ZUR PERSON
Augen, fragt bisweilen interessiert nach. „Ich glaube“, sagt sie, „wir wurden durch die sehr bemühte Erziehung in Theresienstadt stark gemacht. Unser Selbstwertgefühl wurde gestärkt.“Für das, was vielleicht noch kommen würde. „Dass die Zukunft Auschwitz war und Arbeitslager, das haben sie nicht gedacht. Aber sie haben uns geholfen, selbstbewusste Personen zu werden.“Im Zimmer 28, wo die Kinder von anderen Häftlingen heimlich Schul-, Musikund Zeichenunterricht erhielten. Ihre Zeichenlehrerin Friedl DickerBrandeis habe sie nie malen lassen, was dort wirklich stattfand, „sondern immer das, was unsere Wünsche und Träume waren. Oder schöne Erinnerungen.“Die bekannte Malerin und Architektin Dicker-Brandeis wurde im KZ Auschwitz ermordet.
Ihren Vater durfte Helga Pollak in Theresienstadt regelmäßig sehen, ihm übergab sie auch die Tagebücher, als sich Ende Oktober 1944 die Ereignisse überstürzten. Sie fand sich zusammengepfercht in Viehwaggons wieder, mit mehr als 1700 Häftlingen, unterwegs irgendwohin. Mitten in der Nacht Ankunft an einem Ort, den die hungernden und ausgemergelten Menschen nur durch einen Schlitz im Waggon sehen konnten. Scheinwerferlicht. Es sei, sagt Pollak-Kinsky, in der Tat so, wie alle sagen, die in Auschwitz ankamen und diese Ankunft überlebt haben: „Eine wahnsinnige, unnatürliche Stille. Das ist der erste Eindruck.“Dann: Plötzliches Geschrei, metallische Laute, Türen gehen auf, los, schnell, schnell, das Gepäck kommt nach! (Das Gepäck kam nie nach.) Die allermeisten wurden noch in dieser Nacht vergast.
Appelle in der Nacht. Pollak-Kinsky überlebte. Vorgesehen für den Zwangseinsatz in einem Arbeitslager, einer Munitionsfabrik in Oederan. Die meisten Mädchen unter 18 gaben an, 18 zu sein, damit sie von hier wegkommen konnten. Helga Pollak war 14 Jahre alt. Besonders schlecht wurden sie behandelt, die Neuankömmlinge in Auschwitz, erinnert sie sich. Kaum Kleidung, kein Bett, keine Matratze, kein Essen. Zählungen und Appelle in der Nacht. „Wie wir in der Baracke waren, mussten wir vor der SS nackt marschieren.“Abgeschorene Köpfe. Sie mussten sich waschen, bekamen aber keine Tücher, um sich abzutrocknen. Es war kalt, es zog. „Aber keiner hat Schnupfen bekommen. Es ist so, wie wenn etwas in einem leben will und innerlich weiß: Jetzt darf ich nicht krank werden.“
Wenige Tage nach ihrer Ankunft in Auschwitz wurde Pollak-Kinsky nach Oederan deportiert, wo sie bis April 1945 bleiben musste, ehe sie erneut in einen Gefangenentransport kam. Sie sollten vermutlich nach Bergen-Belsen oder Ravensbrück deportiert werden. Todesmarsch auf Schienen. 70 bis 80 Personen in einem offenen Waggon, sie mussten stehen. „Wir haben versucht, einen Kreis zu machen, damit sich in der Mitte jemand hinsetzen kann. Aber das hält man nicht aus. Wenn man so viele Beine sieht, hat man das Gefühl, erdrückt zu werden.“Siebentägige Reise. Etwas zu essen hatte nur der Soldat auf seinem Schemel, der den Waggon bewachte. Neben ihm der Kübel, wo die Häftlinge ihre Notdurft verrichten mussten. Sein Essen sei schlecht, habe der Soldat sich beschwert. Die SS habe Sekt und Gervais. Nach dem Krieg wird Pollak-Kinsky ihre Mutter fragen, was Gervais sei.
Durch die Wirren auf den Schienen kam der Zug doch in Theresienstadt an. Hier erlebte Pollak-Kinsky mit ihrem Vater das Ende des Zweiten Weltkriegs.
Weit weg. „Ich wollte es vergessen. Ich wollte weit weg. Ich war so glücklich, dass ich zu meiner Mutter nach England konnte, es hat ja gedauert.“Dort lernte sie auch ihren Mann kennen, einen deutschen Juden, der nach Bangkok fliehen konnte. Gemeinsam kehrten sie Europa den Rücken. Thailand, Äthiopien. Nach Wien kam die junge Familie erst, als ihre gehörlose Tochter auf die Welt kam. In Wien sollten die Schulen besser sein als in Addis Abeba.
Helga Pollak-Kinsky ist oft als Zeitzeugin unterwegs. Immer wieder erhält sie Einladungen, auch zur Gedenkstätte nach Auschwitz. Von polnischen Präsidenten, zuletzt von Andrzej Duda, von den österreichischen Behörden. Aber Helga Pollak-Kinsky wird Auschwitz niemals wieder betreten.
Helga Pollak-Kinsky
wurde 1930 in Wien geboren. Nach dem „Anschluss“wurde sie bei Verwandten im tschechischen Kyjov untergebracht. Der Vater kam später nach, die Mutter konnte nach England fliehen. Aus Kyjov wurde die Familie im Januar 1943 nach
»Eine wahnsinnige, unnatürliche Stille. Das ist der erste Eindruck.«
Theresienstadt
deportiert. PollakKinsky führte in Theresienstadt Tagebuch. (Veröffentlichung 2014: „Mein Theresienstädter Tagebuch 1943–1944 und die Aufzeichnungen meines Vaters Otto Pollak“, Edition
Room 28). Von Theresienstadt wurde Pollak-Kinsky nach Auschwitz und anschließend in das Arbeitslager Oederan deportiert. Das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte sie in Theresienstadt.
Otto Pollak,
ihr Vater, betrieb in Wien das Konzertcaf´e Palmhof in der Mariahilfer Straße. Ihm ist derzeit eine Ausstellung im
Jüdischen Museum Wien
gewidmet: „Wir bitten zum Tanz. Der Wiener Cafetier Otto Pollak.“Die Ausstellung ist bis zum 1. Juni in der Dorotheergasse zu sehen.