen für eine Originalha­ndschrift von Aristotele­s bezahlen? So kam es, dass die handschrif­tlichen Dokumente eine besondere Magie ausüben, „jene Glücksgefü­hle, Seufzer der Traurigkei­t, Liebeskräm­pfe, Flammen der Rebellion“, die ein Verehrer von Giacomo Puccini in einem Manuskript des Komponiste­n entdeckte.

1907 schrieb der 25-jährige Stefan Zweig einen langen Brief an den von ihm verehrten Rainer Maria Rilke, er schloss mit einer kühnen Bitte: „Ich möchte Sie um ein kostbares Geschenk

Handschrif­ten beschwören den Menschen herauf, der das Papier einst beschriebe­n hat.

bitten, um das Manuskript eines Ihrer Versbücher.“Und er setzte fort: „Wie froh wäre ich, ein Werk von Ihnen zu behüten: Es könnte vielleicht in bessere, aber kaum in sorgsamere Hände gelangen. Ich weiß, ich verlange sehr viel, denn ich kenne den Zauber der Schrift, ich weiß, dass man mit der Handschrif­t eines Buches nicht nur schenkt, sondern auch ein Geheimnis verrät.“Er bekam seinen Wunsch erfüllt. Rilke sandte ihm ein Manuskript seines „Cornet“, ordentlich eingewicke­lt in

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria