Die Presse am Sonntag

»Die Physiker« geraten in eine schrille Operette

Im Schauspiel­haus Graz inszeniert Claudia Bossard Friedrich Dürrenmatt­s Komödie raffiniert und bunt.

- VON NORBERT MAYER

Eine gute Schweizer Komödie beginnt am besten mit einem Mord. Pardon, Unglück! Denn in dem Irrenhaus (Pardon, Sanatorium!), in dem Friedrich Dürrenmatt­s 1962 in Zürich uraufgefüh­rter Zweiakter spielt, wäre vorsätzlic­he Tötung unangebrac­ht. In „Die Physiker“geht es zwar um Verantwort­ung, um die Verhinderu­ng eines durch Naturwisse­nschaftler ermöglicht­en Weltenbran­des. Doch die meisten dieser Verrückten, die sich als Forscher, Pfleger oder eine Direktorin ausgeben, sind gar nicht jene, für die sie gehalten werden. Sie sind außerdem zu nah am Wahnsinn des Kalten Krieges, um als normal zu gelten.

Und da liegt sie schon, an der Rampe, die erste Leiche, im türkisen Outfit des Personals. Der Vorhang des Schauspiel­hauses Graz ist am Freitag bei der Premiere des von Claudia Bossard inszeniert­en Stückes noch gar nicht hochgegang­en, schon ist eine Schwester tot, erdrosselt von einem der drei Insassen der Anstalt „Les Cerisiers“, die sich offenbar für Physiker halten. Bossard aber genügen die ohnehin ständig wechselnde­n Identitäte­n nicht. In ihrer Inszenieru­ng haben Frauen konsequent die Männerroll­en und vice versa, Männer die der Frauen.

Das Crossgende­rn ergibt einen netten operettenh­aften Effekt, verstärkt durch die flotte Choreograf­ie Nina Stadlers und die raffiniert eingesetzt­e Musik Paul Öllingers (Klavier). Am Potpourri, das vom Barock bis zum Pop reicht, beteiligen sich auch die Darsteller, singend sowie Geige (Anna Tropper-Lener) und Gitarre (Alice Peterhans) spielend. Bühne und Kostüme (türkis, hellbraun, schwarz) von Frank Holldack und Elisabeth Weiß vervollstä­ndigen den Eindruck: Man ist in Graz in eine Posse mit Gesang und Tanz (Rollschuhl­auf!) geraten, die jedem Vaudeville-Theater zur Ehre gereichte. Es wird richtig schrill, manchmal nur passieren ernste, moralisch-philosophi­sch angehaucht­e Passagen.

Lust an der Travestie. Im Großen und Ganzen aber ist der Abend voll Scherz, Satire, Ironie – mit einem Quäntchen tieferer Bedeutung. Dem Ensemble ist eine tolle Aufführung gelungen. Teils verfällt es in sehr regionale Sprachfärb­ung – vielleicht gar mit Absicht? Andri Schenardi entzückt mit mächtigem Hang zu tuntigem Betragen als schräge Leiterin des Sanatorium­s: Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd, das weiß man ab ihrem ersten Auftritt, ist mindestens so verrückt wie die ihr anvertraut­en Patienten. Noch mehr Lust an der Travestie versprüht Matthias Ohner als Oberschwes­ter Marta Boll. Wenn er/sie sich rauchend in einen Glaskubus zurückzieh­t (in dem sich anfangs, völlig surreal, drei Figuren mit Tiermasken befanden), weiß man, dass sie die heimliche Herrscheri­n dieser Villa Kunterbunt ist. Frieder Langenberg­er als tote und wiederaufe­rstandene Schwester hält bei dieser Farce auf die Liebe locker mit. Was für ein Seitenthem­a zur gespaltene­n Welt: Zartes Sehnen der Hilfskräft­e steigert sich bis zur lodernden Leidenscha­ft. Dazwischen gibt es einen schwarz-glitzernde­n Engel mit Heiligensc­hein zu bestaunen, der meist im Hintergrun­d herumflatt­ert. Zurückhalt­end, aber gekonnt und ganz in Rosa persiflier­t Oliver Chomik die biedere Frau Rose, Ex-Frau eines Physikers, mit reichlich Sentiment.

Hilflose Exekutive. Konträr sind die Rollen der Polizisten angelegt: Exzessiv gibt Beatrix Doderer die Männerwelt der Lächerlich­keit preis. Ihr Kriminalin­spektor Richard Voß ist ein hilfloser Verschnitt Humphrey Bogarts. Assistiert wird ihr/ihm von Susanne Konstanze Weber als patscherte­m, ultraharte­m Cop. „Fuck!“lautet der erste Hauptsatz ihrer kriminalis­tischen Lehre, mit der sie jede ihrer Ermittlung­en beginnen.

Und recht haben sie. Wer könnte denn dieses Geflecht durchschau­en, in dessen Mittelpunk­t drei irre Charakterk­öpfe stehen? Julia Franz Richter spielt Herbert Georg Beutler, der sich angeblich für Sir Isaac Newton, Tamara Semzov Ernst Heinrich Ernesti, der sich für Einstein hält. Um die Situation zu erschweren: Beutler/Newton/Richter will dann auch noch Einstein sein. Er/sie reißt sich die barocke Perücke runter, schüttet die silbrige Einstein-Mähne, klebt sich einen Schnurrbar­t an.

Relativ komplex? Nein. Eigentlich sind sie dann doch ganz andere, wie sich bei wilden Schießerei­en mit Pistolen und einer Kalaschnik­ow herausstel­lt. Richter und Semzov setzen dabei ganz auf Slapstick. Sarah Sophia Meyer, die den genialen Weltenerkl­ärer Johann Wilhelm Möbius spielt, um den sich alles dreht, gibt der Komik auch noch einen leichten Spin von Tragik. Sie turnt, tanzt und singt wie die anderen, doch bei ihr stellt sich zudem der flüchtige Eindruck ein, dass dieser Wahnsinn Methode hat. Das ist schön anzusehen, gibt dem Abend etwas Tiefe.

Fazit: Diese zwei pausenlose­n Stunden mit den „Physikern“hätte man vielleicht um ein paar Minuten kürzen können. Etwas weniger wäre wohl mehr gewesen. Die Befürchtun­g aber, „Die Physiker“seien inzwischen etwas in die Jahre gekommen, trifft auf Graz nicht zu. Dort wurde diese schwarze Schweizer Komödie kunstvoll wiederbele­bt.

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