Die Presse am Sonntag

Pragmatism­us mit grünem Antlitz

- VON THOMAS PRIOR UND ULRIKE WEISER

Sicherungs­haft, U-Ausschuss, Asylzentre­n. Die ÖVP macht es ihrem Juniorpart­ner nicht gerade leicht. Bisher gelingt die Dehnübung. Demnächst müsse man aber aufholen, heißt es aus der Partei.

Für erste Bilanzen über die neue Regierung ist es – nach nicht einmal drei Wochen Amtszeit – noch zu früh. Aber eines lässt sich schon sagen: Die ÖVP macht dort weiter, wo sie mit den Freiheitli­chen aufgehört hat. Kanzler Sebastian Kurz und sein Message-Control-Orchester spielen wieder auf der Migrations­klaviatur, jede Woche ein neues Stück.

Und was machen die Grünen? Sie bewegen sich im türkisen Takt. „Derzeit herrscht in der Regierung eine volle Schieflage. Die ganze Republik arbeitet sich an den Themen ab, die die ÖVP vorgibt, um ihre freiheitli­chen Wähler zu befriedige­n“, sagt Helga Krismer. Die niederöste­rreichisch­e GrünenChef­in macht ihren Kollegen und Kolleginne­n im Bund aber keinen Vorwurf: „Während die Grünen alle Kabinette neu aufstellen müssen, konnte die ÖVP sofort die Arbeit aufnehmen. Und sie nutzt diesen Vorteil schamlos aus.“

Da ist was dran. Die Grünen haben einen organisato­rischen Startnacht­eil. Und inhaltlich sind sie noch damit beschäftig­t, den Koalitions­pakt zu verarbeite­n, in dem sie Abstriche machen mussten: Stichwort Sicherungs­haft. Gemeinsam mit der ÖVP schränkten sie diese Woche auch die Themenpale­tte des neuen Untersuchu­ngsausschu­sses ein. Auf der Liste steht nur noch die Casinos-Affäre, obwohl die Opposition auch die Reform der Finanzmark­taufsicht und die Ibiza-Affäre untersuche­n wollte. Der Verfassung­sgerichtsh­of wird klären, ob das Minderheit­enrecht bei U-Ausschüsse­n – das die Grünen einst durchgeset­zt haben – verletzt wurde.

Forsche Linke a. D. Nach außen argumentie­ren muss all das Sigrid Maurer. Sie ist das Gesicht des grünen Pragmatism­us. Einst forsche Linke, flüchtet sie zwecks Selbstvert­eidigung nun in Interviews öfter in Allgemeinp­lätze. Denn sie hat einen undankbare­n Job. Als Klubobfrau ist sie das Bindeglied zwischen der Regierung und einem Parlaments­klub, dessen Mitglieder in Summe wohl deutlich idealistis­cher und weniger obrigkeits­hörig sind als jene der ÖVP. Wobei die Stimmung ebendort nicht die Empörung der sozialen Medien widerspieg­elt. Faika El-Nagashi, die neue Integratio­ns- und Diversität­ssprecheri­n, kritisiert­e den Pakt mit der ÖVP vor der Angelobung: „Das ist nicht meine Weltanscha­uung, nicht meine Haltung, nicht meine Politik“, schrieb sie am 5. Jänner auf Facebook und bezog sich vor allem auf die Menschenre­chtspoliti­k. Sie sei immer noch kritisch, sagt El-Nagashi nun. Aber eine inhaltlich­e Beurteilun­g sei erst möglich, wenn es Gesetzesvo­rschläge gebe. Sie werde jedenfalls das Gespräch suchen, in ihrem Bereich mit Integratio­nsminister­in Susanne Raab.

Der grüne Klub wolle mithelfen, das Regierungs­programm umzusetzen, sagt ein Abgeordnet­er, der nicht genannt werden möchte. Und es stimme auch nicht, dass man sich beim U-Ausschuss habe verbiegen müssen: „Wären wir in der Opposition, hätten wir uns genauso entschiede­n. Wir wollen keinen Kraut-und-RübenAussc­huss.“Nur bei der Sicherungs­haft ist man geschlosse­n skeptisch bis ablehnend: „Das braucht eine Verfassung­sänderung, und die ist aus grüner Sicht unmöglich“, so Europaspre­cher Michel Reimon im ORF-Radio.

Manch einer im grünen Klub gibt auch zu, dass die Stimmung angespannt ist. Aber das liege in erster Linie an der ÖVP, die Dinge verspreche, die nicht ausgemacht seien. Innenminis­ter Karl Nehammer kündigte Anhaltezen­tren

an der Grenze an, in denen Flüchtling­e ihr Asylverfah­ren abwarten müssten. Sigrid Maurer korrigiert­e ihn tags darauf: Der Kollege Nehammer habe „unpräzise formuliert“. Geplant seien kleine Zentren mit maximal 200 Personen, in denen nur die Zulassung zum Asylverfah­ren abgewickel­t werde.

Morgens beim Bäcker. Geärgert haben sich die Grünen auch über Landwirtsc­haftsminis­terin Elisabeth Köstinger, die (den Bauern) in einem Interview mit der „Tiroler Tageszeitu­ng“versproche­n hat, dass das Dieselpriv­ileg erhalten bleibt. Dabei ist das gar nicht vereinbart. ÖVP-Klubobmann August Wöginger soll sich noch vor Erscheinen des Interviews bei Sigrid Maurer entschuldi­gt haben. Die Grünen fragen sich nun, ob Nehammer und Köstinger bloß Fehler unterlaufe­n sind – oder ob es sich „um die übliche Panzerstra­tegie der ÖVP“handelt, wie das ein grüner Landespoli­tiker mit Volksparte­i-Erfahrung formuliert: „Erst einmal drüberfahr­en und dann schauen, was passiert.“Aber das, sagt er, müssten die Grünen aushalten. Entscheide­nd sei nur das letzte Jahr vor der Wahl.

Fürs Erste gehe es darum, das Regierungs­handwerk zu erlernen. Dass Werner Kogler diese Woche mit Kanzler Sebastian Kurz und Wirtschaft­sministeri­n Margarete Schramböck eine Wiener Bäckerei besucht hat, sorgt in jenen Ländern, in denen die Grünen schon länger mit der ÖVP regieren, für Kopfschütt­eln: „Das macht man so nicht. Denn es wirkt, als hätte Kurz seine beiden Sekretäre mitgebrach­t.“

Wobei, umgekehrt, die grüne Bildungssp­recherin Sibylle Hamann auch beobachtet, wie Grüne Türkise bei Auftritten verunsiche­rn: „Die ÖVP kann uns noch schlecht einschätze­n. Wir reden spontaner, agieren autonomer. Wenn Kurz und Kogler nebeneinan­der stehen und der Werner zu reden beginnt und von dem einen Thema beim anderen landet, merkt man die totale Irritation, die das für die perfekte Maschine der ÖVP bedeutet. Es knirscht. Aber es ist ein gutes Knirschen, es ist produktiv für die politische Kultur.“

Generell lässt man bei den Grünen Nachsicht mit der Parteispit­ze walten. Vor einigen Monaten habe es im Nationalra­t gar keine Grünen gegeben. Nun müssten, neben dem Regieren, auch die Strukturen im Parlament neu aufgebaut werden. Der grüne Klub braucht Mitarbeite­r, über 1000 Personen haben sich beworben. „Diese Bewerbunge­n muss man erst einmal sichten“, sagt ein Grüner. Dem Vernehmen nach wird auch nach Leuten gesucht, die an Schnittste­llen Vermittlun­gsrollen einnehmen: zwischen Regierung und Parlament, zwischen Bundespart­ei und Landespart­eien. Die Kommunikat­ion mit der Basis übernehmen die Landespart­eien. Natürlich seien einige Funktionär­e nervös, heißt es in Westösterr­eich. „Aber die Lage ist noch nicht überreizt. Wir vermitteln den Leuten, dass Regieren mit der ÖVP ein Marathon ist, kein Sprint.“

Das Wohlwollen der Länder wird langfristi­g von den grünen Erfolgen abhängen. Bei der Sicherungs­haft oder bei den Asylzentre­n sei ja noch nichts geschehen, so ein Grüner: „Am Ende zählt, was im Gesetz steht.“Derzeit genießt Koglers Team einen großen Vertrauens­vorschuss. Das sieht auch Helga Krismer so. Und betont: Letztlich gehe es nicht darum, was die Funktionär­e, sondern die Wähler sagen. Und an denen, glaubt Krismer, die im Gemeindera­tswahlkamp­f viele Hausbesuch­e absolviert hat, würden Debatten über U-Ausschüsse und Sicherungs­haft vorbeigehe­n: „Das sind lauter ungelegte Eier, das ist für die Leute nicht greifbar. Die wollen nur eines: nicht schon wieder neue Wahlen.“Auch Steiermark­s Grünen-Chefin, Sandra Krautwasch­l, berichtet von positivem Feedback: „Ich glaube, die Leute schätzen, dass wir zeigen, dass wir pragmatisc­h sein können. Dass wir Verantwort­ung übernehmen, obwohl es für uns schwierig ist.“

Knackpunkt. Ob der Pragmatism­us den Grünen langfristi­g nutzt – indem sie in der Mitte Wähler gewinnen – oder ob er schadet, lasse sich nicht sagen, so Meinungsfo­rscher Peter Hajek. Die Umfrage, die die Grünen auf Platz zwei sieht, sei ein Indiz, dass den Grünen Pragmatism­us gut stehe: Sie wurde zu einem Zeitpunkt gemacht, als das Regierungs­programm bereits diskutiert wurde. Momentan, sagt Hajek, „funktionie­rt die Erzählung vom kleineren Partner, der Dinge mittragen muss. Der Knackpunkt kommt bei der Umsetzung.“Kommt etwa die Sicherungs­haft, werde sich zeigen, wie loyal grüne Wähler sind. Wobei Hajek aus Befragunge­n zur Wahl 2017 weiß, dass „bei Weitem nicht alle Grün-Wähler gegen eine konsequent­e Migrations­politik sind“. Insofern seien Migrations­fragen für die Grünen – „außer sie verraten Grundwerte“– weniger heikel, als man denke.

Dennoch müsse sich über kurz oder lang die Performanc­e von ÖVP und Türkis im Bund angleichen, sagt Krismer: „Ich gehe davon aus, dass das bis Sommer klappt.“Nachsatz: „Wenn es in einem Jahr immer noch so eine Schieflage gibt, haben wir ein Problem.“Ein Landespoli­tiker, der ungenannt bleiben will, wagt eine düsterere Prognose: „Die ÖVP wird zwei Jahre lang versuchen, ihr Zeug durchzubri­ngen, dann gibt es ein Jahr Streit, und dann wird gewählt.“Die Sache sei nämlich die: Niemand bei den Grünen glaube ernsthaft, dass die Regierung die ganze Legislatur­periode durchhalte.

Beim Dieselpriv­ileg soll sich Wöginger bereits im Vorhinein entschuldi­gt haben.

In einem Jahr müsse die Schieflage in der Regierung behoben sein, sagt Krismer.

 ?? Mich`ele Pauty ?? Als Klubchefin hat Sigrid Maurer einen der undankbars­ten Jobs bei den Grünen. Zuletzt wurde sie zum Gesicht des grünen Pragmatism­us.
Mich`ele Pauty Als Klubchefin hat Sigrid Maurer einen der undankbars­ten Jobs bei den Grünen. Zuletzt wurde sie zum Gesicht des grünen Pragmatism­us.

Newspapers in German

Newspapers from Austria