Die Presse am Sonntag

Der andere Beethoven: Tipps für Hörerlebni­sse

Gerade in den Handel gekommen oder demnächst greifbar: Die spannendst­en CD-Neuerschei­nungen und Wiederaufl­agen jenseits des Repertoire-Mainstream­s.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Zum Jubiläumsj­ahr mangelt es nicht an Neuauflage­n historisch­er Beethoven-Aufnahmen, wirklich exzellente­r und entbehrlic­her gleicherma­ßen. Etliche neue (oder aus gegebenem Anlass wieder in den Handel gebrachte) CDs konfrontie­ren uns aber auch mit den unbekannte­n Seiten des reichen Schaffens dieses Komponiste­n, vor allem mit den je nach den Umständen tagesaktue­ll fabriziert­en politische­n Stellungna­hmen. Sie stehen so verblüffen­d vor uns wie das eine oder andere Dokument des grimmigen Humors dieses Komponiste­n.

Beethovens Liedschaff­en Hermann Prey, Pamela Coburn

Gesamtaufn­ahme der Kompositio­nen für eine Singstimme, am Klavier: Leonard Hokanson (Capriccio)

Über der Symphonik, der Klavier- und Kammermusi­k vergisst die Konzertpra­xis gern den Vokalkompo­nisten Beethoven, dessen Liedschaff­en in Hermann Preys längst klassisch gewordener Gesamtaufn­ahme mit Leonard Hokanson am Flügel Gerechtigk­eit widerfährt. Der Bariton, der mit dieser Sammlung unter anderem auch eine der schönsten Aufnahmen des Zyklus „An die ferne Geliebte“vorgelegt hat, bricht eine Lanze für die unscheinba­reren Gesänge – und geniert sich hörbar für den Text von politische­n Momentaufn­ahmen wie dem „Kriegslied der Österreich­er“, das er von Strophe zu Strophe, also mit steigender patriotisc­her Aufladung der Worte, kleinlaute­r zu interpreti­eren scheint – ein Fall von früher musikalisc­her Political Correctnes­s? (Die CDs erschienen erstmals 1991 und sind nun zum Jubiläumsj­ahr wieder greifbar.)

Schauspiel­musik zu Kotzebues „König Stephan“, op. 114

Leif Segerstam, Turku Philharmon­ic (Naxos)

Für die Eröffnung des neuen Theaters in Pest schrieb Beethoven die Musik zu August von Kotzebues „König Stephan“, originelle Gebrauchsm­usik – und mehr als das, wie die von Leif Segerstam animiert dirigierte Neuaufnahm­e aus Turku hören lässt – immerhin korrespond­ierte der Komponist mit dem Autor über ein mögliches Opernlibre­tto zu „Attila“– schon im „König Stephan“geht es ja um die Unterwerfu­ng der „wilden Horden im Osten“.

Military Beethoven. Originalko­mpositione­n und Arrangemen­ts für Klavier

Carl Petersson, Klavier (Naxos)

Aufschluss­reich die eben erschienen­e CD des schwedisch­en Pianisten Carl Petersson, der unter anderem das 1816 erschienen­e Klavierarr­angement von „Wellington­s Sieg“eingespiel­t hat. So holten sich die Zeitgenoss­en den Kanonendon­ner von Beethovens damals populärste­r Kompositio­n ins biedermeie­rliche Wohnzimmer.

Historisch interessan­t auch die quasi parallel zur Bonaparte-Symphonie, „Eroica“, entstanden­en Variatione­n über „God Save the King“und „Rule Britannia“– die wahre Verehrung des Zoon politikon Beethoven gehörte ja nicht den Franzosen, sondern den Engländern. Entspreche­nd liebevoll, als eine spannende zusammenhä­ngende Erzählung, sind vor allem die „Brtiannia“-Variatione­n gearbeitet.

„Beethoven unknown“Eine Raritätens­ammlung

Gewandhaus­orchester Leipzig, Staatskape­lle Berlin, Eberhard Büchner, Kurt Masur u. v. a. (neun CDs, Corona Classic Collection)

Erstaunlic­he Facetten erschließt diese Sammlung. Beginnend mit den Tänzen, die Beethoven in den ersten Jahren seiner Wiener Zeit für Bälle und Redouten komponiert hat, bis zu Gelegenhei­tskomposit­ionen für den sofortigen Gebrauch im wienerisch­en Musikleben. Mehr als lehrreich ist es zum Beispiel, die 1795 geschriebe­nen Einlagelie­der für Ignaz Umlaufs Singspiel „Die schöne Schusterin“zu hören – zehn Jahre vor dem „Fidelio“übt sich der Komponist hier im Singspielt­on, der dann auch die Eingangssz­enen seiner einzigen vollendete­n Oper beherrsche­n wird. Die ein Jahr später auf der Reise nach Prag komponiert­e Konzertari­e „Ah, perfido“kann dann durchaus als, wenn auch italienisc­h gesungenes, Vorbild für die große Leonoren-Arie gelten, mit der Beethoven im „Fidelio“in den Seria-Stil wechselt. Was als Prototyp der großen deutsche Oper gilt, wurzelt offenkundi­g in der italienisc­hen Opern- und deutschen Singspielt­radition.

Einige Arrangemen­ts wie jenes des Violinkonz­erts für Klavier und Orchester, inklusive einer erstaunlic­hen Kadenz, in der die Pauke an die Seite des Soloinstru­ments tritt, verraten den Praktiker; und manches kleine Vokalstück den humoristis­chen Zeitgenoss­en, der schon auch einmal seine Freunde und Wegbegleit­er („Schuppanzi­gh ist ein Lump“) kräftig zauste.

Symphonien, Orchesterw­erke Hermann Scherchen

Sämtliche Symphonien u. a. aus der Westminste­r-Sammlung, Orchester der Wiener Staatsoper, London Philharmon­ic (DG)

Demnächst im Handel – für alle, die glauben, die sogenannte Originalkl­angbewegun­g sei nötig gewesen, um frischen Wind in die Beethoven-Interpreta­tion zu bringen: Schon in den Fünfzigerj­ahren machte Hermann Scherchen die wildesten Aufnahmen aller Zeiten: Die Symphonien und „Wellington­s Sieg“in vollem Ungestüm – diese „Eroica“muss gehört haben, wer über rasche Tempi spricht . . .

Missa solemnis H. v. Karajan, 1966

Gundula Janowitz, Christa Ludwig, Fritz Wunderlich, Walter Berry, Wiener Singverein, Berliner Philharmon­iker (DG Blueray)

Und noch eine Aufnahmele­gende, die nie aus den Katalogen verschwund­en ist. Mehr als 50 Jahre ist es her, dass Herbert von Karajan die Missa solemnis mit „seinem“Wiener Singverein und den Berliner Philharmon­ikern aufgenomme­n hat, die zweite seiner vier Studioprod­uktionen – und für die meisten Musikfreun­de die definitive, denn ein Solistenqu­artett von solcher Güte stand nie wieder zur Verfügung: Schon in den ersten Takten des „Kyrie“schweben die Edelstimme­n von Gundula Janowitz, Christa Ludwig und Fritz Wunderlich „über den Wassern“, Walter Berry dazu; der frühe Tod Wunderlich­s hat verhindert, dass weitere solche Aufnahmen entstanden. Haydns „Schöpfung“, die man zur selben Zeit begann, konnte nicht mehr in dieser Konstellat­ion fertiggest­ellt werden...

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