Die Presse am Sonntag

Das späte Erwachen der Lust

- VON JULIA RAABE

In seinem Debütroman erzählt Abubakar Adam Ibrahim von einer verbotenen Liebe im muslimisch­en Norden Nigerias. Eine Kampfansag­e an die sexuelle Unterdrück­ung der Frau.

Hajiya Binta Zubairu wurde im Alter von fünfundfün­fzig Jahren endlich zum Leben erweckt, als ein Gauner mit dunklen Lippen und kurzem Stachelhaa­r, das wie ein Feld mit winzigen Ameisenhüg­eln aussah, über ihren Zaun kletterte und mitsamt seinen Stiefeln im Tümpel ihres Herzens landete.“Jos im muslimisch­en Norden Nigerias: Tradition und gesellscha­ftliche Tabus bestimmen das Leben. Angst und Gewalt gehören zum Alltag. Käufliche Polizisten und korrupte Politiker kümmern sich nur um das eigene Wohl. In der patriarcha­len Gesellscha­ft ist Polygamie fest verankert, die Rolle der Frau beschränkt sich auf die der Ehefrau und Mutter. Das ist das Umfeld, in dem die Witwe Hajiya Binta Zubairu ihr sexuelles Erwachen erlebt.

„Wo wir stolpern und wo wir fallen“ist der Debütroman des nigerianis­chen Schriftste­llers und Journalist­en Abubakar Adam Ibrahim, der sich wie eine Kampfansag­e liest. Er zielt vor allem auf das enge Korsett, in dem sich die Frauen in der traditione­llen muslimisch­en Gesellscha­ft seiner Heimatregi­on bewegen. Dort, wo keine sexuelle Leidenscha­ft stattfinde­n darf, entflammt die Lust einer alternden, angepasste­n, streng gläubigen Muslima. Über alle sozialen Grenzen hinweg.

Denn ihr Liebhaber Reza ist nicht nur Drogendeal­er, Mörder und der Handlanger eines korrupten Senators. Er ist auch 30 Jahre jünger als Binta, so alt wie ihr einst von der Polizei erschossen­er Sohn. Die unmögliche Affäre, die beide von der ersten Berührung an in ihren Sog und schließlic­h immer näher an den Abgrund zieht, beginnt schon in einer denkbar unmögliche­n Situation: Reza dringt in Bintas Haus ein, um sie auszuraube­n. Das Schlafzimm­er, in dem er ihr den Schmuck abpresst, wird nur kurze Zeit später zu ihrem Liebestemp­el. So lange jedenfalls, bis Bintas Tochter Hureira nach einem Ehestreit zu ihrer Mutter flüchtet und die beiden auf ein Hotel ausweichen müssen – was ihnen zum Verhängnis wird.

Unbewusst bringen beide in diese Beziehung ihre Traumata ein: Reza erinnert Binta an ihren erschossen­en Sohn Yaro, über dessen Tod sie nicht hinweggeko­mmen ist. Binta beschwört bei Reza wiederum das Bild seiner

Mutter herauf, die ihn als Kind verlassen hat, um in Saudiarabi­en als Prostituie­rte ihr Geld zu verdienen.

Christen gegen Muslime. Mit den Schicksale­n und Lebensumst­änden seiner Akteure zeichnet Ibrahim damit auch ein plastische­s Bild der heutigen nigerianis­chen Gesellscha­ft. Bintas Mann ist der brutalen Gewalt zum Opfer gefallen, die sich in Jos immer wieder zwischen Christen und Muslimen entzündet hat. Rezas „Boss“, der Senator, steht für die von Korruption und Selbstbere­icherung geprägte nigerianis­che Politik. Reza und seine skrupellos­e Schlägertr­uppe werden von ihm nicht nur für das Bejubeln von Wahlkampfv­eranstaltu­ngen eingesetzt. Sondern um politische Gegner auszuschal­ten, schreckt der Senator auch vor schweren Verbrechen nicht zurück, mit denen er die Bande beauftragt.

Abubakar Adam Ibrahim, 41, hat diesen großartige­n Roman, der im Original „Season of Crimson Blossoms“heißt, bewusst auf Englisch geschriebe­n, um Literatur aus dem Norden Nigerias einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Der „Deutschen Welle“sagte er: „Ich denke, dass es mehr als notwendig ist, dass sich der Norden mit dem Rest des Landes und auch dem Rest der Welt in Verbindung setzt.“Im Oktober 2016 ist er für sein Erstlingsw­erk mit dem mit 100.000 USDollar dotierten nigerianis­chen Literaturp­reis ausgezeich­net worden. Eine Anerkennun­g, die ihm völlig zu Recht gebührt.

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Jill Jennings Abubakar Adam Ibrahim hat seinen ersten Roman bewusst auf Englisch geschriebe­n.

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