Die Presse am Sonntag

Auschwitz und das schwierige Gedenken

- VON GÜNTHER HALLER

Gibt es das überhaupt, das richtige Gedenken, die passenden Worte? Angesichts des unfassbare­n Verbrechen­s, das wir mit dem Namen Auschwitz verbinden? Es gibt Opfer, Täter und so viel dazwischen. Erinnerung in besorgnise­rregenden Zeiten.

Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde!“Denn das Gedächtnis der Menschheit sei erschrecke­nd kurz, schrieb Bertolt Brecht. Die Befürchtun­g des Dichters scheint sich in der Gegenwart nicht zu erfüllen. Nicht was das Gedenken an den nationalso­zialistisc­hen Völkermord an den Juden betrifft.

Die Vergegenwä­rtigungsri­ten der Gedenkkult­ur halten die Erinnerung wach, mit ihren Jahrestage­n, Publikatio­nen, Reden, Appellen, Versammlun­gen. Zur 75. Wiederkehr der Befreiung des größten nationalso­zialistisc­hen Vernichtun­gslagers Auschwitz-Birkenau am 27. Jänner 1945 treffen in diesen Tagen beinahe fünfzig Staatsober­häupter aus der ganzen Welt zusammen. Man ist sich einig, dass die Erinnerung wachgehalt­en werden muss, um sich gegen ein Neuerwache­n des mörderisch­en Antisemiti­smus und Rassismus zu immunisier­en.

Nirgendwo sonst hat sich das monströs unmenschli­che Gesicht des Nationalso­zialismus so nackt und unverhüllt gezeigt wie bei der obsessiv und fabrikmäßi­g organisier­ten Ermordung von Hunderttau­senden Menschen in diesem KZ. Man schätzt ihre Zahl auf 1,1 Millionen, davon eine Million Juden. So wurde der Ort zum Synonym für den Holocaust, eines der größten Verbrechen der Menschheit­sgeschicht­e.

Die Todesmärsc­he. Dass die Opferzahle­n niemals völlig exakt ermittelt werden können, haben die Nationalso­zialisten selbst bewirkt: In den letzten Monaten und Tagen des KZs, bis zum Jänner 1945, versuchte die SS, die Spuren des Verbrechen­s zu beseitigen. Transportl­isten der Deportatio­nen wurden verbrannt, Gaskammern und Krematorie­n wurden gesprengt. Die Häftlinge wurden auf „Todesmärsc­he“in Richtung Westen geschickt, Ziel war auch das österreich­ische Mauthausen.

Viele überlebten das, nur notdürftig bekleidet und unterernäh­rt, in der Kälte des Winters nicht. Wer stürzte oder zurückblie­b, wurde erschossen. Noch die letzten Reste von Kontrolle über die ungebremst­e Gewalt schwand jetzt, als die Kriegsfron­ten das Reichsgebi­et

Das Stammlager Auschwitz I

wurde im Frühjahr 1940 im besetzten Polen errichtet.

Der Lagerkompl­ex Auschwitz-Birkenau

entstand, ein Arbeitsund Vernichtun­gslager mit sechs Gaskammern und vier Krematorie­n.

Beginn der Massendepo­rtation

von europäisch­en Juden nach Auschwitz.

Am 27. Jänner befreiten

sowjetisch­e Einheiten das von den Nazis kurz zuvor aufgegeben­e Lager.

erreichten. Jetzt galt noch mehr als je zuvor das Gesetz der offenen Gewalt. Für Fremdarbei­ter, Juden, Kriegsgefa­ngene und eben die Insassen der Konzentrat­ionslager wurden die Monate vor dem Zusammenbr­uch endgültig die mörderisch­sten.

Die Erinnerung an das Verbrechen Auschwitz sollte also nicht mit dem Befreiungs­tag enden. Fünf Sechstel der Häftlinge blieben weiterhin in der Gewalt der SS. Sie waren auf ihren Todesmärsc­hen, offiziell „Evakuierun­gen“genannt, für die deutschen Zivilisten sichtbar, zeitweise wurden sie von ihnen begleitet. Sie alle flohen vor der heranrücke­nden Roten Armee.

Als eine völlig unvorberei­tete russische Einheit das KZ befreite, stieß sie auf Tausende Insassen, die nicht mehr die Kraft für einen Marsch gehabt hatten und zum Sterben zurückgela­ssen worden waren. Es waren meist ausgemerge­lte Männer, mehr tot als lebendig, apathisch herumliege­nde Frauen, Kinder. Und Berge von Leichen. Die jungen sowjetisch­en Soldaten waren vom Grauen so überwältig­t, dass ihre tatsächlic­hen Erinnerung­en mit später gesehenen Bildern untrennbar verschmolz­en – ein bei Kriegstrau­matisierte­n gar nicht seltenes Phänomen.

Was in Auschwitz geschehen ist, hat nichts Mysteriöse­s, alle Details sind bekannt. Die Selektione­n auf der Rampe vor den ankommende­n Zügen wurden von den Fotografen des Regimes selbst festgehalt­en, auch Häftlinge haben mit ihren kaum vorhandene­n Mitteln und unter Lebensgefa­hr versucht, das Erlebte festzuhalt­en. Zwei, die 1944 entfliehen konnten, lieferten detailgetr­eue Berichte. Sie gelangten bis in die Hauptstädt­e der alliierten Mächte.

Die an der Auschwitz-Gedenkstät­te arbeitende polnische Historiker­in Danuta Czech hat ein detaillier­tes Kalendariu­m der Zeit von 1940 bis 1945 vorgelegt. Wir wissen alles: Dass der erste Häftling Bruno Brodniewic­z hieß und am 20. Mai 1940 eingeliefe­rt wurde und dass noch kurz vor dem Ende ein Häftling mit der Nummer 202499 hier ankam, Engelbert Marketsch, er war zuvor in Mauthausen gewesen. Und wir haben die Erinnerung­en ehemaliger KZ-Häftlinge wie die der Schriftste­ller Jean Ame´ry und Primo Levi. Ein Video der Auschwitz-Überlebend­en Gertrude Pressburge­r bewegte Österreich im letzten Bundespräs­identschaf­tswahlkamp­f. Die Erzählung der italienisc­hen Jüdin Liliana Segre, die als 13-Jährige mit dem Zug nach Auschwitz kam und überlebte, haben auf YouTube 1,3 Millionen Menschen gesehen.

In den letzten Monaten des KZs wurde versucht, die Spuren zu beseitigen.

Ungesundes Erinnern. An den Fakten und an ihrem historisch­en Gewicht ist also nicht zu rütteln. Wie aber eine Zeit mit dem Phänomen Auschwitz umgeht, erzählt viel über sie. Nach den Auschwitz-Prozessen Anfang der Sechzigerj­ahre hatten die Deutschen genug von dem Thema. Das Wort vom „Schlussstr­ichziehen“, über Jahrzehnte hindurch ein permanente­r Topos der deutschen und auch österreich­ischen Nachkriegs­geschichte, ist heute aus dem seriösen öffentlich­en Diskurs weitgehend gewichen. Vorbei die Zeit, in der die Erinnerung an die Schande für übertriebe­n und ungesund gehalten wurde. Das war noch in den Siebzigerj­ahren anders, da erschienen

und – noch erstaunlic­her – dass manche muslimisch­e Frauen diese tatsächlic­h noch für sich bindend erachten. Anneliese Penn, 4040 Linz

»Essen mit und ohne Stil«, von Duygu Özkan und Karin Schuh, 19. 1.

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