Pragmatismus mit grünem Antlitz
Sicherungshaft, U-Ausschuss, Asylzentren. Die ÖVP macht es ihrem Juniorpartner nicht gerade leicht. Bisher gelingt die Dehnübung. Demnächst müsse man aber aufholen, heißt es aus der Partei.
Für erste Bilanzen über die neue Regierung ist es – nach nicht einmal drei Wochen Amtszeit – noch zu früh. Aber eines lässt sich schon sagen: Die ÖVP macht dort weiter, wo sie mit den Freiheitlichen aufgehört hat. Kanzler Sebastian Kurz und sein Message-Control-Orchester spielen wieder auf der Migrationsklaviatur, jede Woche ein neues Stück.
Und was machen die Grünen? Sie bewegen sich im türkisen Takt. „Derzeit herrscht in der Regierung eine volle Schieflage. Die ganze Republik arbeitet sich an den Themen ab, die die ÖVP vorgibt, um ihre freiheitlichen Wähler zu befriedigen“, sagt Helga Krismer. Die niederösterreichische GrünenChefin macht ihren Kollegen und Kolleginnen im Bund aber keinen Vorwurf: „Während die Grünen alle Kabinette neu aufstellen müssen, konnte die ÖVP sofort die Arbeit aufnehmen. Und sie nutzt diesen Vorteil schamlos aus.“
Da ist was dran. Die Grünen haben einen organisatorischen Startnachteil. Und inhaltlich sind sie noch damit beschäftigt, den Koalitionspakt zu verarbeiten, in dem sie Abstriche machen mussten: Stichwort Sicherungshaft. Gemeinsam mit der ÖVP schränkten sie diese Woche auch die Themenpalette des neuen Untersuchungsausschusses ein. Auf der Liste steht nur noch die Casinos-Affäre, obwohl die Opposition auch die Reform der Finanzmarktaufsicht und die Ibiza-Affäre untersuchen wollte. Der Verfassungsgerichtshof wird klären, ob das Minderheitenrecht bei U-Ausschüssen – das die Grünen einst durchgesetzt haben – verletzt wurde.
Forsche Linke a. D. Nach außen argumentieren muss all das Sigrid Maurer. Sie ist das Gesicht des grünen Pragmatismus. Einst forsche Linke, flüchtet sie zwecks Selbstverteidigung nun in Interviews öfter in Allgemeinplätze. Denn sie hat einen undankbaren Job. Als Klubobfrau ist sie das Bindeglied zwischen der Regierung und einem Parlamentsklub, dessen Mitglieder in Summe wohl deutlich idealistischer und weniger obrigkeitshörig sind als jene der ÖVP. Wobei die Stimmung ebendort nicht die Empörung der sozialen Medien widerspiegelt. Faika El-Nagashi, die neue Integrations- und Diversitätssprecherin, kritisierte den Pakt mit der ÖVP vor der Angelobung: „Das ist nicht meine Weltanschauung, nicht meine Haltung, nicht meine Politik“, schrieb sie am 5. Jänner auf Facebook und bezog sich vor allem auf die Menschenrechtspolitik. Sie sei immer noch kritisch, sagt El-Nagashi nun. Aber eine inhaltliche Beurteilung sei erst möglich, wenn es Gesetzesvorschläge gebe. Sie werde jedenfalls das Gespräch suchen, in ihrem Bereich mit Integrationsministerin Susanne Raab.
Der grüne Klub wolle mithelfen, das Regierungsprogramm umzusetzen, sagt ein Abgeordneter, der nicht genannt werden möchte. Und es stimme auch nicht, dass man sich beim U-Ausschuss habe verbiegen müssen: „Wären wir in der Opposition, hätten wir uns genauso entschieden. Wir wollen keinen Kraut-und-RübenAusschuss.“Nur bei der Sicherungshaft ist man geschlossen skeptisch bis ablehnend: „Das braucht eine Verfassungsänderung, und die ist aus grüner Sicht unmöglich“, so Europasprecher Michel Reimon im ORF-Radio.
Manch einer im grünen Klub gibt auch zu, dass die Stimmung angespannt ist. Aber das liege in erster Linie an der ÖVP, die Dinge verspreche, die nicht ausgemacht seien. Innenminister Karl Nehammer kündigte Anhaltezentren
an der Grenze an, in denen Flüchtlinge ihr Asylverfahren abwarten müssten. Sigrid Maurer korrigierte ihn tags darauf: Der Kollege Nehammer habe „unpräzise formuliert“. Geplant seien kleine Zentren mit maximal 200 Personen, in denen nur die Zulassung zum Asylverfahren abgewickelt werde.
Morgens beim Bäcker. Geärgert haben sich die Grünen auch über Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger, die (den Bauern) in einem Interview mit der „Tiroler Tageszeitung“versprochen hat, dass das Dieselprivileg erhalten bleibt. Dabei ist das gar nicht vereinbart. ÖVP-Klubobmann August Wöginger soll sich noch vor Erscheinen des Interviews bei Sigrid Maurer entschuldigt haben. Die Grünen fragen sich nun, ob Nehammer und Köstinger bloß Fehler unterlaufen sind – oder ob es sich „um die übliche Panzerstrategie der ÖVP“handelt, wie das ein grüner Landespolitiker mit Volkspartei-Erfahrung formuliert: „Erst einmal drüberfahren und dann schauen, was passiert.“Aber das, sagt er, müssten die Grünen aushalten. Entscheidend sei nur das letzte Jahr vor der Wahl.
Fürs Erste gehe es darum, das Regierungshandwerk zu erlernen. Dass Werner Kogler diese Woche mit Kanzler Sebastian Kurz und Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck eine Wiener Bäckerei besucht hat, sorgt in jenen Ländern, in denen die Grünen schon länger mit der ÖVP regieren, für Kopfschütteln: „Das macht man so nicht. Denn es wirkt, als hätte Kurz seine beiden Sekretäre mitgebracht.“
Wobei, umgekehrt, die grüne Bildungssprecherin Sibylle Hamann auch beobachtet, wie Grüne Türkise bei Auftritten verunsichern: „Die ÖVP kann uns noch schlecht einschätzen. Wir reden spontaner, agieren autonomer. Wenn Kurz und Kogler nebeneinander stehen und der Werner zu reden beginnt und von dem einen Thema beim anderen landet, merkt man die totale Irritation, die das für die perfekte Maschine der ÖVP bedeutet. Es knirscht. Aber es ist ein gutes Knirschen, es ist produktiv für die politische Kultur.“
Generell lässt man bei den Grünen Nachsicht mit der Parteispitze walten. Vor einigen Monaten habe es im Nationalrat gar keine Grünen gegeben. Nun müssten, neben dem Regieren, auch die Strukturen im Parlament neu aufgebaut werden. Der grüne Klub braucht Mitarbeiter, über 1000 Personen haben sich beworben. „Diese Bewerbungen muss man erst einmal sichten“, sagt ein Grüner. Dem Vernehmen nach wird auch nach Leuten gesucht, die an Schnittstellen Vermittlungsrollen einnehmen: zwischen Regierung und Parlament, zwischen Bundespartei und Landesparteien. Die Kommunikation mit der Basis übernehmen die Landesparteien. Natürlich seien einige Funktionäre nervös, heißt es in Westösterreich. „Aber die Lage ist noch nicht überreizt. Wir vermitteln den Leuten, dass Regieren mit der ÖVP ein Marathon ist, kein Sprint.“
Das Wohlwollen der Länder wird langfristig von den grünen Erfolgen abhängen. Bei der Sicherungshaft oder bei den Asylzentren sei ja noch nichts geschehen, so ein Grüner: „Am Ende zählt, was im Gesetz steht.“Derzeit genießt Koglers Team einen großen Vertrauensvorschuss. Das sieht auch Helga Krismer so. Und betont: Letztlich gehe es nicht darum, was die Funktionäre, sondern die Wähler sagen. Und an denen, glaubt Krismer, die im Gemeinderatswahlkampf viele Hausbesuche absolviert hat, würden Debatten über U-Ausschüsse und Sicherungshaft vorbeigehen: „Das sind lauter ungelegte Eier, das ist für die Leute nicht greifbar. Die wollen nur eines: nicht schon wieder neue Wahlen.“Auch Steiermarks Grünen-Chefin, Sandra Krautwaschl, berichtet von positivem Feedback: „Ich glaube, die Leute schätzen, dass wir zeigen, dass wir pragmatisch sein können. Dass wir Verantwortung übernehmen, obwohl es für uns schwierig ist.“
Knackpunkt. Ob der Pragmatismus den Grünen langfristig nutzt – indem sie in der Mitte Wähler gewinnen – oder ob er schadet, lasse sich nicht sagen, so Meinungsforscher Peter Hajek. Die Umfrage, die die Grünen auf Platz zwei sieht, sei ein Indiz, dass den Grünen Pragmatismus gut stehe: Sie wurde zu einem Zeitpunkt gemacht, als das Regierungsprogramm bereits diskutiert wurde. Momentan, sagt Hajek, „funktioniert die Erzählung vom kleineren Partner, der Dinge mittragen muss. Der Knackpunkt kommt bei der Umsetzung.“Kommt etwa die Sicherungshaft, werde sich zeigen, wie loyal grüne Wähler sind. Wobei Hajek aus Befragungen zur Wahl 2017 weiß, dass „bei Weitem nicht alle Grün-Wähler gegen eine konsequente Migrationspolitik sind“. Insofern seien Migrationsfragen für die Grünen – „außer sie verraten Grundwerte“– weniger heikel, als man denke.
Dennoch müsse sich über kurz oder lang die Performance von ÖVP und Türkis im Bund angleichen, sagt Krismer: „Ich gehe davon aus, dass das bis Sommer klappt.“Nachsatz: „Wenn es in einem Jahr immer noch so eine Schieflage gibt, haben wir ein Problem.“Ein Landespolitiker, der ungenannt bleiben will, wagt eine düsterere Prognose: „Die ÖVP wird zwei Jahre lang versuchen, ihr Zeug durchzubringen, dann gibt es ein Jahr Streit, und dann wird gewählt.“Die Sache sei nämlich die: Niemand bei den Grünen glaube ernsthaft, dass die Regierung die ganze Legislaturperiode durchhalte.
Beim Dieselprivileg soll sich Wöginger bereits im Vorhinein entschuldigt haben.
In einem Jahr müsse die Schieflage in der Regierung behoben sein, sagt Krismer.