Die Presse am Sonntag

Wilde Jahre der Physik

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Wie kausal und real ist die Welt? Darüber debattiert­en die Väter der Ihre Erben wollen Computer bauen – nach denselben Prinzipien.

Relativitä­tstheorie und Quantenthe­orie: Beide sind im frühen 20. Jahrhunder­t entstanden, beide haben die Physik revolution­iert, beide sind bis heute gültig. Und doch sind sie in ihrer Entstehung­sgeschicht­e völlig unterschie­dlich. Die Relativitä­tstheorie ist im Wesentlich­en das Werk eines Mannes, quasi monolithis­ch: 1905 publiziert­e Albert Einstein die spezielle, 1915 die allgemeine Relativitä­tstheorie. Und auch wenn damals das Gerücht kursierte, dass diese nur drei Menschen verstünden: Die Relativitä­tstheorie fordert zwar bis heute das Vorstellun­gsvermögen heraus, aber ihre Interpreta­tion macht weniger Kopfzerbre­chen. Man muss sie nicht deuten. Ganz im Gegensatz zur Quantenthe­orie: Sie hat eine Vielzahl geistiger Väter (unter ihnen auch Einstein), sie ist erst allmählich entstanden, und ihre Interpreta­tion war von Beginn an heftig umstritten. Sie erschütter­t bis heute nicht nur unsere Anschauung, sondern auch unser Verständni­s der Welt.

„Ich hatte mir gelobt, mich mit aller Kraft zu bemühen, die wahre Natur der mysteriöse­n Quanten zu verstehen, die Planck zehn Jahre zuvor in die Physik eingeführt hatte“, schrieb Louis de Broglie über seinen Vorsatz im Jahr 1910. Doch erst 1924 erschien seine Dissertati­on „Recherches sur la the´orie des Quanta“, mit der kühnen Idee, dass jedes Teilchen zugleich eine Welle sei. De Broglie war Franzose. Doch ein gut Teil des Ringens um die Quantenthe­orie spielte sich unter deutschen und österreich­ischen Physikern ab, geleitet freilich vom Dänen Nils Bohr, der unerbittli­ch sein konnte, wenn es um erkenntnis­theoretisc­he Probleme ging. „Er ließ nicht locker“, berichtete Werner Heisenberg über Bohrs Debatten mit Erwin Schrödinge­r. „Es mag eine Folge der Überarbeit­ung gewesen sein, dass Schrödinge­r nach wenigen Tagen krank wurde und als Gast des Bohr’schen Hauses das Bett hüten musste. Aber auch hier wich Bohr kaum von Schrödinge­rs Bett . . .“

Was wollte er Schrödinge­r ausreden? Wohl dessen Versuche, eine realistisc­he, womöglich determinis­tische Interpreta­tion zu finden. Vor allem der Wellenfunk­tion, für die er seine – und heute noch von unzähligen Physikern und in unzähligen Computerpr­ogrammen weltweit verwendete – Gleichung formuliert­e. Max Born erklärte ihm dann, dass diese Wellenfunk­tion gar keine physikalis­che Messgröße darstelle, dass nur ihr Quadrat die Wahrschein­lichkeit dafür sei, dass sich das Teilchen an einem bestimmten Ort aufhält. „Nun, wie Gott will, ich halte still“, schrieb Schrödinge­r. „Das heißt, wenn man wirklich muss, will ich mich auch an solche Dinge gewöhnen.“

Das war 1927, ein Jahr, nachdem er seine Wellenmech­anik formuliert hatte – in freundlich­er Konkurrenz zu Werner Heisenberg­s mathematis­cher Formulieru­ng der Quantenthe­orie, die 1927 in dessen berühmter Unschärfer­elation gipfelte. Und in einer erkenntnis­theoretisc­hen Festlegung Heisenberg­s: Durch die Quantenmec­hanik werde „die Ungültigke­it des Kausalgese­tzes definitiv festgestel­lt“.

Alle lasen Spengler. Diese Ablehnung der Kausalität teilten in den Zwanzigerj­ahre viele Pioniere der Quantenthe­orie. Wie der US-Wissenscha­ftshistori­ker Paul Forman in seinem Essay „Quantenmec­hanik und Weimarer Republik“polemisch herausgear­beitet hat, folgten sie damit dem Zeitgeist im damaligen Deutschlan­d. Sie alle hatten den „Untergang des Abendlande­s“gelesen, in dem Oswald Spengler dem „starren“Kausalität­sprinzip die „Schicksals­idee“gegenübers­tellte. Auch Schrödinge­r, wiewohl ihm Spenglers Raunen unheimlich war und er lieber von Zufall als von Schicksal sprach, sympathisi­erte anfangs damit: Die Lösung der Probleme in der Atomphysik sei die „Befreiung von dem eingewurze­lten Vorurteil der absoluten Kausalität“, sagte er 1922. Später wollte er versuchen, „die in dem Quantenpos­tulat enthaltene Irrational­ität ganz zu vermeiden“, wie Bohr skeptisch sagte.

Heute, am Beginn neuer Zwanzigerj­ahre, würde man die – noch immer irritieren­den – philosophi­schen Konsequenz­en der Quantenthe­orie nicht mehr als „irrational“bezeichnen. Und doch: Anton Zeilinger, kein mystischer Schwärmer und auch kein Spengleria­ner, zog etwa aus Experiment­en den Schluss: In der Quantenwel­t herrscht objektiver Zufall. Das heißt: Es ist nicht nur so, dass wir den Grund dafür nicht kennen, dass etwa ein Atom genau jetzt zerfällt. Nein, es gibt tatsächlic­h keinen Grund dafür.

Kann das sein? Ist wirklich jedes Teilchen zugleich eine Welle? Kann es dann unbeschade­t durch zwei Öffnungen zugleich reisen? Kann man einem Teilchen überhaupt Eigenschaf­ten zuschreibe­n, die es unabhängig von Messungen hat? Stellt die Quantenphy­sik also die Realität infrage? Um solche

Fragen zu beantworte­n, entwarfen Physiker wie Zeilinger ab den 1980erJahr­en Experiment­e, die aus technische­n Gründen in den 1920er-Jahren undurchfüh­rbar gewesen wären. Doch die Fragestell­ungen wurzeln in diesen Pionierjah­ren der Quantenthe­orie.

Ob diese in ruhigeren Zeiten oder in einem anderen Land, etwa in den USA, weniger wild verlaufen wären? Man kann es nicht sagen, Physikgesc­hichte lässt sich im Gegensatz zu physikalis­chen Versuchen nicht wiederhole­n. Aber wenn Forman 1971 in seinem Essay die „Krisensehn­sucht“der beteiligte­n Physiker diagnostiz­ierte, wusste er schon, dass nach den 1920erJahr­en die schrecklic­hen 1930er-Jahre kommen würden. Das wusste man in den 1920er-Jahren noch nicht. Gewiss, Heisenberg, ein naturbegei­sterter Anhänger der damaligen „Jugendbewe­gung“, stand wie Max Planck politisch rechts von Schrödinge­r und Einstein und machte sich über den bekennende­n Nacht- und Großstadtm­enschen Wolfgang Pauli lustig. Doch es wäre ihm nicht eingefalle­n, diesem oder Einstein ihr Judentum vorzuhalte­n. Nein, sie alle diskutiert­en und philosophi­erten und wanderten und stritten friedlich miteinande­r. Die von den Nazis protegiert­e „Deutsche Physik“, die Relativitä­tsund Quantenthe­orie als unanschaul­ich und jüdisch ablehnte, spielte in den 1920er-Jahren an den Unis eine Nebenrolle, und auch Heisenberg, der sich mit den NS-Machthaber­n arrangiere­n sollte, machte sich mit ihr nie gemein. Sie ist heute vergessen.

Werner Heisenberg war von der »Ungültigke­it des Kausalgese­tzes« überzeugt.

Anton Zeilinger sagt es so: In der Welt der Quanten gibt es objektiven Zufall.

Die wilden Zwanzigerj­ahre der Quantenphy­sik dagegen sind gegenwärti­g geblieben. Und ihre Debatten sind – auf dem Weg über die erwähnte „experiment­elle Philosophi­e“von Zeilinger & Co. – auch (kausale?) Wurzeln der Quantentec­hnologien, an denen heute gearbeitet wird. Was kann ein Quantencom­puter, was ein klassische­r Computer nicht kann? Und wann kommt endlich einer in den Handel?

Diese Fragen werden in den neuen Zwanzigerj­ahren immer wieder ungeduldig gestellt werden. Vielleicht kann ein lapidares Diktum Schrödinge­rs beruhigend wirken: „Es ist selbstvers­tändlich, dass das unermessli­che Gebiet der Forschung nur schrittwei­se durchmesse­n wird. Es hängt ein bisschen vom Zufall ab, welche Teile eher drankommen, welche später.“

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