»Die Urfassung ist romantischer, die Endfassung ist politischer«
»Es ist ein anderes Stück in einer anderen Stimmung«: Dominique Meyer, Direktor der Staatsoper, über »Leonore«.
nungen der Meisten waren auf den Erzherzog Karl gerichtet, welcher mit seiner Armee nahe sei, und die Feinde sicher schlagen würde.“
Innerhalb der Stadtmauern waren hingegen mehrheitlich französische Offiziere anzutreffen. „Sie waren in die reichsten Häuser verlegt, und mit der Bewirtung zufrieden“und bildeten den Hauptanteil der Besucher der Premiere im Theater an der Wien.
„Das Theater war gar nicht gefüllt, und der Beifall sehr gering. In der Tat ist der dritte Akt sehr gedehnt, und die Musik, ohne Effekt und voll Wiederholungen . . . Dass doch so viele, sonst gute Komponisten gerade an der Oper scheitern, bemerkte ich ganz leise meinem Nebenmanne, dessen Mienen mein Urteil zu billigen schien. Er war ein Franzose, und suchte die Ursache darin, dass die dramatische Komposition die höchste Kunststufe sei, und auch sonst eine ästhetische Ausbildung fordere, die man, wie er höre, bei deutschen Musikern selten finde. Ich zuckte die Achseln und schwieg.“
Der wahre Gefangenenchor. Beethovens Opernsolitär sollte aber im Frühjahr 1806 nach gründlicher (zweiaktiger) Revision zurückkehren. „Beethoven hat seine Oper mit vielen Veränderungen und Abkürzungen wieder auf die Bühne gebracht“, heißt es in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“. „Ein ganzer Akt ist dabei eingegangen, aber das Stück hat gewonnen und nun auch besser gefallen.“
Wie stark mochte die Wiener Bevölkerung die Handlung der Oper auf sich und die eigene Situation bezogen haben? Manche Assoziationen konnten gespenstisch anmuten, lesen wir doch von den unmittelbaren Folgen der Schlacht bei Austerlitz und von den Leiden der Soldaten der mit Österreich verbündeten Armee des Zaren: „Es waren mehrere Tausende gefangene Russen, die man aus Mähren nach Wien gebracht hatte. Ein entsetzlicher Anblick! Diese Elenden waren beinahe ganz in Lumpen gehüllt, mager, ausgezehrt, hatten einige Tage nichts gegessen, und baten nun mit aufgehobenen Händen um Nahrung. Die Gutherzigkeit der Wiener zeigte sich hier im schönsten Lichte. Auf jedem Gesichte las man die lebhafteste Teilnahme, aus den Fenstern flogen ganze Laibe Brotes, Semmeln, Obst, Braten . . .“
Keine neue „Zauberflöte“. Wie auch immer: Diesmal war der Oper noch weniger Glück beschieden. Nach nur einer Reprise verschwand sie vom Spielplan, um erst 1814 (übrigens mit derselben Interpretin der Titelheldin) im Kärntnertortheater wieder aufzutauchen – und dann für immer zu bleiben. Der neuerliche Flop war allerdings offenkundig weniger künstlerischen Erwägungen als einem ordinären Streit ums Geld geschuldet: Beethoven überwarf sich mit dem Intendanten des Theaters an der Wien.
Dort hatte er freie Logis gehabt, seit der Erstbesitzer des Hauses, Emanuel Schikaneder, ihn als Opernkomponisten gewinnen wollte.
Aus den Plänen, Schikaneders Libretto zu „Vestas Feuer“zu vertonen, wurde nichts. Die eruptive Musik des skizzierten Schlussterzetts wurde im „Fidelio“zum „Freuden“-Duett Leonores und Florestans. Aber eine „neue Zauberflöte“wollte Schikaneders „neuer Mozart“nicht schreiben. Das Genre schien ihm veraltet.
An Friedrich Rochlitz, der ihm ein Libretto angeboten hatte, schrieb Beethoven: „wäre ihre Oper keine ZauberOper gewesen, mit beiden Händen hätte ich darnach gegriffen“, aber die Zeit der Zauberoper sei „durch das Licht der gescheiten und sinnigen französischen Opern gänzlich aus“.
Dass Schikaneder sein Theater an der Wien im Frühjahr 1804 verlassen musste, erleichterte es Beethoven, „Vestas Feuer“ad acta zu legen und einen ihm genehmen Stoff zu wählen. Er fand ihn unter den „gescheiten und sinnigen französischen Opern“.
Für die theateraffinen unter Napoleons Offizieren konnte „Fidelio“daher trotz der deutschen Sprache zum De´ja`vu-Erlebnis werden. Die erste Vertonung des Stoffes, auf ein Libretto Jean Nicolas Bouillys, stammte aus der Feder von Pierre Gaveaux und hieß „Le´onore, ou L’amour conjugal“. Sie war 1798 in Paris uraufgeführt worden und zog mannigfaltige Nachahmungen nach sich. Der Wiener Zeitungstratsch wusste schon im Mai 1805: „Nächstens soll eine neue Oper Beethovens auf die Bühne gebracht werden. Man ist sehr gespannt auf diese Arbeit, in welcher Beethoven zuerst als dramatischer Komponist auftreten wird. In dem Texte soll Beethoven mit Pae¨r zusammengetroffen sein, der auch die nämliche ,Leonore‘ voriges Jahr zu Dresden in Musik setzte.“
Das ließ einem der wichtigsten Mäzene Beethovens, dem Fürsten Lobkowitz, immer an Novitäten interessiert, keine Ruhe. Er ließ Pae¨rs wenige Monate alte „Leonora ossia L’amor conjugale“für eine Privataufführung einstudieren – mit Beethovens erster Marzelline, Louise Müller, in der Titelpartie! Vier Tage später startete an der Wien Beethovens Zweitversuch.
Fidelio hier, Fidelio da – nicht erst anno 2020.
Woher rührt Ihre große Liebe zu Beethovens „Leonore“?
Dominique Meyer: Ich habe diese Oper in den 1970er-Jahren durch eine Aufnahme entdeckt und war gleich von ihrer Schönheit begeistert. Schon in meiner Zeit als Direktor der Oper in Lausanne hatte ich den Wunsch, die in Ungnade gefallene Urfassung zu rehabilitieren. Man hat gesagt, dass es ein ungeschicktes Jugendwerk war – aber das sagten jene, die „Leonore“gar nicht gehört hatten. Beethoven war 1805 wirklich kein Anfänger mehr, da hatte er schon mehrere wichtige Werke, darunter die „Eroica“, geschrieben – und die würde man nie als Arbeit eines Anfängers bezeichnen.
Oft heißt es, der Misserfolg bei der Uraufführung 1805 lag daran, dass Napoleon gerade in Wien einmarschiert war und der Adel nicht in Wien war. Was entgegnen Sie aber Kritikern, die meinen, dass es nicht nur daran lag, sondern dass „Leonore“am Textbuch krankte oder zu anspruchsvoll war beziehungsweise, dass Beethoven nicht so viel Wert auf den Fluss der Handlung legte?
Das sagt man bei Uraufführungen immer, wenn man noch keinen Schlüssel für das Verständnis gefunden hat. Man hat dem Stück 1805 in Wahrheit keine Chance gegeben. Beethoven hat mit „Leonore“einen wichtigen Schritt in Richtung Romantik gemacht, vieles weist hier schon in die Richtung, die Wagner und Weber später einschlagen sollten. In Wahrheit ist diese Oper ein großer Bruch – so wie zwischen zweiter und dritter Symphonie. Eine Zäsur in der Musikgeschichte.
Es kursierten lange Zeit Anekdoten, die von einem Beethoven sprachen, der „Leonore“nach der Uraufführung nur sehr widerwillig überarbeitete, neuere Forschungen nehmen von dieser Annahme Abstand – wie schätzen Sie dies ein?
Seien wir vorsichtig mit Dingen, die wir nicht wissen können.
Fakt ist, dass er sich damit lang mühte, das Werk zweimal umfassend bearbeitete und davon sprach, die Oper erwerbe ihm die Märtyrerkrone. Was mögen Sie an „Fidelio“, was an „Leonore“besonders?
Ich habe „Fidelio“immer geliebt, aber seit ich die Urfassung mehrfach gespielt habe, habe ich den Eindruck, die 1814er-Fassung, also „Fidelio“, sei ein wenig wie eine zerstörte Statue. Man sieht ihre Schönheit, aber es fehlt da ein Arm, da ein Fuß. Das nimmt aber nichts von der Eleganz. Beispielsweise gehen mir in der dritten Fassung der große Atem des Chors und das Duett der beiden Frauen ab, darum ist es schade, denn das ist einfach schöne Musik. Meiner Ansicht nach ist die Urfassung romantischer, die Endfassung politischer. Ich finde, es ist ein anderes Stück in einer anderen Stimmung, und ich möchte ihm eine Chance geben, vielleicht doch ein großes Publikum zu begeistern.
Sie bieten in den kommenden Monaten die Möglichkeit, die Fassungen zu vergleichen, wenn Sie am 1. Februar „Leonore“zur Erstaufführung an der Wiener Staatsoper bringen und ab 22. April „Fidelio“in einer Inszenierung von Otto Schenk aus dem Jahr 1970 wieder auf dem Spielplan haben.
1955
Geboren in Thann im Elsass als Sohn eines Diplomaten.
1984
Der französische sozialistische Kulturminister Jack Lang engagiert ihn als Berater für Kultur.
1989
Er wird Generaldirektor der Pariser Oper.
1992
Rückkehr in die Politik – als Berater von Premierminister Pierre B´er´egovoy.
1999
Intendant des Th´eˆatre des Champs-´Elys´ees.
2007
Österreichs Kulturministerin Claudia Schmid (SPÖ) beruft ihn als Direktor der Staatsoper ab 2010.
2016
Kulturminister Thomas Drozda (SPÖ) bestellt Bogdan Roˇsˇci´c zum Staatsoperndirektor ab 2020.
2019
Meyer wird zum Nachfolger von Alexander Pereira als Intendant der Mailänder Scala bestellt. Dieses Amt wird er schon im März 2020 antreten.
Ich finde es schön, dass wir den Wienern ermöglichen können, innerhalb weniger Monate alle drei Fassungen zu hören – denn über unsere zwei Produktionen hinaus spielt man ja ab 16. März im Theater an der Wien die Version von 1806. So kann sich jeder seine eigene Meinung bilden. Ich sehe es auch als meine Aufgabe, Sachen zur Kenntnis zu bringen, die in Vergessenheit geraten sind. Man kann die Geschichte nicht umschreiben, aber manche Defizite korrigieren. In Wien ist es besonders berechtigt, die Urfassung zu spielen. Ich war selbst überrascht, wie viele Wiener – auch Musiker – diese gar nicht kennen. Das ist doch unglaublich: Einer der wichtigsten Komponisten unserer Kulturgeschichte hat eine Oper geschrieben, und man zeigt sie nicht.
Werden Sie „Leonore“auch spielen, nachdem Sie an die Mailänder Scala übersiedelt sind?
In Mailand werde ich den Schwerpunkt eher auf das italienische Repertoire legen.
Braucht „Leonore“eher Wagner-erfahrene oder Mozart-geschulte Sänger? Und wie ist das im Unterschied zu „Fidelio“zu sehen? Wir brauchen für „Leonore“dramatischere Stimmen als im Mozartfach oder noch besser solche, die gerade auf dem Weg ins Dramatischere sind. Benjamin Bruns hat viel Mozart gesungen und ist nun auf dem Weg zu Dramatischerem – nun übernimmt er bei der „Leonore“-Premiere den Florestan. Diese Partie ist ein wenig leichter als bei „Fidelio“, während Leonore in der Urfassung anspruchsvoller agiert – bei uns wird Jennifer Davis sie verkörpern. In der großen Arie hat sie mehr Koloraturen zu singen, man braucht eine dramatische Stimme, die dennoch koloraturfähig ist, was sich ja normalerweise widerspricht.
Napoleons Offiziere hatten das Stück – zu anderer Musik – schon 1798 in Paris gesehen.
Zusätzlich zu „Leonore“und „Fidelio“widmen Sie dem Jahresregenten auch die Kammerkonzerte der Wiener Philharmoniker im Gustav-Mahler-Saal, in denen in dieser Saison ausschließlich Werke von Beethoven zur Aufführung kommen. Wie haben Sie hier die Programme ausgewählt?
Die Vertreter der Wiener Philharmoniker entscheiden selbst, was sie spielen, mir war nur wichtig, dass in den Kammerkonzerten heuer ausschließlich Beethoven gespielt wird – und dass hier auch Musiker spielen, die sonst nicht in der ersten Reihe stehen.
Am 1. und 2. Februar sind außerdem vier Konzerte im Gustav-Mahler-Saal angesetzt, bei denen Sänger aus dem Ensemble Beethovens Liedschaffen präsentieren. Was schätzen Sie an diesem?
Beethovens Lieder sind sehr natürlich, sehr menschlich und haben einen herrlichen Fluss. Wenn wir nun im Ensemble so gute Liedsänger haben, wollte ich das auch nützen. Mit diesen Konzerten möchte ich ebenso wie mit „Leonore“die Zuschauer sanft an der Hand nehmen und in eine Richtung bringen, die sie vielleicht nicht eingeschlagen hätten. Sie können dabei eine Musik von einer so unglaublichen Schönheit entdecken, die Beethoven pur ist.