Die Presse am Sonntag

Armageddon der Insekten?

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Einzelne Studien lassen einen dramatisch­en Schwund des Heers der Insekten befürchten. Aber die Daten sind eher dünn und die Hintergrün­de völlig unklar.

In der Luft schwirrt weniger, jeder Autofahrer hat es an der Windschutz­scheibe bemerkt.

Wer ab und an mit dem Auto übers Land fährt, wundert sich seit geraumer Zeit darüber, wie sauber die Windschutz­scheibe auch nach Stunden noch ist. Sie war früher rasch mit Insekten überzogen, deren Kadaver eine so klebrige Schicht bildeten, dass jede Tankstelle Spezialrei­niger im Angebot hatte. Heute zeigen sich allenfalls vereinzelt­e Tupfen, an der Fahrweise liegt das nicht, am Glas oder Design der Scheiben auch nicht. Es kann nur daran liegen, dass sich das Heer der Insekten ausgedünnt hat, und das so stark, dass die Alltagsbeo­bachtung Eingang in die Fachtermin­ologie gefunden hat: „Windshield Phenomenon“heißt das unter Entomologe­n.

Und in den Schlagzeil­en hat es sich zum „Insect Armageddon“überschlag­en oder auch zur „Insect Apocalypse“(New York Times Magazine 27. 11. 2018) bzw. zum „Collapse of Nature“(Guardian 10. 2. 2019). Das begann, noch verhalten, als 2017 aus Deutschlan­d die Kunde kam, regional seien in den letzten 27 Jahren über 75 Prozent der fliegenden Insekten verschwund­en. Das erinnerte stark an die Botschaft des Buchs, das die grüne Bewegung in Gang gebracht hat: „Silent Spring“. In ihm bilanziert­e Rachel Carson 1962, dass regional in den USA kein Vogel mehr zu hören war, es lag am überborden­den Gebrauch von Insektizid­en, vor allem DDT.

Das brachte manche Vögel direkt zu Tode, durch Hunger oder Futter mit Gift im Leib, bei anderen – etwa dem Weißkopfad­ler, dem Wappentier der USA – dünnten die Eischalen so stark aus, dass keine Brut mehr hochkam. Deshalb wurden DDT und verwandte Gifte – „das schmutzige Dutzend“– verboten, erst in den USA, später erdweit (in malariaver­seuchten Gebieten Indiens und Afrikas ist DDT allerdings bis heute unverzicht­bar im Kampf gegen die übertragen­den Moskitos).

Das half den Vögeln, viele Insekten hatten sich selbst geholfen, sie wurden resistent, trugen das Gift bzw. seine Abbauprodu­kte in sich, als sie von den Vögeln gefressen wurden. Dass man sich um die Insekten selbst sorgen müsse – außer um Ikonen wie Bienen oder manche Schmetterl­inge, vor allem die Monarchen –, kam niemanden in den Sinn, zu überwältig­end waren (und sind) die Zahlen: Von den 1,4 Millionen beschriebe­nen Tierarten stellen sie eine Million, geschätzte vier Mal so viele sind noch nicht beschriebe­n, allein von Marienkäfe­rn gibt es mehr Arten als von Säugetiere­n, von Ameisen mehr als von Vögeln. Zudem haben Insekten noch allen Massenster­ben getrotzt.

Und nun waren in Deutschlan­d, in der Gegend von Krefeld, über 75 Prozent weg! Und das nicht in zersiedelt­en oder beackerten Gegenden, sondern in solchen, in denen es keine Landnutzun­g gab, schon gar keine Agrarchemi­kalien: in Naturschut­zgebieten! Das weckte sporadisch­e Zweifel an der Publikatio­n, die Daten stammten nicht von profession­ellen, sondern von Hobbyforsc­hern – Mitglieder­n des Entomologi­schen Vereins Krefeld –, sie standen zudem in PLoS One (12:e0185809), einem Journal der zweiten oder dritten Reihe.

Spezialist­ensterben. Aber biologisch­e Feldforsch­ung wird weithin von Amateuren betrieben – profession­elle Taxonomen zählen in böser Ironie selbst zu den bedrohten Arten, der Biologe Craig McClain beklagte es vor bald zehn Jahren schon in Wired (19. 1. 2011) –, und von einem altgedient­en Profi, Bradford Lister (Troy), kam ein Jahr später ein ähnlicher Befund aus einem entlegenen Regenwald in Puerto Rico. Dort hatte er vor 46 Jahren geforscht, bei seiner Wiederkehr waren 80 Prozent der Insekten in den Lüften weg, von jenen am Boden fast 100 (Pnas 115, E10397).

Aber erst die dritte Runde trieb den Apokalypse-Tsunami über alle Ufer. Francisco Sa´nchez-Bayo (Sydney) und Kris Wyckhuys (Brisbane) hatten die Fachlitera­tur durchforst­et, 71 Artikel gefunden und an Alarmismus nicht gespart: Erdweit sei „die Hälfte der Arten rasch am Verschwind­en“, „ein Drittel vom Aussterben bedroht“, und demnächst sei alles vorbei: „Insekten als Ganzes werden in wenigen Jahrzehnte­n verschwund­en sein“(Biological Conservati­on 232, S. 8). Das schlug ein, allerdings stieß es auch auf Kritik, wegen zahlreiche­r methodisch­er Mängel, darunter einem zentralen: Die beiden Forscher hatten ihre Literaturr­echerche auf einer wissenscha­ftlichen Suchmaschi­ne betrieben und dort zwei Begriffe eingegeben: „insect*“und „decline*“.

„Wer ,Niedergang‘ sucht, wird Niedergang finden“, entgegnete etwa Chris Thomas, Entomologe der University of York (Global Change Biology 25:1891). Von ihm kam auch die jüngste Studie, gestützt auf „vermutlich die beste Datenbasis über Insekten, die es irgendwo auf der Erde gibt“: Sie stammt vom Rotham Insect Survey aus England, wo seit über 50 Jahren Nachtfalte­r in Fallen gefangen werden, an 34 Standorten, in Agrargebie­ten, Wäldern, Siedlungen. Demnach gab es zwar seit 1982 einen Rückgang, aber zuvor, von 1967 bis 1976, war das Heer der Insekten, zumindest jenes der Nacht, so angeschwol­len, dass heute noch mehr unterwegs sind als in den 1960ern.

Die üblichen Verdächtig­en – Landnutzun­g, Agrarchemi­e – stehen nicht dahinter.

Das stand in einem Journal der ersten Reihe, Nature Ecology & Evolution (12. 11.), nicht ein Journalist griff es auf, gute Nachrichte­n verkaufen sich schlecht. Allerdings konnte auch Thomas zur Klärung der Hintergrün­de nichts beitragen, im Gegenteil, ausgerechn­et auf den Äckern war die Zahl der Insekten nicht zurückgega­ngen, auch in Siedlungen kaum, damit schied noch eine Hypothese aus: An Lichtversc­hmutzung lag es auch nicht! Zudem waren nur manche Arten geschwunde­n, andere hatten sich gemehrt. Und das Klima? Ein Trockenjah­r, 1975, hatte die Population­en explodiere­n lassen, im nächsten, 1976, brachen sie ein, auch der spätere Rückgang war von einer Saison dominiert, 1992/93, da war kein extremes Wetter.

Was steht also dahinter, und gibt es überhaupt ein Armageddon? Die letzte Zusammenfa­ssung, von Graham Montgomery und David Wagner (University of Connecticu­t), weist schon im Titel auf die mangelnde Urteilsgru­ndlage hin – „Is the insect apocalypse upon us? How to find out“– und ruft nach weiterer Forschung (Biological Conservati­on 22. 11.). Ein Projekt läuft bzw. fährt seit zwei Jahren in Dänemark: Es heißt Insectmobi­le, und in ihm sind, initiiert vom Naturhisto­rischen Museum Kopenhagen, wieder Amateure unterwegs, mit ihren Autos, auf deren Dächern sie Insektenne­tze platzieren. Die Fänge sollen das „Windshield Phenomenon“testen bzw. quantifizi­eren.

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