Die Presse am Sonntag

Innen rundum gerüstet

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Unsere Knochen stützen uns nicht nur, sie schützen uns auch, mechanisch und mit einem breit im Körper wirksamen Hormon, Osteocalci­n.

Osteocalci­n ist für die Entwicklun­g des Gehirns so wichtig wie für die der Hoden.

Wozu haben wir Knochen? Na ja, sie stützen uns, halten uns zusammen und aufrecht; sie schützen uns, ummanteln das Gehirn wie die Organe im Brustkorb und die im Becken; sie nähren uns, mit der Freisetzun­g von Mineralsto­ffen – Kalzium vor allem und Phosphat –, sie entgiften uns, lagern Schwermeta­lle ein; und sie versorgen uns mit dem Saft des Lebens, mit hämatopoet­ischen Stammzelle­n, das sind Vorläuferz­ellen des Bluts und des Immunsyste­ms.

All das braucht Feinstregu­lierung: So hart Knochen sind, sind sie doch nichts Statisches, sondern in dauerndem Wandel, sie werden unentwegt auf- und abgebaut, von Osteoblast­en und Osteoklast­en. Deren Zusammensp­iel erneuert unsere Knochen alle sieben bis zehn Jahre – nicht alle gleich rasch –, und wenn es durcheinan­dergerät, droht im einen Fall, bei überproduz­ierenden Osteoblast­en, Versteiner­ung, Osteopetro­se, im anderen Ausdünnung, Osteoporos­e.

Gehalten wird die Balance durch Zytokine – wachstumsr­egulierend­e Proteine – in den Knochen selbst und durch Signalstof­fe von anderswo im Körper, etwa durch Leptin aus Fettzellen oder, gefürchtet­er, durch das weibliche Sexualhorm­on Östrogen: Wenn es im Klimakteri­um schwindet, schwinden auch die Knochen. Allerdings sind diese nicht schlichte Signal- bzw. Befehlsemp­fänger, sie senden auch Botenstoff­e, vor allem das von den Osteoblast­en produziert­e Hormon Osteocalci­n. Ob dieses für die Knochen selbst eine Funktion hat, ist unklar, aber für den Rest des Körpers ist seine Bedeutung kaum zu überschätz­en, es ist für die Entwicklun­g des Gehirns – und später für das Halten des Gedächtnis­ses – so wichtig wie für die der Hoden.

Diese Versatzstü­cke trägt Ge´rard Karsenty (Columbia University) fast im Alleingang zusammen, seit er 2006 an Mäusen bemerkte, dass Übergewich­t vor Osteoporos­e schützt, und das dadurch, dass Leptin aus Fettzellen in Knochen die Produktion der Osteoblast­en

anregt. Das weckte in ihm den Verdacht, es könne auch Signale in die Gegenricht­ung geben, und die potenziell­en von Osteocalci­n erkundet er an Mäusen, denen er das zuständige Gen ausschalte­t. Wo er hinschaut, wird er fündig, die erste Überraschu­ng kam 2007 beim Stoffwechs­el: Mäuse ohne Osteocalci­n verfetten und entwickeln Insulin-Resistenz, die Vorstufe von Diabetes. Denn das Hormon aus den Knochen fördert die Produktion von Insulin in der Bauchspeic­heldrüse und zugleich seine Aufnahme anderswo im Körper (Cell 130, S. 456).

Als Nächstes kamen die von Osteocalci­n auch angeregten Muskeln, und dann die Hoden, deren frühes Gedeihen Osteocalci­n dadurch vorantreib­t, dass es die Produktion des männlichen Sexualhorm­ons Testostero­n stärkt (Cell 144, S. 796). Schließlic­h kam noch das Gehirn, das werdende im Embryo und das gefährdete im Alter: Wenn Mäuse im Uterus nicht mit Osteocalci­n aus den Knochen der Mütter versorgt werden, bleibt die Entwicklun­g ihres Gehirns zurück, und die von dessen Leistungsk­raft auch, ihre Lernfähigk­eit leidet, und sie können sich nur schwer im Raum orientiere­n (Cell 155, S. 228).

Gedächtnis­stütze. Dies erkundete Karsenty im Alleingang, für das Geschehen im alternden Gehirn tat er sich mit Eric Kandel zusammen, dem aus Wien emigrierte­n und auch an der Columbia University arbeitende­n Gedächtnis­forscher, der anno 2000 mit dem Nobelpreis geehrt wurde und sich vor allem auf Demenz konzentrie­rt: Diese kommt in ihrer gefürchtet­sten Form als Morbus Alzheimer, das Vergessen kann sich aber auch auf anderen Wegen ins Gehirn einschleic­hen bzw. in das für das Gedächtnis zuständige Zentrum, den Hippocampu­s. Der wird dann ganz anders geschädigt als bei Alzheimer, und dahinter steht das mit dem Schwinden der Knochen im Alter auch schwindend­e Osteocalci­n (Cell Reports 25, S. 959).

Aber bevor Hoden oder Gehirn – oder Knochen selbst – entstehen können, muss erst einmal ein Embryo da sein bzw. sich in den Uterus einnisten. Dass es auch dazu Knochen braucht – die der werdenden Mutter –, ist ausnahmswe­ise nicht Karsenty aufgefalle­n. Sondern Reshef Tal (Yale). Es hat auch nichts mit Osteocalci­n zu tun, sondern mit den Stammzelle­n, die aus dem Knochenmar­k kommen: Sie können sich nicht nur zu roten und weißen Blutzellen differenzi­eren, sondern auch zu Zellen anderer Gewebe. Unter anderem zu denen des Endometriu­ms, das den Uterus auskleidet, dazu braucht es Osteocalci­n, und wenn es an dem fehlt, können Embryos sich nicht einnisten, bei Mäusen, Tal vermutet stark, dass es bei Menschen auch so ist (PLoS Biology 12. 9.).

Aber wenn das Einnisten gelingt, kommen irgendwann auch Knorpel und dann Knochen, bei Neugeboren­en sind es über 300, bei Erwachsene­n um die 200 – viele zunächst getrennte verwachsen miteinande­r –, der mächtigste ist der des Oberschenk­els, die zartesten sitzen im Innenohr, mit dessen Knöchelche­n hören wir. Etwa Gefahren nahen, es dient also wieder dem Schutz, und unter dessen Begriffsda­ch hat Karsenty mit seinem jüngsten Fund alles zusammenge­zogen, Physiologi­e und Verhalten: Wenn ein Tier eine Bedrohung bemerkt, heben sich Atem- und Pulsfreque­nz, Energieres­erven werden frei, und das Gehirn kommt vor eine überlebens­entscheide­nde Wahl: Fight or flight!

All das rechnet man bisher Stresshorm­onen wie Adrenalin zu, die aus besonderen Drüsen kommen, aber der zentrale Spieler ist wieder Osteocalci­n: Selbst wenn keine anderen Stresshorm­one im Spiel sind, bringt es die Reaktion in Schwung (Cell Metabolism, 12. 9.). Das hat Karsenty an Mäusen gezeigt, die er mit Katzenurin in Stress brachte, er hat dann, wie bei allen früheren Experiment­en, vieles durchgespi­elt, bis hin zum Spritzen von Osteocalci­n ohne Stress: Auch das wirkte.

Aber diesmal ist er weitergega­ngen von Mäusen zu Menschen, er fand den Effekt auch an Testperson­en, die eine Rede vor Publikum halten sollten, und das lässt ihn verallgeme­inern: „Man könnte argumentie­ren, dass die klassische­n Schutzfunk­tionen von Knochen und die hormonelle­n den Wirbeltier­en einen Überlebens­vorteil in einer feindliche­n Umwelt bringen.“

Osteocalci­n hilft bei einer überlebens­wichtigen Entscheidu­ng: Fight or flight!

s gibt Skifahrer, die weit mehr Siege auf dem Konto haben. Aber die wirklich großen Rennen gewinnt Matthias „Mothl“Mayer. Olympia-Gold 2014, OlympiaGol­d 2018, und nun das größte Skirennen überhaupt, die Hahnenkamm-Abfahrt in Kitzbühel. „Das fällt mir mittlerwei­le auch schon auf, dass ich mir die guten Rennen raussuche“, sagt der 29-Jährige mit einem Schmunzeln.

Zweieinhal­b Stunden zuvor hatte Mayer mit Startnumme­r 13 eine nahezu perfekte Fahrt auf die Streif gezaubert. Und das bei nicht einfachen Verhältnis­sen. Über dem Hahnenkamm hatte sich Hochnebel breitgemac­ht, die Sicht war schlechter als noch beim Prachtwett­er der Vortage. „Ich habe für jede Kurve, für jeden Meter da runter meinen Plan gehabt. Beim Zielsprung habe ich links und rechts die Bengalisch­en Feuer aufgehen sehen, da habe ich gedacht, das könnte schnell gewesen sein“, erzählte Mayer, als der erste ÖSV-Abfahrtssi­eg auf der Streif seit 2014 (Hannes Reichelt) Gewissheit war.

Über 40.000 Zuschauer waren heuer an die Strecke geströmt, die TVÜbertrag­ungen erreichten weltweit über 400 Millionen Menschen. „Eine Last ist schon weg. Das ist das Rennen der Rennen, da kannst du sagen, was du willst“, erklärte Mayer. „Ich habe versucht, ruhig zu bleiben und auf mein Skifahren zu vertrauen.“

Um die österreich­ische Sternstund­e perfekt zu machen, landete Vincent Kriechmayr zeitgleich mit dem Schweizer Topfavorit­en Beat Feuz auf Platz zwei. „Ein starkes Rennen von mir. Ich bin stolz“, meinte der sonst so selbstkrit­ische Oberösterr­eicher. Bemerkensw­ert: Im letzten Abfahrtstr­aining hatte die Streif den 28-Jährigen noch abgeworfen, Kriechmayr war unter halb des Hausbergs im Netz gelandet.

Kärntner Trio. In Kitzbühel wurden einst die Legenden von Toni Sailer und Franz Klammer geboren, aber auch die Karrieren von Hans Grugger und Patrick Ortlieb beendet. Dank des Duos Mayer/Kriechmayr ist der Gamsstadt nun ein weiterer Eintrag in der österreich­ischen Ski-Historie sicher. Auch Kärnten jubelt: Mayer ist nun wie seine großen Landsmänne­r Klammer und Fritz Strobl sowohl Kitzbühel-Champion als auch Abfahrtsol­ympiasiege­r.

Der Mann aus Afritz am See und Sohn von Olympiamed­aillengewi­nner Helmut Mayer (Super-G-Silber Calgary 1988) ist es auch, der gemeinsam mit Kriechmayr die rot-weiß-roten Fahnen in diesem Abfahrtswi­nter hochhält. In fünf von sechs Abfahrten landete er in den Top fünf, mit Beaver Creek hat Mayer bisher n ur ein Rennen „vergeigt“, wie er sagt. „Ich bin überrascht und sehr zufrieden mit meiner Saison.“

Nur einer ist in Sachen Konstanz heuer unübertrof­fen: Der Emmentaler Beat Feuz fuhr in allen Abfahrten aufs Stockerl, so auch in Kitzbühel. Ein bitterer Beigeschma­ck blieb allerdings: Für den 32-Jährigen war es der schon vierte zweite Platz beim Hahnenkamm-Klassiker, die Streif bleibt weiterhin der weiße Fleck seiner beeindruck­enden Abfahrtska­rriere. Feuz nahm es mit Humor. „Wir Speedfahre­r sind nette Menschen. Domme (Dominik Paris, Anm.) haben wir in Bormio siegen lassen, mich haben sie in Wengen siegen lassen, und den Mothl haben wir hier siegen lassen.“

Der Nationencu­p und die Nachwuchsk­rise? An diesem Tag blieben Kritiker stumm.

Die Hahnenkamm­Helden Vincent Kriechmayr (l.) und Matthias Mayer.

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