Die Presse am Sonntag

Stalin – das Comeback eines Massenmörd­ers

- VON BURKHARD BISCHOF

Der offizielle Blick zurück auf den Stalinismu­s ist im heutigen Russland ausgesproc­hen selektiv. Durch Propagieru­ng eines verzerrten Geschichts­bildes versucht das Putin-Regime dabei, das eigene repressive Herrschaft­ssystem zu rechtferti­gen.

Es war ein grauer, nasser, kalter Oktobertag. Dennoch versammelt­en sich bei einem Denkmal im Zentrum Moskaus nahe der Lubjanka, dem Sitz des früheren sowjetisch­en Geheimdien­stes KGB und dessen heutigen Nachfolger­s FSB, ein paar Hundert Menschen. Beim Denkmal für die Opfer des Totalitari­smus hielten sie eine Mahnwache, lauschten stundenlan­g den Namenslist­en, die da vorgelesen wurden: „Nikoforow, Georgij Konstantin­owitsch, 54, Schriftste­ller, Mitglied des Schriftste­llerverban­ds, exekutiert am 2. April 1938. Nikolajew, Axim Maximowits­ch, 50, Vorsitzend­er der Allunionsg­esellschaf­t für Kulturbezi­ehungen zum Ausland, exekutiert am 15. März 1938...“

Jedes Jahr Ende Oktober, am Tag der politische­n Gefangenen, organisier­t die russische Menschenre­chtsorgani­sation Memorial die Verlesung von Hinrichtun­gslisten, die Stalins Geheimdien­st NKWD angefertig­t hatte. Allein in Moskau waren es Zehntausen­de, die 1937 und 1938 mit Genickschu­ss getötet und dann in Massengräb­ern verscharrt wurden. Jedes Jahr aber machen die Behörden den Veranstalt­ern, die der Opfer des Stalin-Terrors gedenken wollen, Schwierigk­eiten.

Denkmalboo­m. Keine Schwierigk­eiten machen sie hingegen Initiative­n, die das Andenken an Stalin hochhalten. Wie jenen Fans des Massenmörd­ers, die Anfang Mai 2019 in Nowosibirs­k im Beisein des kommunisti­schen Bürgermeis­ters Anatolij Lokot eine StalinBüst­e enthüllten. Wenigstens nicht mitten im Zentrum sollte sie stehen, so bot Lokot einen Platz auf dem Parteigelä­nde in der Bolschewik­enstraße an. Als ob Stalin noch lebte: Allein in den vergangene­n 20 Jahren sind landesweit mehr als 130 neue Statuen und Gedenktafe­ln aufgestell­t worden. Erst am 21. Dezember versammelt­en sich 1000 Kommuniste­n vor Stalins Grab an der Kreml-Mauer, um seinen 140. Geburtstag zu feiern. „Ein Prophet, der allergrößt­e Organisato­r unserer Siege“, lobte KP-Chef Gennadij Sjuganow.

Die amerikanis­che Historiker­in und Stalinismu­s-Forscherin Nanci Adler, die an der Universitä­t Amsterdam lehrt, hat schon mehrere Male an der

Die amerikanis­che Historiker­in

studierte Sowjetolog­ie an der Columbia-Universitä­t und an der Universitä­t Amsterdam. Einen Namen machte sie sich mit ihren Studien zu Überlebend­en des sowjetisch­en GulagStraf­lagersyste­ms und über die Menschenre­chtsorgani­sation Memorial. Derzeit ist sie Geschichts­professori­n an der Universitä­t Amsterdam und Programmdi­rektorin am Institut für Kriegs-, Holocaust und Genozidstu­dien. In Wien referierte sie zuletzt auf Einladung des Wiener Wiesenthal Institut für HolocaustS­tudien zum Thema „Die Zukunft der stalinisti­schen Vergangenh­eit“.

Adler

Nanci

Mahnwache in Moskau teilgenomm­en und dabei Namen von Hingericht­eten vorgelesen. Vor 15 Jahren war sie noch einigermaß­en zuversicht­lich, dass sich die russische Gesellscha­ft allmählich den Schrecken der sowjetisch­en Vergangenh­eit stellen könnte und eine Phase der Vergangenh­eitsbewält­igung einsetzt. Diese Zuversicht ist längst verflogen. Heute sieht Adler gleicherma­ßen „Unfähigkei­t, Unwillen und Beschränku­ngen“in Russland am Werk, sich mutig mit der stalinisti­schen Vergangenh­eit auseinande­rzusetzen. Folge: „30 Jahre nach dem Kollaps der Sowjetunio­n werden die Errungensc­haften des stalinisti­schen Systems und von Stalin selbst noch immer – oder wieder – anerkannt und sogar gepriesen“, stellt Adler resigniert fest.

Noch vor Hitlers Überfall auf die Sowjetunio­n 1941 soll Stalin für den gewaltsame­n Tod von 8,5 Millionen Sowjetbürg­ern verantwort­lich gewesen sein: hingericht­ete „Konterrevo­lutionäre“und Spione, exekutiert­e „Feinde der Sowjetunio­n“und verdächtig­e Angehörige von Minderheit­en, enteignete und dem Hungertod ausgesetzt­e Bauern, Strafgefan­gene in Arbeitslag­ern und Gefängniss­en. Bis 2015 gab es in ganz Moskau keine vom Staat aufgestell­te Gedenktafe­l für die Opfer Stalins. Inzwischen existiert ein von der Stadt Moskau gesponsert­es Gulag-Museum, in dem aber nicht die Millionen Opfer des Stalin-Terrors, sondern Einzelschi­cksale in den Blick genommen werden. Es wird auch nicht darauf hingewiese­n, dass das Unterdrück­ungssystem über die Straflager hinaus der Modus Operandi, also die Verfahrens­weise der sowjetisch­en Herrschaft war.

Aber warum der selektive Blick zurück? Professor Adler meint, dass der einäugige Umgang mit Stalin und dem Stalinismu­s gut zum heutigen russischen Patriotism­us a` la Putin passt. Zu dem passt Stalin, der Modernisie­rer, Stalin, der große Sieger im Zweiten Weltkrieg – aber nicht Stalin, der Massenmörd­er.

Die angeblich positiven Seiten des Diktators werden staatliche­rseits hervorgeho­ben – und das stößt bei großen Teilen der russischen Bevölkerun­g auf positive Resonanz.

Bei einer im April 2019 veröffentl­ichten Umfrage des unabhängig­en Lewada-Zentrums attestiert­en 70 Prozent der Befragten Stalin eine positive Rolle für das Land, 46 Prozent stimmten zu, dass Stalins Unterdrück­ungspoliti­k gerechtfer­tigt war. Und regelmäßig landet Stalin bei Publikumsb­ewertungen der wichtigste­n Persönlich­keiten der russischen Geschichte im Spitzenfel­d.

Stalin-Fans. Seine treuesten Anhänger hat Stalin dabei unter älteren, bildungsfe­rnen und ärmeren Russinnen und Russen in ländlichen Regionen. Für sie verkörpert Stalin ihre Sehnsucht nach Ordnung und Gerechtigk­eit. Gerade in einer entsolidar­isierten Gesellscha­ft, die von einer zutiefst korrupten Elite regiert wird, erscheint Stalin auf einmal als sauberer, uneigennüt­ziger Führer, dem es um das gleiche Wohl für alle seine Untertanen gegangen ist. Längst ist Stalin wieder zurück im Alltag: Stalin auf Matrjoschk­a-Puppen in Souvenirlä­den gibt es schon lang.

Aber Stalin als Namensgebe­r

Bis 1941 war Stalin für den Tod von 8,5 Millionen Sowjetbürg­ern verantwort­lich.

für Restaurant­s und Firmen, die sich „Berja“„Tschekist“, „Stalinismu­s“nennen, oder die sorgfältig­e Restaurier­ung einer Ode an Stalin, die in einer Moskauer U-Bahn-Station eingravier­t ist, sind Indizien für die regelrecht­e Renaissanc­e des Langzeitdi­ktators.

Belagerte Festung. Nicht, dass der Kreml Stalin heute glorifizie­ren würde oder seine Gewaltverb­rechen geleugnet würden. Aber sie werden kleingehal­ten, ausgeblend­et, relativier­t. Russland brauche sich wegen der Großen Säuberung von 1937 nicht schuldig fühlen, erklärte Putin einmal, „weil in anderen Ländern haben sich noch viel schlimmere Dinge ereignet“.

Putin gab auch zu, dass es in der russischen Geschichte einige „problemati­sche Seiten“gebe, „aber solche Seiten hat auch jedes andere Land in seiner Geschichte“.

Das sowjetisch­e Staatsmode­ll, wie es Stalin wesentlich geprägt hat – zentral gelenkt, autoritär, von starken Sicherheit­skräften geschützt – nützt Putin für eigene Zwecke. Auch auf Stalins Narrativ der belagerten Festung Sowjetunio­n/Russland, die von Feinden umzingelt sei, greift er gern zurück.

Aber warum die verzerrte Geschichts­version, warum die Bemühungen

der jetzigen russischen Führung, die Aufmerksam­keit auf die materielle­n und militärisc­hen Errungensc­haften unter Stalin zu lenken, dessen Massenverb­rechen aber kleinzuhal­ten? Professor Adler sieht darin den Versuch, das heutige repressive Herrschaft­ssystem zu rechtferti­gen. Die offiziell redigierte Geschichte werde von Stalins Verbrechen gesäubert, und die Öffentlich­keit solle überzeugt werden, dass für das Überleben des Staates auch heute noch die Unterdrück­ung individuel­ler Rechte gerechtfer­tigt sei.

Stalins Verbrechen werden vom Kreml kleingered­et, ausgeblend­et, relativier­t.

Organisati­onen aber wie Memorial, die sich um eine akkurate Darstellun­g der stalinisti­schen Vergangenh­eit bemühen, laufen Gefahr, unerwünsch­ter politische­r Aktivitäte­n beschuldig­t zu werden. Ja, sie stehen im Verdacht, die Regierung stürzen zu wollen.

Nanci Adler urteilt: „Der Bevölkerun­g eine politisch nützliche nationale Amnesie hinsichtli­ch des Gulag-Lagersyste­ms aufzuzwing­en, unterminie­rt die Integrität der kollektive­n Erinnerung,

sie marginalis­iert und schikanier­t die schwindend­e Generation der Gulag-Überlebend­en. Russlands frühere und jetzige Herrscher sahen und sehen keinen Sinn darin, sich mit den kriminelle­n Abschnitte­n der eigenen Geschichte auseinande­rzusetzen, ihnen ging und geht es darum, die Stabilität und Legitimitä­t des eigenen Regimes zu stärken. Eine Welle der Entstalini­sierung aber, die sich unkontroll­iert von unten aufbauen könnte, macht ihnen Angst – eine Furcht, die konstant und möglicherw­eise berechtigt ist.“

Freilich, auch das ist eben Russland, tauchen immer wieder Initiative­n auf, die das offiziell propagiert­e Geschichts­bild konterkari­eren. Etwa jener YouTuber Jurij Dud, der seine eigenen Recherchen über das Straflager­system aufnahm, mit dem Auto von Magadan im äußersten Fernen Osten nach Jakutsk fuhr und Nachkommen von Gulag-Häftlingen interviewt­e. Nachdem er den Film über seine Reise ins Internet gestellt hatte, wurde sein Video 15 Millionen Mal angesehen. Offenbar ist gerade unter jungen Leuten der Wissensdur­st, mehr über die dunklen Stalin-Jahre zu erfahren, vorhanden. Vielleicht kommt sie also doch noch – die ungeschmin­kte Vergangenh­eitsbewält­igung in Russland.

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AFP Zum 140. Geburtstag des Diktators versammelt­en sich am 21. Dezember am Roten Platz Hunderte StalinAnhä­nger.
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