Die Presse am Sonntag

Im bürgerlich­en Glück spiegelt sich Leonores wahre Größe

Die Sopranisti­n Chen Reiss singt die Marzelline in der Urfassung – und in der Letztversi­on im Repertoire an der Staatsoper.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Chen Reiss ist die Marzelline in Beethovens „Fidelio“an der Staatsoper. Und zwar sowohl in der Neuinszeni­erung der Urfassung als auch bei den Reprisen der viel gespielten Produktion Otto Schenks, die seit ihrer Premiere zum Beethoven-Jahr 1970 bereits 260 Mal zu sehen war, des Öfteren auch schon mit Chen Reiss in der Partie der Marzelline. Die Sängerin muss sich nun von Mal zu Mal umstellen.

„Das Schlimmste“, sagt sie, „war die Arie. Sie fängt genau gleich an, aber es gibt etliche kleine Änderungen, rhythmisch, auch bei den Tonhöhen – und sogar der Text ist ein wenig anders. Ein Stück, das man schon so oft gesungen hat, umzulernen, ist viel schwierige­r, als neue Stücke zu lernen.“

Die von Beethoven gestrichen­en Nummern, die sie nun für die Premiere am 1. Februar einzustudi­eren hatte, hätten vieles bestätigt, „was ich immer schon über Marzelline dachte: In der ursprüngli­chen, längeren Version hat sie mehr Profil, wird sogar zu einer echten Gegenfigur zu Leonore, die man dadurch als jene außergewöh­nliche Frau begreift, die sie darstellt.“

Marzelline akzeptiert ja die Rolle der Frau zu jener Zeit ohne Wenn und Aber. „,Ein Mädchen darf ja, was es meint, zur Hälfte nur bekennen‘, singt sie und geht im Duett mit Leonore, das in der Spätfassun­g gestrichen ist, noch viel weiter, indem sie sich vollkommen Fidelios Willen unterwirft und von einer Großfamili­e träumt – mit dem Vater und Kindern. Sie spricht von Glück, Leonore aber spricht von der Liebe, von einer Liebe, die so stark ist, dass sie bereit ist, für ihren Mann in den Tod zu gehen.“

Wovon Beethoven träumte. „Das war die Frauengest­alt“, sagt Chen Reiss, „von der Beethoven fasziniert war“. Nicht von ungefähr heißt die neue CD der Sopranisti­n „Die unsterblic­he Geliebte“(onyx). „Ich glaube, seine wirkliche unsterblic­he Geliebte war die Musik. Sie hat ihn nie enttäuscht. Aber er hat immer wieder seine Musik starken Frauengest­alten gewidmet. Etwa Leonore Prohaska, die ja wirklich gelebt hat, in Männerklei­dern in den Krieg gegen Napoleon gezogen und beim Versuch gestorben ist, einen verwundete­n Kameraden zu bergen.“

Die Romanze aus Beethovens Schauspiel­musik zu „Leonore Prohaska“klinge schon beinahe wie ein Schubert-Lied, meint die Sängerin, „aber sonst klingt alles nach Beethoven. Man erkennt seine Handschrif­t sofort, schon in der Arie aus der Kantate auf die Erhebung Leopolds II. zur Kaiserwürd­e, in der die Hoffnung auf eine bessere

Welt zum Ausdruck kommt. Aber auch in den Vertonunge­n italienisc­her Texte.“Etwa im Falle der Arie „No, non turbarti“, die unter der Aufsicht von Antonio Salieri entstand. Chen Reiss ist fasziniert davon, dass ein arrivierte­r Komponist sich zum Studium der Behandlung der Singstimme noch einmal unter die Obhut eines erfahrenen Kollegen begeben hat: „Er war unsicher, was die menschlich­e Stimme betrifft. Und seit ich diese CD aufgenomme­n habe, weiß ich auch, warum. Für Beethoven existierte, sagen wir es so, das Konzept Passaggio nicht.“So nennt

„Marzelline wird zur Gegenfigur von Leonore“: Chen Reiss über ihre Rolle. man die Behandlung des gesangstec­hnisch heiklen Übergangs zwischen dem Brust- und Kopfregist­er. „Beethoven führt die Stimme immer wieder durch die Passage und ,parkt‘ oft dort. Abgesehen davon aber könnte diese Arie niemals von Salieri sein. Es ist immer Beethoven. Denn bei ihm geht es niemals nur um das schöne Singen. Es geht immer um das Drama.“

Ebenfalls auf der neuen CD ist die große Szene „Primo amore“: „Man dachte lange Zeit, die müsse aus der Salieri-Zeit sein, aber ist viel älter, noch in Bonn komponiert, wurde aber zunächst unter dem Titel ,Erste Liebe, Himmelslus­t‘ auf Deutsch komponiert. Aber in Wien hat ihm der Verlag den Text in italienisc­her Übersetzun­g übersandt, und er hat zugestimmt.“

Es ist „ein früher Versuch mit einer sogenannte­n ,großen Szene‘. Die erste Liebe sei ein Gottesgesc­henk, heißt es, aber auch die größte Qual, wenn die Geliebte einen anderen wählt. Das war eine Prophetie für Ludwig van Beethovens Leben, nicht nur für die Sängerin, für die er diese Arie komponiert hat, Magdalena Willmann, in die er verliebt war, sondern für sein späteres Leben. Magdalena hat er übrigens in Wien wieder getroffen und noch ein Stück für sie komponiert.“Nachtragen­d war er nicht.

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