Das wahre Babylon Berlin
Eine TV-Serie befeuert den Mythos der goldenen Zwanziger. Kann man diese Zeit in Berlin noch finden? Man kann es versuchen. Ein Streifzug.
Der Historiker Arne Krasting steht in Berlin-Mitte im Dunkeln unter einer Brücke vor einer Eisentür. Über ihm donnert die Schnellbahn hinweg. Was macht Krasting hier? Es gibt kein Schild, kein Fenster, nur eben diese Eisentür und eine versteckte Glocke. Nichts deutet darauf hin, dass dahinter die schicke Bar Tausend zu Cocktails einlädt, die in ihrem zeitlosen Ambiente als Kulisse für die TV-Serie „Babylon Berlin“diente, ja zum verruchten Nachtklub Der Holländer mutierte, in dem in den Zwanzigern auch Transvestiten und Schwule schäkerten. Es gilt eben auch heute noch, was Curt Moreck 1931 in seinem „Führer durch das lasterhafte Berlin“notiert hat: „Wer Erlebnisse sucht, Abenteuer verlangt, Sensationen sich erhofft, der wird im Schatten gehen müssen.“
Krasting ist Historiker mit einem Faible für die Zwanziger. Manchmal zieht er sich die Knickerbockerhose an und setzt sich die Schiebemütze auf, bevor er als Chef der Zeitreisenagentur stilecht an Schauplätze der Zwanziger und der Serie „Babylon Berlin“führt. Er stellt sich gern vor, wie damals die Spießigkeit der preußischen Kaiserzeit weggeworfen worden ist, wie sich das enge Korsett buchstäblich geöffnet hat. „Paris war auch wild“, sagt er. „Aber in Berlin war man noch radikaler. Hier probierte man noch mehr aus.“
Schon Zeitzeugen staunten über den liberalen Weltstadtgeist Berlins. „Man mochte aus einer alten Hauptstadt wie Wien kommen, hier fühlte man sich als Provinzler“, schrieb der spätere Literaturnobelpreisträger Elias Canetti. 1921 zählte Berlin 328 Kinos. 928 Verlage regten 1925 den Geist an. So listet es Jens Bisky auf, der im Vorjahr das Standardwerk „Berlin. Eine große Stadt“vorgelegt hat. Hunderte Ballhäuser konkurrierten miteinander. Es gab Dutzende Schwulen- und Lesbenbars. Und Drogen. Und Prostitution. „Babel der Welt“, nannte Stefan Zweig diese sündige Stadt, die 1920 auch der Größe nach zur Weltmetropole mutiert und durch Eingemeindungen auf 3,8 Millionen Einwohner angeschwollen war.
Feiern wie damals. 100 Jahre danach steckt eine frische Neugierde auf die Zwanziger immer mehr Berliner an. Frauen werfen sich für Partys Federboas um die Schultern. Man tanzt wieder Charleston. Und nicht nur im Admiralspalast, schon damals Amüsiertempel. spielen Revueshows wie „Berlin Berlin“mit den Klischees der Zeit. Es gibt viel nackte Haut zu sehen und, als Figur, natürlich, Marlene Dietrich.
Aber nichts belebt den Mythos der Zwanziger wie die TV-Serie „Babylon Berlin“, deren dritte Staffel nun vor dem Hintergrund der beginnenden Weltwirtschaftskrise spielt und seit Freitag auf Sky zu sehen ist. Die teuerste deutsche Fernsehproduktion der Geschichte setzt den Zwanzigern trotz aller historischen Unschärfen und Zuspitzungen ein Denkmal, weil sie auch deren düsteren Seiten ausleuchtet. Da perlt nicht nur der Champagner im Glas, man sieht auch schäbige Hinterhöfe und zu kleine Wohnungen für zu viele Menschen, Frauen, die sich prostituieren müssen. Denn „golden“waren die Zwanziger allenfalls ab 1924 (davor hatte die Hyperinflation noch die größten Ersparnisse gnadenlos entwertet) und auch dann nicht für alle. Aber darin liegt der Reiz dieser Zeit, dass sich Existenzangst und Lebensfreude, Armut und Kulturreichtum seltsam paarten. Kann man sich den echten Zwanzigern nähern? Krasting steht auf dem RosaLuxemburg-Platz in Berlin-Mitte, der damals Bülow-Platz genannt worden ist. „Hier hast du alles“, sagt er. Politik, Kultur und Architektur des Jahres 1929 stürzen aufeinander. Krasting zeigt auf ein Wohnhaus vor unserer Nase. Kein Stuck, kein Dekor: Alles ist im Stil der „neuen Sachlichkeit“gehalten. Man setzte ganz modern auf Rundungen, Formen, Linien. „Die Linie ist für mich das Symbol der Zeit“, sagt er. „Immer nach vorn und zwar mit Tempo.“
»Man mochte aus Wien kommen, hier fühlte man sich als Provinzler.«
Auch die Linkspartei hat auf diesem Platz ihr Hauptquartier. Eine Pointe der Geschichte. Denn 1929 war am selben Ort die Zentrale der Kommunisten, die entschieden, sich am 1. Mai über das Demonstrationsverbot hinwegzusetzen. Und auch hier stoben die Menschen auseinander, als die Polizei dann mit eiserner Faust zuschlug. 33 Zivilisten sind in den Tagen des „Blutmais“getötet worden, der die Instabilität der späten Weimarer Republik andeutet, auch den Hass zwischen Kommunisten und den regierenden Sozialdemokraten damals.
Die Kultur muss man hier nicht suchen. Die Volksbühne, schon zu Kaiserzeiten errichtet, thront auf dem Platz, an der Ecke steht das „Babylon“, wie weiße Lettern über dem Eingang verkünden, die die Jahrzehnte überdauert haben. Das Stummfilmkino Babylon war schon bei der Eröffnung im April 1929 nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit. Die Bilder hatten zu sprechen begonnen, der Siegeszug des Tonfilms war auf dem Weg über den Atlantik, ein Thema, das die dritte „Babylon Berlin“Staffel aufgreift: Ein Mord am Filmset der fiktiven ersten Tonfilmproduktion. Krasting hat eine Komparsenrolle.
Im Babylon stehe heute die älteste intakte Kinoorgel Deutschlands, sagt er. „Die spielt nicht nur, die pfeift auch und hupt und was weiß ich alles.“Und jeden Samstag um Mitternacht zeigen sie hier kostenlos einen Stummfilm mit Orchesterbegleitung. Im Foyer des Kinos liegt ein etwas zerknittertes Plakat des deutschen Klassikers „Das Cabinet des Dr. Caligari“aus 1920. „Manche halten ihn für einen der zehn besten Filme aller Zeiten“, sagt Krasting. Sicher ist: Nie wieder kam die deutsche Filmproduktion der Traumfabrik Hollywood so nahe wie in den Zwanzigern.
Stunden später nippt Krasting am Bier im Alt-Berlin, einer rustikalen und verrauchten Kneipe, die ein Drehort der dritten Staffel „Babylon Berlin“ist. Zum Essen gibt es hier Schmalzstullen und Buletten. Dieser Ort atmet Geschichte. Vor den mehr als 100 Jahre alten hölzernen Paneelen soll schon Bertolt Brecht seine Zigarren gepafft haben. Nur, dass das Alt-Berlin damals noch an einem anderen Ort war. Die Inneneinrichtung wurde hierher verlegt, in das Getränkelager des Ballhauses Berlin, einem der letzten erhaltenen Tanztempel der Zwanziger, in dem auch noch die Tischtelefone intakt sind.
Das Moka Efti. In „Babylon Berlin“kreist das Nachtleben in den ersten beiden Staffeln um das Moka Efti, das in der Realität aber keineswegs so verrucht gewesen ist, wie es die Serie glauben macht, aber doch eine Berliner Sensation, weil es dort eine Rolltreppe gegeben hat. Das Moka Efti existiert nicht mehr. Getanzt wurde in „Babylon Berlin“im ehemaligen Stummfilmkino Delphi, das von außen einen ganz unscheinbaren, fast schäbigen Eindruck machte. Aber auch das ist typisch Berlin. Man muss zuweilen hinter die bröckelnden Fassaden blicken, um diese Stadt zu finden. Damals wie heute.