Innen rundum gerüstet
Unsere Knochen stützen uns nicht nur, sie schützen uns auch, mechanisch und mit einem breit im Körper wirksamen Hormon, Osteocalcin.
Osteocalcin ist für die Entwicklung des Gehirns so wichtig wie für die der Hoden.
Wozu haben wir Knochen? Na ja, sie stützen uns, halten uns zusammen und aufrecht; sie schützen uns, ummanteln das Gehirn wie die Organe im Brustkorb und die im Becken; sie nähren uns, mit der Freisetzung von Mineralstoffen – Kalzium vor allem und Phosphat –, sie entgiften uns, lagern Schwermetalle ein; und sie versorgen uns mit dem Saft des Lebens, mit hämatopoetischen Stammzellen, das sind Vorläuferzellen des Bluts und des Immunsystems.
All das braucht Feinstregulierung: So hart Knochen sind, sind sie doch nichts Statisches, sondern in dauerndem Wandel, sie werden unentwegt auf- und abgebaut, von Osteoblasten und Osteoklasten. Deren Zusammenspiel erneuert unsere Knochen alle sieben bis zehn Jahre – nicht alle gleich rasch –, und wenn es durcheinandergerät, droht im einen Fall, bei überproduzierenden Osteoblasten, Versteinerung, Osteopetrose, im anderen Ausdünnung, Osteoporose.
Gehalten wird die Balance durch Zytokine – wachstumsregulierende Proteine – in den Knochen selbst und durch Signalstoffe von anderswo im Körper, etwa durch Leptin aus Fettzellen oder, gefürchteter, durch das weibliche Sexualhormon Östrogen: Wenn es im Klimakterium schwindet, schwinden auch die Knochen. Allerdings sind diese nicht schlichte Signal- bzw. Befehlsempfänger, sie senden auch Botenstoffe, vor allem das von den Osteoblasten produzierte Hormon Osteocalcin. Ob dieses für die Knochen selbst eine Funktion hat, ist unklar, aber für den Rest des Körpers ist seine Bedeutung kaum zu überschätzen, es ist für die Entwicklung des Gehirns – und später für das Halten des Gedächtnisses – so wichtig wie für die der Hoden.
Diese Versatzstücke trägt Ge´rard Karsenty (Columbia University) fast im Alleingang zusammen, seit er 2006 an Mäusen bemerkte, dass Übergewicht vor Osteoporose schützt, und das dadurch, dass Leptin aus Fettzellen in Knochen die Produktion der Osteoblasten
anregt. Das weckte in ihm den Verdacht, es könne auch Signale in die Gegenrichtung geben, und die potenziellen von Osteocalcin erkundet er an Mäusen, denen er das zuständige Gen ausschaltet. Wo er hinschaut, wird er fündig, die erste Überraschung kam 2007 beim Stoffwechsel: Mäuse ohne Osteocalcin verfetten und entwickeln Insulin-Resistenz, die Vorstufe von Diabetes. Denn das Hormon aus den Knochen fördert die Produktion von Insulin in der Bauchspeicheldrüse und zugleich seine Aufnahme anderswo im Körper (Cell 130, S. 456).
Als Nächstes kamen die von Osteocalcin auch angeregten Muskeln, und dann die Hoden, deren frühes Gedeihen Osteocalcin dadurch vorantreibt, dass es die Produktion des männlichen Sexualhormons Testosteron stärkt (Cell 144, S. 796). Schließlich kam noch das Gehirn, das werdende im Embryo und das gefährdete im Alter: Wenn Mäuse im Uterus nicht mit Osteocalcin aus den Knochen der Mütter versorgt werden, bleibt die Entwicklung ihres Gehirns zurück, und die von dessen Leistungskraft auch, ihre Lernfähigkeit leidet, und sie können sich nur schwer im Raum orientieren (Cell 155, S. 228).
Gedächtnisstütze. Dies erkundete Karsenty im Alleingang, für das Geschehen im alternden Gehirn tat er sich mit Eric Kandel zusammen, dem aus Wien emigrierten und auch an der Columbia University arbeitenden Gedächtnisforscher, der anno 2000 mit dem Nobelpreis geehrt wurde und sich vor allem auf Demenz konzentriert: Diese kommt in ihrer gefürchtetsten Form als Morbus Alzheimer, das Vergessen kann sich aber auch auf anderen Wegen ins Gehirn einschleichen bzw. in das für das Gedächtnis zuständige Zentrum, den Hippocampus. Der wird dann ganz anders geschädigt als bei Alzheimer, und dahinter steht das mit dem Schwinden der Knochen im Alter auch schwindende Osteocalcin (Cell Reports 25, S. 959).
Aber bevor Hoden oder Gehirn – oder Knochen selbst – entstehen können, muss erst einmal ein Embryo da sein bzw. sich in den Uterus einnisten. Dass es auch dazu Knochen braucht – die der werdenden Mutter –, ist ausnahmsweise nicht Karsenty aufgefallen. Sondern Reshef Tal (Yale). Es hat auch nichts mit Osteocalcin zu tun, sondern mit den Stammzellen, die aus dem Knochenmark kommen: Sie können sich nicht nur zu roten und weißen Blutzellen differenzieren, sondern auch zu Zellen anderer Gewebe. Unter anderem zu denen des Endometriums, das den Uterus auskleidet, dazu braucht es Osteocalcin, und wenn es an dem fehlt, können Embryos sich nicht einnisten, bei Mäusen, Tal vermutet stark, dass es bei Menschen auch so ist (PLoS Biology 12. 9.).
Aber wenn das Einnisten gelingt, kommen irgendwann auch Knorpel und dann Knochen, bei Neugeborenen sind es über 300, bei Erwachsenen um die 200 – viele zunächst getrennte verwachsen miteinander –, der mächtigste ist der des Oberschenkels, die zartesten sitzen im Innenohr, mit dessen Knöchelchen hören wir. Etwa Gefahren nahen, es dient also wieder dem Schutz, und unter dessen Begriffsdach hat Karsenty mit seinem jüngsten Fund alles zusammengezogen, Physiologie und Verhalten: Wenn ein Tier eine Bedrohung bemerkt, heben sich Atem- und Pulsfrequenz, Energiereserven werden frei, und das Gehirn kommt vor eine überlebensentscheidende Wahl: Fight or flight!
All das rechnet man bisher Stresshormonen wie Adrenalin zu, die aus besonderen Drüsen kommen, aber der zentrale Spieler ist wieder Osteocalcin: Selbst wenn keine anderen Stresshormone im Spiel sind, bringt es die Reaktion in Schwung (Cell Metabolism, 12. 9.). Das hat Karsenty an Mäusen gezeigt, die er mit Katzenurin in Stress brachte, er hat dann, wie bei allen früheren Experimenten, vieles durchgespielt, bis hin zum Spritzen von Osteocalcin ohne Stress: Auch das wirkte.
Aber diesmal ist er weitergegangen von Mäusen zu Menschen, er fand den Effekt auch an Testpersonen, die eine Rede vor Publikum halten sollten, und das lässt ihn verallgemeinern: „Man könnte argumentieren, dass die klassischen Schutzfunktionen von Knochen und die hormonellen den Wirbeltieren einen Überlebensvorteil in einer feindlichen Umwelt bringen.“
Osteocalcin hilft bei einer überlebenswichtigen Entscheidung: Fight or flight!
s gibt Skifahrer, die weit mehr Siege auf dem Konto haben. Aber die wirklich großen Rennen gewinnt Matthias „Mothl“Mayer. Olympia-Gold 2014, OlympiaGold 2018, und nun das größte Skirennen überhaupt, die Hahnenkamm-Abfahrt in Kitzbühel. „Das fällt mir mittlerweile auch schon auf, dass ich mir die guten Rennen raussuche“, sagt der 29-Jährige mit einem Schmunzeln.
Zweieinhalb Stunden zuvor hatte Mayer mit Startnummer 13 eine nahezu perfekte Fahrt auf die Streif gezaubert. Und das bei nicht einfachen Verhältnissen. Über dem Hahnenkamm hatte sich Hochnebel breitgemacht, die Sicht war schlechter als noch beim Prachtwetter der Vortage. „Ich habe für jede Kurve, für jeden Meter da runter meinen Plan gehabt. Beim Zielsprung habe ich links und rechts die Bengalischen Feuer aufgehen sehen, da habe ich gedacht, das könnte schnell gewesen sein“, erzählte Mayer, als der erste ÖSV-Abfahrtssieg auf der Streif seit 2014 (Hannes Reichelt) Gewissheit war.
Über 40.000 Zuschauer waren heuer an die Strecke geströmt, die TVÜbertragungen erreichten weltweit über 400 Millionen Menschen. „Eine Last ist schon weg. Das ist das Rennen der Rennen, da kannst du sagen, was du willst“, erklärte Mayer. „Ich habe versucht, ruhig zu bleiben und auf mein Skifahren zu vertrauen.“
Um die österreichische Sternstunde perfekt zu machen, landete Vincent Kriechmayr zeitgleich mit dem Schweizer Topfavoriten Beat Feuz auf Platz zwei. „Ein starkes Rennen von mir. Ich bin stolz“, meinte der sonst so selbstkritische Oberösterreicher. Bemerkenswert: Im letzten Abfahrtstraining hatte die Streif den 28-Jährigen noch abgeworfen, Kriechmayr war unter halb des Hausbergs im Netz gelandet.
Kärntner Trio. In Kitzbühel wurden einst die Legenden von Toni Sailer und Franz Klammer geboren, aber auch die Karrieren von Hans Grugger und Patrick Ortlieb beendet. Dank des Duos Mayer/Kriechmayr ist der Gamsstadt nun ein weiterer Eintrag in der österreichischen Ski-Historie sicher. Auch Kärnten jubelt: Mayer ist nun wie seine großen Landsmänner Klammer und Fritz Strobl sowohl Kitzbühel-Champion als auch Abfahrtsolympiasieger.
Der Mann aus Afritz am See und Sohn von Olympiamedaillengewinner Helmut Mayer (Super-G-Silber Calgary 1988) ist es auch, der gemeinsam mit Kriechmayr die rot-weiß-roten Fahnen in diesem Abfahrtswinter hochhält. In fünf von sechs Abfahrten landete er in den Top fünf, mit Beaver Creek hat Mayer bisher n ur ein Rennen „vergeigt“, wie er sagt. „Ich bin überrascht und sehr zufrieden mit meiner Saison.“
Nur einer ist in Sachen Konstanz heuer unübertroffen: Der Emmentaler Beat Feuz fuhr in allen Abfahrten aufs Stockerl, so auch in Kitzbühel. Ein bitterer Beigeschmack blieb allerdings: Für den 32-Jährigen war es der schon vierte zweite Platz beim Hahnenkamm-Klassiker, die Streif bleibt weiterhin der weiße Fleck seiner beeindruckenden Abfahrtskarriere. Feuz nahm es mit Humor. „Wir Speedfahrer sind nette Menschen. Domme (Dominik Paris, Anm.) haben wir in Bormio siegen lassen, mich haben sie in Wengen siegen lassen, und den Mothl haben wir hier siegen lassen.“
Der Nationencup und die Nachwuchskrise? An diesem Tag blieben Kritiker stumm.
Die HahnenkammHelden Vincent Kriechmayr (l.) und Matthias Mayer.