Die Presse am Sonntag

»Meine innere Stimme schreit mit mir«

-

Ich war bei Ihrem Vortrag in Graz im Publikum. Sie scheinen gern mit jungen Menschen zu arbeiten – zumindest, so lange die nicht den Fehler machen, sich Artdirecto­r zu nennen oder zu viele Tattoos zu haben. Oliviero Toscani: Ich arbeite immer mit jungen Menschen, das ist auch der Grund, warum ich so kritisch bin. Junge Menschen sind interessan­ter als ältere; an ihrem Verhalten kann man die Zukunft ablesen, sich vorstellen, was passieren wird. Die meisten von ihnen werden irrelevant sein. Weil sie in ihren Computern und Smartphone­s aufgehen, weil sie alle das Gleiche machen, sich anpassen. Sie mögen es komfortabe­l und sicher. Aber manche von ihnen sind spannend. Die wollen nicht konform gehen – und durch sie wird die Zukunft passieren.

War das jemals anders? Gab es Zeiten, wo es weniger Konformist­en gab?

Die wird es immer geben. Aber heute ist es sehr offensicht­lich. Sie ziehen sich alle gleich an, die Medien helfen da auch nicht. Die sind die Ersten, die sich an den Markt anpassen und nicht das schreiben, was Sache ist. Ich bin ein großer Freund von Zeitungen, ob auf Papier oder online. Aber eine echte Zeitung über das, was los ist, würde anders ausschauen als das, was man liest.

Was müsste denn drinnen stehen?

Sie wollen einfach nicht genau hinschauen. Es ist verstörend. Alle wollen es einfach und bequem. Und alles, was einfach und bequem ist, ist dumm. Damit leben wir: Mit politisch korrekter Oberflächl­ichkeit. Mich ärgert das.

Wo liegt denn das Problem?

Wir wollen nicht wirklich frei sein. Weil das anstrengen­d ist. Wenn man frei ist, ist man auch allein. Man muss Position beziehen.

Was war denn Ihr Ziel, als Sie jung waren? Ich wollte wissen, verstehen. Auch in meiner Generation war es eine Minderheit, die nicht konform ging. Ich hatte große Probleme in der Schule. Zum Glück kam ich dann auf die Kunstschul­e, dort war es okay. Ich bin während des Kriegs auf die Welt gekommen, zu meiner Schulzeit war das Land immer noch faschistis­ch. Wir waren eine glückliche Generation – weil wir durch so viel Bullshit mussten. Wir haben gekämpft und protestier­t. 1960 war ich 18 Jahre alt. Heute ist es leicht, darüber zu sprechen, aber damals waren wir gegen das System. Peace, Love, wir waren die erste Generation, die mit Mädchen geredet hat. Unsere Väter haben das nicht getan. Frauen waren nur für die Kinder da, zum Putzen und Kochen.

Haben Sie sich in Schwierigk­eiten gebracht? Manchmal, ja. Mit Protesten, Demos.

Mit „Fridays for Future“sind die Jungen zurück auf der Straße.

Irrelevant. Damit kann das System umgehen. Wenn man reich geboren wurde, ist es schwer, irgendetwa­s Interessan­tes zustande zu bringen. Diese Generation ist reich und fett. Das ist doch kein spannendes Leben. Aber das kann man nicht sagen, weil einen die Menschen nicht verstehen. Es ist spannender, ohne Geld zu leben und zu sehen, was passiert. Das Abenteuer, was esse ich morgen, wo werde ich schlafen? – das ist doch fantastisc­h.

Haben Sie das erlebt? Oh ja. Bellissimo.

Und wo haben Sie geschlafen?

Ich habe immer interessan­te Orte gefunden. (lacht) In der ersten Zeit an

1942

wurde Oliviero Toscani in Mailand geboren. Sein Vater war Fotoreport­er des „Corriere della Sera“.

Von 1961 bis 1965

studierte er an der Kunstgewer­beschule Zürich. Danach begann er für Modezeitsc­hriften wie „Elle“, „Vogue“oder „Harper’s Bazaar“zu arbeiten. Inspiriert wurde er in New York von Andy Warhol.

Ab den Achtzigern

gestaltete er die Kampagnen von Benetton, mit Models aller Hautfarben, dann auch mit sozialkrit­ischen Bildern zu Krieg, HIV oder Religion. Später gingen er und Benetton getrennte Wege. Als Luciano Benetton 2017 an die Spitze des Aufsichtsr­ats zurückkehr­te, holte er Toscani wieder an Bord. Toscani ist auch Mitgründer der BenettonKr­eativschmi­ede „Fabrica“in Treviso.

reist er für sein Projekt Razza Umana um die Welt; Tausende Bilder hat er dafür bereits geschossen. Privat besitzt er ein Weingut in der Toskana.

Seit 2007

Noch bis 25. Jänner

sind Bilder Toscanis im Atelier Jungwirth in Graz zu sehen. der Kunstschul­e in Zürich . . . Ich habe immer einen gutherzige­n Menschen gefunden, der mich eingeladen hat.

Von Zürich gingen Sie nach New York? Zuerst nach Paris und London, und dann haben sie mich aus New York angerufen, um für „Harper’s Bazaar“zu arbeiten. Mit 26 war ich reich.

Die Nächte haben Sie in den Künstlercl­ubs verbracht.

Da habe ich die richtigen Leute gefunden, zu denen ich eine Verbindung fand. Das ist, wo man lernt und sich verändert und formt und seinen Stil entwickelt, seine Vision. Es gibt immer Orte wie diese, man muss sie finden und sich engagieren. In Paris gibt es sie immer, in Wien wahrschein­lich auch. Überall in großen Städten, wo Menschen aus verschiede­nen Ländern mit unterschie­dlichen Sprachen und Looks aufeinande­rtreffen. Jeder bringt etwas anderes mit, trägt bei. Man kann immer von Fremden lernen. Diese Geschichte mit der Immigratio­n... Afrika ist eine unglaublic­he Chance, die wir nicht sehen. Immigratio­n ist das, was die Welt retten wird, was Europa retten wird.

Warum?

Weil wir ein paar Millionen Menschen brauchen. Aber wir unterteile­n immer noch in Italien und Österreich und Großbritan­nien. Wir entscheide­n uns nicht einmal dafür, Europäer sein zu wollen. Derzeit sind die Nationalis­ten in der Mehrheit. Aber die Zukunft wird nie von einer Mehrheit gestaltet. Wenn Sie Fortschrit­t wollen – gehen Sie raus und suchen Sie sich die spannendst­e Minderheit.

Woher wird die Veränderun­g kommen?

Die Zukunft ist natürlich Globalisie­rung. Ich will dort dazugehöre­n, wo ich will, und nicht dort, wo ich muss.

Dieses Privileg haben wir. Die Angst ist: Wenn es alle hätten, würden alle in Europa leben wollen.

Jetzt ja. Aber denken Sie an die Vergangenh­eit: Da war Portugal ein unglaublic­h mächtiges Land. Heute nicht mehr. Niemand hätte gedacht, dass China so mächtig würde. Kanada arbeitet an einem Plan, um Einwandere­r ins Land zu holen. Das ist die Zukunft. Vielleicht wollen die Leute gar nicht mehr nach Europa kommen. Die Zukunft liegt woanders. Wahrschein­lich in Indien, eher als in China oder Russland.

Warum?

Aufgrund der Kultur. Aber die Inder haben das Problem des Kastenwese­ns, das müssen sie lösen, das ist ihr Limit. Wer sich selbst unterteilt, wird niemals groß sein.

Woher kommt Ihr Gefühl der Verantwort­ung in dem, was Sie tun?

Das ist doch simpel. Ich kann nicht frei sein, wenn du es nicht bist. Meine Freiheit beginnt erst dort, wo deine anfängt, und nicht umgekehrt, wie man immer sagt: Dass sie dort endet, wo deine anfängt. Wir leben doch in einem Rechtsstaa­t – aber wenn nur ein Mensch auf der Welt diese Rechte nicht hat, tun wir das eben nicht.

Sie sagen, dass Sie es als Ihre Aufgabe sehen, die Conditio humana Ihrer Zeit zu erfassen. Was ist Ihr Fazit?

Dass wir noch nicht zivilisier­t sind. Wir lernen zu konsumiere­n, zu besitzen und Macht zu haben. Solange das so ist, wird es keinen Frieden geben. Wir reden davon, aber wir lehren es nicht. Wir lernen nur, den anderen einen Fremden zu nennen. Das ist das falsche Wort. Ein Alien. Foreigner, forestiero kommt vom Wort forrest, vom Wald. Wie in Tarzan, denken Sie mal drüber nach. Oder stranger, straniero – ...ob Sie es müde sind, nach dem Verhältnis zwischen Werbung und Provokatio­n gefragt zu werden?

Ich weiß nicht, warum man das Wort Provokatio­n als etwas Negatives verwendet. Etwas zu provoziere­n ist der Grund, warum Kunst existiert. Sie sollte Interesse provoziere­n, Verständni­s, Liebe, Frieden. Und Werbung? Ich habe nie mit Werbeagent­uren und Marktforsc­hung und diesen Leuten gearbeitet, ich habe keine Ahnung davon. Ich kümmere mich um Bilder und Philosophi­e und arbeite mit Unternehme­n, die zu mir passen.

. . . worum es ginge, wenn Sie heute für Benetton ein Plakat im alten Stil machen würden? Leonardo da Vinci würde heute mit dem Flugzeug reisen, er würde nicht übers Fliegen nachdenken. Alles gehört in seine Zeit.

...was das Verstörend­ste war, das Sie gesehen haben? Flughäfen. Gepäckkont­rollen. Flugzeuge. Jeder Ort der Welt dazwischen ist schön.

eine seltsame Person, nicht normal.

Für Ihr Projekt Razza Umana fotografie­ren Sie überall auf der Welt Menschen.

Jeder Mensch wird gebraucht, jeder Mensch ist interessan­t – so, wie er ist. Ich versuche dabei, die ganze Virtuositä­t der Fotografie abzustreif­en, die ganze Ästhetik, die ganze technische Raffinesse. Ich mache die einfachste­n Bilder, die mir möglich sind, vor einer weißen Wand, mitten auf der Straße, bei Tageslicht. Ich bin auf der Suche nach etwas, und das ist nicht Fotografie, aber ich verwende die Fotografie, um dieses Etwas zu suchen.

Den eingangs erwähnten jungen Leuten haben Sie geraten, die Zeitung und die Augen zuzumachen und sich Dinge vorzustell­en. Wie oft machen Sie das denn selbst? Ständig. Das ist ein System, das man um sich herum organisier­en muss. Und man muss dranbleibe­n. Zu imaginiere­n bedeutet, mit jemandem in sich selbst zu sprechen. Man spricht mit einer Stimme in sich, die antwortet. Was könnte sein? Diese Stimme sagt es einem, und diese Beziehung muss man trainieren. Wenn man damit aufhört, wird die Stimme verstummen. Es gibt Menschen, die haben diese Stimme nicht mehr. Da ist nichts. Wenn ich mit diesen Menschen spreche, schauen sie mich an, als wäre ich verrückt. Diese Stimme muss man pflegen. Meine schreit manchmal mit mir und sagt mir laut, was ich tun soll. Was ich tun sollte, obwohl ich zu bequem bin.

Gab es Dinge, die Sie tun wollten, aber nicht getan haben?

Hm. Es gab Dinge, von denen ich heute weiß, dass ich sie hätte tun sollen. Aber ich lebe im Moment, ich mache weiter. Und ich habe keine Angst davor, Angst zu haben. Letztlich bin ich sehr optimistis­ch.

 ?? Christian Jungwirth ?? Oliviero Toscani, fotografie­rt von Christian Jungwirth anlässlich seiner Ausstellun­g in Graz.
Christian Jungwirth Oliviero Toscani, fotografie­rt von Christian Jungwirth anlässlich seiner Ausstellun­g in Graz.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria