Der andere Beethoven: Tipps für Hörerlebnisse
Gerade in den Handel gekommen oder demnächst greifbar: Die spannendsten CD-Neuerscheinungen und Wiederauflagen jenseits des Repertoire-Mainstreams.
Zum Jubiläumsjahr mangelt es nicht an Neuauflagen historischer Beethoven-Aufnahmen, wirklich exzellenter und entbehrlicher gleichermaßen. Etliche neue (oder aus gegebenem Anlass wieder in den Handel gebrachte) CDs konfrontieren uns aber auch mit den unbekannten Seiten des reichen Schaffens dieses Komponisten, vor allem mit den je nach den Umständen tagesaktuell fabrizierten politischen Stellungnahmen. Sie stehen so verblüffend vor uns wie das eine oder andere Dokument des grimmigen Humors dieses Komponisten.
Beethovens Liedschaffen Hermann Prey, Pamela Coburn
Gesamtaufnahme der Kompositionen für eine Singstimme, am Klavier: Leonard Hokanson (Capriccio)
Über der Symphonik, der Klavier- und Kammermusik vergisst die Konzertpraxis gern den Vokalkomponisten Beethoven, dessen Liedschaffen in Hermann Preys längst klassisch gewordener Gesamtaufnahme mit Leonard Hokanson am Flügel Gerechtigkeit widerfährt. Der Bariton, der mit dieser Sammlung unter anderem auch eine der schönsten Aufnahmen des Zyklus „An die ferne Geliebte“vorgelegt hat, bricht eine Lanze für die unscheinbareren Gesänge – und geniert sich hörbar für den Text von politischen Momentaufnahmen wie dem „Kriegslied der Österreicher“, das er von Strophe zu Strophe, also mit steigender patriotischer Aufladung der Worte, kleinlauter zu interpretieren scheint – ein Fall von früher musikalischer Political Correctness? (Die CDs erschienen erstmals 1991 und sind nun zum Jubiläumsjahr wieder greifbar.)
Schauspielmusik zu Kotzebues „König Stephan“, op. 114
Leif Segerstam, Turku Philharmonic (Naxos)
Für die Eröffnung des neuen Theaters in Pest schrieb Beethoven die Musik zu August von Kotzebues „König Stephan“, originelle Gebrauchsmusik – und mehr als das, wie die von Leif Segerstam animiert dirigierte Neuaufnahme aus Turku hören lässt – immerhin korrespondierte der Komponist mit dem Autor über ein mögliches Opernlibretto zu „Attila“– schon im „König Stephan“geht es ja um die Unterwerfung der „wilden Horden im Osten“.
Military Beethoven. Originalkompositionen und Arrangements für Klavier
Carl Petersson, Klavier (Naxos)
Aufschlussreich die eben erschienene CD des schwedischen Pianisten Carl Petersson, der unter anderem das 1816 erschienene Klavierarrangement von „Wellingtons Sieg“eingespielt hat. So holten sich die Zeitgenossen den Kanonendonner von Beethovens damals populärster Komposition ins biedermeierliche Wohnzimmer.
Historisch interessant auch die quasi parallel zur Bonaparte-Symphonie, „Eroica“, entstandenen Variationen über „God Save the King“und „Rule Britannia“– die wahre Verehrung des Zoon politikon Beethoven gehörte ja nicht den Franzosen, sondern den Engländern. Entsprechend liebevoll, als eine spannende zusammenhängende Erzählung, sind vor allem die „Brtiannia“-Variationen gearbeitet.
„Beethoven unknown“Eine Raritätensammlung
Gewandhausorchester Leipzig, Staatskapelle Berlin, Eberhard Büchner, Kurt Masur u. v. a. (neun CDs, Corona Classic Collection)
Erstaunliche Facetten erschließt diese Sammlung. Beginnend mit den Tänzen, die Beethoven in den ersten Jahren seiner Wiener Zeit für Bälle und Redouten komponiert hat, bis zu Gelegenheitskompositionen für den sofortigen Gebrauch im wienerischen Musikleben. Mehr als lehrreich ist es zum Beispiel, die 1795 geschriebenen Einlagelieder für Ignaz Umlaufs Singspiel „Die schöne Schusterin“zu hören – zehn Jahre vor dem „Fidelio“übt sich der Komponist hier im Singspielton, der dann auch die Eingangsszenen seiner einzigen vollendeten Oper beherrschen wird. Die ein Jahr später auf der Reise nach Prag komponierte Konzertarie „Ah, perfido“kann dann durchaus als, wenn auch italienisch gesungenes, Vorbild für die große Leonoren-Arie gelten, mit der Beethoven im „Fidelio“in den Seria-Stil wechselt. Was als Prototyp der großen deutsche Oper gilt, wurzelt offenkundig in der italienischen Opern- und deutschen Singspieltradition.
Einige Arrangements wie jenes des Violinkonzerts für Klavier und Orchester, inklusive einer erstaunlichen Kadenz, in der die Pauke an die Seite des Soloinstruments tritt, verraten den Praktiker; und manches kleine Vokalstück den humoristischen Zeitgenossen, der schon auch einmal seine Freunde und Wegbegleiter („Schuppanzigh ist ein Lump“) kräftig zauste.
Symphonien, Orchesterwerke Hermann Scherchen
Sämtliche Symphonien u. a. aus der Westminster-Sammlung, Orchester der Wiener Staatsoper, London Philharmonic (DG)
Demnächst im Handel – für alle, die glauben, die sogenannte Originalklangbewegung sei nötig gewesen, um frischen Wind in die Beethoven-Interpretation zu bringen: Schon in den Fünfzigerjahren machte Hermann Scherchen die wildesten Aufnahmen aller Zeiten: Die Symphonien und „Wellingtons Sieg“in vollem Ungestüm – diese „Eroica“muss gehört haben, wer über rasche Tempi spricht . . .
Missa solemnis H. v. Karajan, 1966
Gundula Janowitz, Christa Ludwig, Fritz Wunderlich, Walter Berry, Wiener Singverein, Berliner Philharmoniker (DG Blueray)
Und noch eine Aufnahmelegende, die nie aus den Katalogen verschwunden ist. Mehr als 50 Jahre ist es her, dass Herbert von Karajan die Missa solemnis mit „seinem“Wiener Singverein und den Berliner Philharmonikern aufgenommen hat, die zweite seiner vier Studioproduktionen – und für die meisten Musikfreunde die definitive, denn ein Solistenquartett von solcher Güte stand nie wieder zur Verfügung: Schon in den ersten Takten des „Kyrie“schweben die Edelstimmen von Gundula Janowitz, Christa Ludwig und Fritz Wunderlich „über den Wassern“, Walter Berry dazu; der frühe Tod Wunderlichs hat verhindert, dass weitere solche Aufnahmen entstanden. Haydns „Schöpfung“, die man zur selben Zeit begann, konnte nicht mehr in dieser Konstellation fertiggestellt werden...