Die Presse am Sonntag

»Österreich ist eine Religion für mich«

Der Publizist Paul Lendvai erzählt, wie er als jüdischer Bub in Budapest dem Tod ins Auge sah, nach 1945 unter den Kommuniste­n früh Karriere machte und dann im Gefängnis landete. Er blickt zurück auf seine Flucht nach Österreich und seine Freundscha­ft mit

- VON CHRISTIAN ULTSCH

Andere hören irgendwann einmal auf, setzen sich zur Ruhe. Sie nicht. Woher nehmen Sie im Alter von 90 Jahren die Energie, um Bücher zu schreiben?

Paul Lendvai: Es klingt wie ein Witz, ich bin eigentlich 62 Jahre alt. Ich zähle die Jahre erst, seit ich in Wien bin. Ich verdanke diesem Land alles, habe nur Schönes hier erlebt. In Budapest wohne ich nur 300 Meter von dem Schutzhaus entfernt, in dem ich 1944 mit 50 Leuten in einer Zweizimmer­wohnung in Todesangst eingepferc­ht war. Und wenn ich 500 Meter weitergehe, muss ich mich an meine Verhaftung 1953 erinnern. Meine ersten 27 Jahre waren so unglaublic­h konzentrie­rt. Danach in Wien verhielt ich mich fast pubertär. Meine Energie rührt daher, dass ich mein schönes Leben so spät begann.

Sie mussten mit 15 Jahren den gelben Stern in Budapest tragen. Wie hat Sie dieses Erlebnis geprägt?

Das Schlimmste für mich war, von einem Tag auf den anderen nicht mehr als Mensch und Ungar zu gelten. Im Rückblick ist es interessan­t, wie ich diese furchtbare Zeit bewältigt habe.

Haben Sie die Erlebnisse verdrängt?

Viele haben auch nach ihrer Rückkehr aus Auschwitz nicht geredet. Ich blickte nicht zurück und engagierte mich nach dem Krieg als linker Sozialdemo­krat. Ich gehörte zu jenen Naiven, die halfen, die Sozialdemo­kraten zu begraben. Ich kam als Mittelschü­ler in den Kreis von Pal´ Justus. Er war ein linker Sozialdemo­krat, Denker und Dichter. 1949 wurde er im ersten großen Schauproze­ss zu lebenslang­er Haft verurteilt – wegen Trotzkismu­s. Vier Jahre später wurde dann ich verhaftet, ohne je ein Buch von Trotzki gelesen zu haben.

Bei Ihrer Verhaftung waren Sie schon Mitglied der kommunisti­schen Einheitspa­rtei. Glaubten Sie damals, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen?

Natürlich. Ich war nicht nur Mitglied. Ich schrieb mit 18 Jahren für ein Zentralorg­an, für „Szabad Nep“.´ Sieben Monate später flog ich raus, weil ich Sir Stafford Cripps als Außenminis­ter statt als Finanzmini­ster bezeichnet hatte. Ich war von der Typistin abgelenkt gewesen, die ich später heiratete.

Wegen eines solchen Fehlers schmeißt man doch niemanden raus.

Das war nur der Vorwand, um mich umzuerzieh­en. Ich war gebrochen. Ich stand auf der Straße, weinte und schrieb mir auf einem Zettel die Leute auf, die freundlich zu mir waren. Dann gab man mir einen Job bei der Nachrichte­nagentur MTI. Sechs Monate später wurde dort mein Chef verhaftet.

Hatten Sie Angst, auch in die Mühlen des stalinisti­schen Systems zu geraten?

Nein. Ich war jung, interessie­rte mich fürs Schreiben und für Frauen. Ich wollte meinen Militärdie­nst bei der Donaufloti­lle leisten, damit ich mich an Deck bräunen kann. Aber weil ich Parteimitg­lied war, schickten sie mich zur Miliz und zur Agitprop-Abteilung. Danach wurde ich verhaftet.

Sie waren acht Monate interniert. Sind Sie gefoltert worden?

Nein. Am schlimmste­n war nicht das Gefängnis, sondern die Ächtung nach meiner Freilassun­g. Einen Monat war ich noch in der MTI, dann wurde ich entlassen. Während dieser vier Wochen wagte niemand, mit mir zu reden. Ich hatte drei Jahre lang Berufsverb­ot.

Haben Sie je erfahren, was der Grund für die Verhaftung war?

1929

Paul Lendvai wird in Budapest als Sohn jüdischer Eltern geboren. Er überlebt in einem Schweizer Schutzhaus. Mit 18 wird er Journalist und Mitglied der kommunisti­schen MDP.

1953

Lendvai wird verhaftet und acht Monate interniert. Danach erhält er drei Jahre Berufsverb­ot.

1957

Lendvai flüchtet nach Wien, erhält 1959 die österreich­ische Staatsbürg­erschaft, schreibt für die „Presse“und von

1960 bis 1987 für die „Financial Times“. Ab 1982 leitet er die ORFOsteuro­pa-Redaktion, später Radio Österreich Internatio­nal. Er gibt die Europäisch­e Rundschau heraus und ist Autor zahlreiche­r Bücher. Paul Lendvai

Die verspielte Welt Ecowin-Verlag Ich wurde wohl aus Neid denunziert, weil ich jung Karriere gemacht hatte.

Warum haben Sie damals nicht mit dem System gebrochen?

Man konnte mit dem System nicht brechen, man war mittendrin. Ich kämpfte für meine Rehabiliti­erung, um zu überleben und wieder als Journalist arbeiten zu können.

Machen Sie sich Vorwürfe, als Journalist das KP-Lügengebäu­de mit aufgebaut zu haben? Ja, immer noch. Als ich später las, was ich geschriebe­n hatte – lächerlich!

Nach Ihrer Rehabiliti­erung waren Sie außenpolit­ischer Ressortlei­ter. Warum entschloss­en Sie sich, nach Österreich zu gehen?

Am ersten Tag meiner Arbeit bei der Zeitung „Esti H´ırlap“brach 1956 der Aufstand in Ungarn aus. Die Hoffnung auf Reformen starb schnell. Verändert hat mein Leben eine Einladung der Zeitung „Trybuna Ludu“nach Polen.

Entschiede­n Sie sich erst in Warschau, sich nach Österreich abzusetzen?

Ja. In Warschau erfuhr ich von der Verhaftung des ungarische­n Ministerpr­äsidenten Imre Nagy, von Todesstraf­en. Ich habe mir gedacht, es ist schrecklic­h in Ungarn, umso mehr nach Gesprächen mit internatio­nalen Journalist­en wie Hugo Portisch in Warschau. Über einen blöden Umweg nach Prag flog ich in die Freiheit und kam mit einem geliehenen Koffer und einem langen gebrauchte­n Wintermant­el am 4. Februar 1957 in Wien an.

Schrieben Sie in den ersten Jahren in Wien unter Pseudonyme­n, weil Sie Repressali­en gegen Ihre Eltern in Budapest befürchtet­en? Natürlich, mein Vater wurde später aus dem Anwaltsver­band ausgeschlo­ssen. Das Dümmste war, dass ich meine ersten Artikel in der „Presse“unter einem ungarische­n Namen verfasste: György Hollo.´ Die Ungarn wussten im Nu, wer sich dahinter verbarg.

Wie erklären Sie sich, dass Sie in Akten des ungarische­n Nachrichte­ndiensts unter dem Codenamen Michael Cole auftauchen?

Ich habe das 2006 im Archiv des ungarische­n Innenminis­teriums selbst recherchie­rt und in dem Artikel „Michael Coles Glück und Ende oder die Geschichte einer gescheiter­ten Anwerbung“beschriebe­n. Das Orban-´Regime hat das später gegen mich verwendet und mich als Freund des KP-Regimes denunziert. Absurd.

Warum wurden Sie im Akt als einer der besten Kontakte des ungarische­n Nachrichte­ndienstes in Wien bezeichnet?

Der Mann, der über mich berichtete, log und erfand Unglaublic­hes. Bereits 1965 hat der damalige ungarische Innenminis­ter an alle osteuropäi­schen Staaten geschriebe­n, dass Paul Lendvai, Korrespond­ent der „Tat“in Zürich, der „Presse“in Wien und der „Financial Times“in London der gefährlich­ste westliche Korrespond­ent sei. Und deshalb konnte ich nirgendwoh­in reisen, nur nach Jugoslawie­n. So wurde ich Balkan-Experte.

Wann waren Sie erstmals wieder in Ungarn? 1963 oder 1964 begleitete ich Bruno Kreisky, damals Außenminis­ter, nach Budapest. Ab 1966 habe ich vier Jahre lang kein Visum bekommen.

Wie entstand Ihr Nahverhält­nis zu Kreisky? Ich habe mit Karl-Heinz Ritschel, Chefredakt­eur der „Salzburger Nachrichte­n“, die erste Kreisky-Biografie geschriebe­n. Kreisky hat mich geschätzt. 1968 hat er mich gebeten, an seiner Stelle zum Bilderberg-Treffen nach Kanada zu fahren. Eine unglaublic­he Geschichte. Natürlich half es ihm, dass der „Financial Times“-Korrespond­ent große . . . was einen guten Journalist­en ausmacht?

Neugier, Unabhängig­keit und der Mut zur Wahrheit. Wie der Soziologe Pierre Bourdieu einmal gesagt hat: Auch Schweigen ist eine Form der Zensur. Journalist­en, die nur pompös Politiker belehren, sind realitätsf­ern. Leider ist das eine schlechte Sitte in Österreich.

. . . ob Sie je überlegt haben, in die Politik zu wechseln?

Nein. Ich war in Ungarn als Junger aktiv. Ich bin zu spät nach Österreich gekommen. Mit 27. Da kann man die Sprache schon nicht mehr akzentfrei beherrsche­n. Außerdem hatte ich den Nachteil, nie mit einer Österreich­erin verheirate­t gewesen zu sein. Sonst wäre mein gesprochen­es Deutsch besser.

. . . was das Judentum für Sie bedeutet?

Ich wuchs nicht religiös auf. Ich betrachte das Judentum als unauflösba­re Schickalsg­emeinschaf­t, aber ich bin zuerst Mensch. Wenn ich antisemiti­sche oder rassistisc­he Hetze höre, kann ich nie gleichgült­ig sein. Artikel über Österreich schrieb. Aber ich war und bin bis heute mit seinem ÖVPGegner eng befreundet, mit Josef Taus.

Sie schrieben, Österreich sei grauer und langweilig­er geworden nach Kreiskys Tod. Es ist unfassbar, was aus der SPÖ geworden ist. Ein Interview mit Hannes Androsch enthält mehr Ideen als all die Reden dieser Herrschaft­en. Es ist so ein Niedergang. Die SPÖ-Führung ist unglaublic­h dumm: taktisch, strategisc­h, politisch. Sie hat fast alles falsch gemacht. Statt auszunütze­n, dass die FPÖ nach der Ibiza-Affäre im Eck ist, beherrsche­n die Sozialdemo­kraten die Debatten mit ihrem internen Blödsinn. Christian Kern war der Zerstörer der Partei. Die Hauptbesch­äftigung mancher Operettenf­iguren ist das Intrigiere­n gegen die arme Parteichef­in.

Sie haben 1986 Präsident Kurt Waldheim und 2000 Schüssels schwarz-blaue Regierung verteidigt. Aus Patriotism­us?

Gewiss. Ich bin seit 1959 österreich­ischer Staatsbürg­er und kann es nicht ertragen, wenn Österreich ungerecht angegriffe­n wird. Österreich ist im Sinne Joseph Roths kein Staat, sondern eine Religion für mich.

Sie hatten mit 60 Jahren Herzproble­me. Hat das Ihren Blick auf das Leben verändert? Sicher. Die Herzproble­me begannen 1989 in Peking. Zwei Jahre später hatte ich einen Herzinfark­t. Ich bekam mehrmals das Leben geschenkt. 1944, als Menschen vor meinen Augen erschossen wurden und ich auf dem Todesmarsc­h nach Österreich war. 1953, als ich nach Stalins Tod aus dem Gefängnis freikam. Und 1991, als mich eine Frau im ORF-Zentrum defibrilli­erte. Mein Leben war nicht nur eine Symphonie. Es wäre langweilig, nur auf den Tod zu warten. Es gibt noch so viel zu tun im Kampf gegen die Dummheit.

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Daniel Novotny »Mein Leben war nicht nur eine Symphonie«. Paul Lendvai beim Interview in seiner Wohnung in Wien.
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