Stil wurde legerer, Ton rauer
Wie hat sich die Anmutung der Politik in zehn Jahren verändert? Die Krawatte war (mitunter) weg, Twitter und Facebook da.
Nicht nur CEOs ließen auf einmal die Krawatte im Schrank und traten fortan nur noch in Anzug und Hemd auf – der 2018 verstorbene charismatische FiatBoss Sergio Marchionne zeigte sich überhaupt nur im Pullover. Auch die Politiker ließen mitunter die Krawatte weg. Stilbildend in Österreich war auch hier Sebastian Kurz. Als Chef der Jungen ÖVP wollte er sich vom etablierten Politikbetrieb abgrenzen – und trat krawattenlos auf. Auch als er im Jahr 2011 als Integrationsstaatssekretär angelobt wurde. Und er behielt das als Staatssekretär dann auch so bei. Erst als er als Außenminister angelobt wurde, legte er eine Krawatte an. Und lässt sie heute auch gerne wieder mal weg.
Je legerer der Kleidungsstil, desto rauer wurde der Ton in der Politik. Daran haben die Sozialen Medien einen wesentlichen Anteil, allen voran Twitter und Facebook. Von den USA bis Österreich. Was Twitter für Donald Trump als (überlautes) Verlautbarungsorgan ist, war Facebook für Heinz-Christian Strache. Der frühere FPÖ-Chef blies rund um die Uhr, bis spät in die Nacht hinein, seine Botschaften hinaus.
Twitter wiederum wurde hierzulande vorzugsweise zur Spielwiese für Politiker links der Mitte – und auch für die Neos. Gerade erst dieser Tagen wurde hier wieder gehörig Stimmung gemacht. Der grüne Nationalratsabgeordnete Michel Reimon, eine feste TwitterGröße, der keinen „Beef“, wie es im Zehnerjahre-Jargon so schön heißt, auslässt, heizte von außen den SPÖKonflikt an: „Ich höre, Rendi wurde von Länderspitzen zum Rücktritt bis zum Nachmittag aufgefordert, weigerte sich. (. . .) Jetzt hat sie Frist bis zur ZiB2. Sonst Abwahl morgen, Kaiser übernimmt vorerst. (. . .)“Und Andreas Kollross, immerhin stellvertretender Klubchef der SPÖ im Nationalrat und auf Twitter auch eher der BerserkerFraktion zuzurechnen, heizte ihn von innen an: „Manchmal muss man zur
Kenntnis nehmen, dass es nicht mehr geht. Aus. Schluss. Vorbei. Es braucht einen Neustart. (. . .)“
Legerer wurde es dann wieder in den TV-Diskussionen: Politiker begannen sich auf einmal, zu duzen. Wie die TV-Diskussionen überhaupt wie die Schwammerl aus dem Boden schossen. Einen Wachstumshöhepunkt erreichten sie bei den Nationalratswahlen 2017 und 2019. Man sah die Kandidaten vor lauter TV-Debatten nicht mehr.
An Einfluss, vor allem an Aufmerksamkeit in den Medien, verlor die Sozialpartnerschaft. Das System war schon unter der alten Großen Koalition brüchig gewesen, beides schleppte sich aber noch mehr schlecht als recht dahin, bis es dann mit der Machtübernahme von Türkis und Blau endgültig ins Abseits geriet. Das Wort eines ÖGB-Vorsitzenden gilt heute nicht mehr viel, was die Arbeiterkammerpräsidentin sagt, spielt keine große
Rolle. Und Harald Mahrer, der Wirtschaftskammerpräsident, ist mit seinen zahlreichen Jobs ohnehin ausgelastet.
Adieu, GroKo! Und dann wäre da noch die Große Koalition an sich, also jene zwischen SPÖ und ÖVP. Diese scheint nach den Erfahrungen dieses Jahrzehnts fürs Erste diskreditiert. Auch nach dieser Nationalratswahl dachte fast niemand daran, diese Option zu wählen. Denn allen ist klar: Das bringt keinem was, weder der einen noch der anderen Partei, schon gar nicht dem Land. Die Deutschen brauchen für diese Erkenntnis noch ein wenig.
Und ein Phänomen der Zehnerjahre wird die Zwanzigerjahre möglicherweise so auch nicht mehr erreichen: Interne politische Kommunikation mittels WhatsApp oder Ähnlichem. Postenschacher ist allerdings auch in den 2020er-Jahren nicht ganz auszuschließen. Selbst wenn es keine Große Koalition mehr geben sollte.