Armageddon der Insekten?
Einzelne Studien lassen einen dramatischen Schwund des Heers der Insekten befürchten. Aber die Daten sind eher dünn und die Hintergründe völlig unklar.
In der Luft schwirrt weniger, jeder Autofahrer hat es an der Windschutzscheibe bemerkt.
Wer ab und an mit dem Auto übers Land fährt, wundert sich seit geraumer Zeit darüber, wie sauber die Windschutzscheibe auch nach Stunden noch ist. Sie war früher rasch mit Insekten überzogen, deren Kadaver eine so klebrige Schicht bildeten, dass jede Tankstelle Spezialreiniger im Angebot hatte. Heute zeigen sich allenfalls vereinzelte Tupfen, an der Fahrweise liegt das nicht, am Glas oder Design der Scheiben auch nicht. Es kann nur daran liegen, dass sich das Heer der Insekten ausgedünnt hat, und das so stark, dass die Alltagsbeobachtung Eingang in die Fachterminologie gefunden hat: „Windshield Phenomenon“heißt das unter Entomologen.
Und in den Schlagzeilen hat es sich zum „Insect Armageddon“überschlagen oder auch zur „Insect Apocalypse“(New York Times Magazine 27. 11. 2018) bzw. zum „Collapse of Nature“(Guardian 10. 2. 2019). Das begann, noch verhalten, als 2017 aus Deutschland die Kunde kam, regional seien in den letzten 27 Jahren über 75 Prozent der fliegenden Insekten verschwunden. Das erinnerte stark an die Botschaft des Buchs, das die grüne Bewegung in Gang gebracht hat: „Silent Spring“. In ihm bilanzierte Rachel Carson 1962, dass regional in den USA kein Vogel mehr zu hören war, es lag am überbordenden Gebrauch von Insektiziden, vor allem DDT.
Das brachte manche Vögel direkt zu Tode, durch Hunger oder Futter mit Gift im Leib, bei anderen – etwa dem Weißkopfadler, dem Wappentier der USA – dünnten die Eischalen so stark aus, dass keine Brut mehr hochkam. Deshalb wurden DDT und verwandte Gifte – „das schmutzige Dutzend“– verboten, erst in den USA, später erdweit (in malariaverseuchten Gebieten Indiens und Afrikas ist DDT allerdings bis heute unverzichtbar im Kampf gegen die übertragenden Moskitos).
Das half den Vögeln, viele Insekten hatten sich selbst geholfen, sie wurden resistent, trugen das Gift bzw. seine Abbauprodukte in sich, als sie von den Vögeln gefressen wurden. Dass man sich um die Insekten selbst sorgen müsse – außer um Ikonen wie Bienen oder manche Schmetterlinge, vor allem die Monarchen –, kam niemanden in den Sinn, zu überwältigend waren (und sind) die Zahlen: Von den 1,4 Millionen beschriebenen Tierarten stellen sie eine Million, geschätzte vier Mal so viele sind noch nicht beschrieben, allein von Marienkäfern gibt es mehr Arten als von Säugetieren, von Ameisen mehr als von Vögeln. Zudem haben Insekten noch allen Massensterben getrotzt.
Und nun waren in Deutschland, in der Gegend von Krefeld, über 75 Prozent weg! Und das nicht in zersiedelten oder beackerten Gegenden, sondern in solchen, in denen es keine Landnutzung gab, schon gar keine Agrarchemikalien: in Naturschutzgebieten! Das weckte sporadische Zweifel an der Publikation, die Daten stammten nicht von professionellen, sondern von Hobbyforschern – Mitgliedern des Entomologischen Vereins Krefeld –, sie standen zudem in PLoS One (12:e0185809), einem Journal der zweiten oder dritten Reihe.
Spezialistensterben. Aber biologische Feldforschung wird weithin von Amateuren betrieben – professionelle Taxonomen zählen in böser Ironie selbst zu den bedrohten Arten, der Biologe Craig McClain beklagte es vor bald zehn Jahren schon in Wired (19. 1. 2011) –, und von einem altgedienten Profi, Bradford Lister (Troy), kam ein Jahr später ein ähnlicher Befund aus einem entlegenen Regenwald in Puerto Rico. Dort hatte er vor 46 Jahren geforscht, bei seiner Wiederkehr waren 80 Prozent der Insekten in den Lüften weg, von jenen am Boden fast 100 (Pnas 115, E10397).
Aber erst die dritte Runde trieb den Apokalypse-Tsunami über alle Ufer. Francisco Sa´nchez-Bayo (Sydney) und Kris Wyckhuys (Brisbane) hatten die Fachliteratur durchforstet, 71 Artikel gefunden und an Alarmismus nicht gespart: Erdweit sei „die Hälfte der Arten rasch am Verschwinden“, „ein Drittel vom Aussterben bedroht“, und demnächst sei alles vorbei: „Insekten als Ganzes werden in wenigen Jahrzehnten verschwunden sein“(Biological Conservation 232, S. 8). Das schlug ein, allerdings stieß es auch auf Kritik, wegen zahlreicher methodischer Mängel, darunter einem zentralen: Die beiden Forscher hatten ihre Literaturrecherche auf einer wissenschaftlichen Suchmaschine betrieben und dort zwei Begriffe eingegeben: „insect*“und „decline*“.
„Wer ,Niedergang‘ sucht, wird Niedergang finden“, entgegnete etwa Chris Thomas, Entomologe der University of York (Global Change Biology 25:1891). Von ihm kam auch die jüngste Studie, gestützt auf „vermutlich die beste Datenbasis über Insekten, die es irgendwo auf der Erde gibt“: Sie stammt vom Rotham Insect Survey aus England, wo seit über 50 Jahren Nachtfalter in Fallen gefangen werden, an 34 Standorten, in Agrargebieten, Wäldern, Siedlungen. Demnach gab es zwar seit 1982 einen Rückgang, aber zuvor, von 1967 bis 1976, war das Heer der Insekten, zumindest jenes der Nacht, so angeschwollen, dass heute noch mehr unterwegs sind als in den 1960ern.
Die üblichen Verdächtigen – Landnutzung, Agrarchemie – stehen nicht dahinter.
Das stand in einem Journal der ersten Reihe, Nature Ecology & Evolution (12. 11.), nicht ein Journalist griff es auf, gute Nachrichten verkaufen sich schlecht. Allerdings konnte auch Thomas zur Klärung der Hintergründe nichts beitragen, im Gegenteil, ausgerechnet auf den Äckern war die Zahl der Insekten nicht zurückgegangen, auch in Siedlungen kaum, damit schied noch eine Hypothese aus: An Lichtverschmutzung lag es auch nicht! Zudem waren nur manche Arten geschwunden, andere hatten sich gemehrt. Und das Klima? Ein Trockenjahr, 1975, hatte die Populationen explodieren lassen, im nächsten, 1976, brachen sie ein, auch der spätere Rückgang war von einer Saison dominiert, 1992/93, da war kein extremes Wetter.
Was steht also dahinter, und gibt es überhaupt ein Armageddon? Die letzte Zusammenfassung, von Graham Montgomery und David Wagner (University of Connecticut), weist schon im Titel auf die mangelnde Urteilsgrundlage hin – „Is the insect apocalypse upon us? How to find out“– und ruft nach weiterer Forschung (Biological Conservation 22. 11.). Ein Projekt läuft bzw. fährt seit zwei Jahren in Dänemark: Es heißt Insectmobile, und in ihm sind, initiiert vom Naturhistorischen Museum Kopenhagen, wieder Amateure unterwegs, mit ihren Autos, auf deren Dächern sie Insektennetze platzieren. Die Fänge sollen das „Windshield Phenomenon“testen bzw. quantifizieren.