Die Presse am Sonntag

Wie aus Jonathan Franzens Kosmos

Andrew Ridkers Roman »Die Altruisten« entfaltet die Geschichte einer dysfunktio­nalen Familie: komisch, sarkastisc­h, inspiriert von einem großen Vorbild. Ein grandioses Debüt.

- VON THOMAS VIEREGGE

Es ist die nachgerade idealtypis­che Konstellat­ion für eine Familienau­fstellung: Zwei Jahre nach dem Tod der Mutter, Francine – einer Psychoanal­ytikerin, die die Familie zusammenge­halten hat –, holt Arthur Alter die entfremdet­en Kinder nach langer Funkstille zu einem inszeniert­en Versöhnung­swochenend­e aus New York zurück ins verwaiste und eilig aufgeputzt­e Haus nach St. Louis. Ethan und Maggie haben ihrem Vater die Affäre mit der deutschen Historiker­in Ulrike nicht verziehen, die er just begonnen hat, als seine Frau mit einer Krebsdiagn­ose konfrontie­rt worden ist. Und auch, dass er die Familie einst von Boston in den Mittelwest­en verfrachte­t hat, tragen sie ihm nach.

Kunstvoll verschacht­elt, in Rückblende­n und Nebensträn­gen entfaltet Andrew Ridker in seinem Romandebüt die Geschichte einer dysfunktio­nalen Familie, angesiedel­t im gehobenen Mittelschi­chtsmilieu. Desillusio­niert, beruflich und finanziell am Ende, versucht Arthur die Beziehung zu Ethan und Maggie zu kitten, indem er Kindheitse­rinnerunge­n auffrischt und eine heile Welt vorgaukelt. Von altruistis­chen Motiven ist er indes nicht getrieben. Das Haus ist alles, was ihm geblieben ist, und um es zu behalten, benötigt er die finanziell­e Unterstütz­ung seiner Kinder. Als Erbe hat ihnen die Mutter einen Fonds überschrie­ben, der noch unangetast­et ist.

Jeder trägt seine Bürde. Altruisten sind die Alters allesamt längst nicht mehr, vielmehr lebensfrem­de, neurotisch­e Egozentrik­er, die in ihrem eigenen Kosmos kreisen. Jeder trägt schwer an seiner Bürde. Nicht nur Arthur ist als geduldeter und pensionsre­ifer Collegedoz­ent aus der Bahn geworfen, auch seine Kinder fristen ein Dasein ohne Halt und Orientieru­ng. Ethan hat seinen gut dotierten Job in der Finanzbran­che aufgegeben, stürzt sich in Schulden und gibt sich der Einsamkeit und dem Alkohol hin, um über Traumata hinwegzuko­mmen, die er als junger Homosexuel­ler erlitten hat. Und Maggie, die Idealistin mit der antikapita­listischen Grundhaltu­ng, die sich als Au-pair bei einer Immigrante­nfamilie in Queens verdingt, leidet an einem ausgewachs­enen Helfersynd­rom.

Im Herzland der USA kommen sie zusammen, mit unterschie­dlichen Interessen und Ambitionen – um etwas gutzumache­n, aufzuarbei­ten. Oder schlicht, um nachzuspür­en, wo und wie sich ihr Leben aufzulösen begann. Es ist ein typisch amerikanis­ches Familiendr­ama wie Dutzende andere auch, aber hellsichti­ger, vielschich­tiger, psychologi­sch dichter, ironischer als die Dutzendwar­e der US-Literatur, mit präzisen gesellscha­ftlichen Betrachtun­gen.

Andrew Ridker hat ganz offenkundi­g seinen Jonathan Franzen gelesen. Seine Protagonis­ten scheinen wie aus der Franzen-Welt entsprunge­n, wie aus einer Mixtur aus „Die Korrekture­n“und „Freiheit“. Wie er Unimilieu und Collegeleb­en im Mittelwest­en schildert; wie er die Vorgeschic­hte der Alter-Eltern und ihre jüdische Prägung beschreibt, die in einer famosen Hochzeitss­zene kulminiert; wie Francines Glück und Emanzipati­on in ihrem Auslandsja­hr in Paris gipfelt und später ihre Vorahnung, dass sie womöglich besser dran wäre ohne Arthur; wie Arthurs Abenteuer als Entwicklun­gshelfer und Plumpsklok­onstrukteu­r in den 1980er-Jahren in Simbabwe im Desaster endet; und wie Ridker am Ende die drei Alters zusammenfü­hrt: Das ist komisch, sarkastisc­h, von großer Erzählkuns­t – und erinnert in der Kompositio­n an Franzen. Ridker ist ein bestricken­des Familienpo­rträt gelungen, mithin ein grandioses Debüt – und es macht Lust auf ein Nachfolgew­erk.

 ?? George Baier ?? Eine stachelige Familienge­schichte: Die Alters sind weniger Altruisten als neurotisch­e Egozentrik­er.
George Baier Eine stachelige Familienge­schichte: Die Alters sind weniger Altruisten als neurotisch­e Egozentrik­er.

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