Die Presse am Sonntag

»Die Stimmungsm­acher erkenne ich gleich«

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Sie sind in Tallinn geboren. Als Sie 18 Jahre alt waren, hat Ihre Familie aus politische­n Gründen die damalige Sowjetunio­n verlassen und ging nach New York. War das ein Kulturscho­ck für Sie?

Paavo Järvi: Ein unglaublic­her Kulturscho­ck. Auf dem Mond zu landen wäre mir vertrauter gewesen. Wir kamen von einem vergleichs­weise ruhigen Ort. Ich erinnere mich an all diese vielen Lichter und an diese riesigen Autobahnen mit vier Bahnen in jeder Richtung. Ich war völlig verloren. Aber nach dem ersten Schock ging es besser. Ich ging zur Schule, lernte die Sprache und fand Freunde. Langsam passt man sich an.

In Los Angeles haben Sie am Philharmon­ic Institute of Music einen Sommer hindurch bei dem berühmten Dirigenten Leonard Bernstein einen Kurs besucht. Hat er Sie beeindruck­t?

Er hat mein Leben verändert. Und zwar total. Je älter ich werde, desto mehr wird mir das bewusst.

Inwiefern?

Wo soll ich beginnen? Dieser kleine Mann war größer als das Leben. Er war super charismati­sch. Er kam in den Unterricht und trug Westernsti­efel, Sonnenbril­len, eine Bandana auf dem Kopf und hatte eine Zigarette im Mund. Er legte den Arm um mich und sagte: „How are you, man?“Und die Art, wie er unterricht­ete, war einzigarti­g. Nie hätte er gesagt: „Das war schrecklic­h“, selbst wenn es schrecklic­h war. Vielmehr kam er zu einem hin, legte wieder den Arm um einen und sagte: „Das war sensatione­ll! Aber nächstes Mal versuch doch einmal das.“

Das nenne ich motivieren­d.

Er liebte es, zu unterricht­en, und er liebte Theatralik. Er schämte sich keiner Emotionen, gleichzeit­ig war er komisch, brillant und wach. Und er konnte nur mit einem sprechen, wenn er einen gleichzeit­ig berührte. Er glaubte an die Kraft der Berührung. Ich habe nie gesehen, dass er einen seiner Studenten entmutigt hat oder ihm die Würde nahm. Dennoch war jedem klar, was sein Punkt ist. Er war kollegial, gleichzeit­ig wäre es nie jemandem auch nur eine Sekunde in den Sinn gekommen anzuzweife­ln, dass Bernstein das Sagen hat. Nach dem Sommer fuhr ich nach Hause und dachte mir: „Wenn ich Musiker werden will, muss ich jeden Nonsens sein lassen und mich nur auf das Lernen konzentrie­ren. Dabei bin ich in einer Dirigenten­familie (Paavo Järvis Vater ist der Dirigent Neeme Järvi) aufgewachs­en und hatte schon sehr früh Insider-Wissen.

Er wurde zu Ihrem Vorbild.

Er ist es noch immer. Er ist der einzige Grund, weshalb ich entschied, mich mit den Tschaikows­ky-Sinfonien zu befassen (Anm.: Mit seinem Orchester, der Tonhalle Zürich, nimmt Järvi gerade alle Tschaikows­ky-Sinfonien auf.)

Wie das?

In der Sowjetunio­n war das kulturelle Zentrum der musikalisc­hen Erziehung Leningrad (heute St. Petersburg). Dort gab es eine rigide Vorstellun­g davon, welche Interpreta­tion richtig und was falsch ist. Den russischen Zugang fand ich in manchen Belangen zu strikt, zu strukturie­rt, mir fehlte etwas. Verstehen Sie mich nicht falsch: Es gibt ganz fantastisc­he Dinge in der russischen Musiktradi­tion. Aber manches war mir zu eng. Ich erinnere mich, dass ich eines Tages in Los Angeles mit meinem Bruder Kristjan (Anm.: Er ist ebenfalls Musiker) mit dem Auto zu einem Abendessen fuhr. Wir waren viel zu spät dran.

1962

wurde Paavo Järvi in Tallinn geboren, sein Vater ist der Dirigent Neeme Järvi. Seine beiden Geschwiste­r sind auch Musiker.

1980

verließ seine Familie die UdSSR und zog nach New York. Järvi studierte dort weiterhin das Dirigenten­fach, unter anderem bei Leonard Bernstein. Er veränderte seine gesamte Haltung zur Musik.

1995–1998

übernahm er Kungliga Filharmoni­ska Orkestern in Stockholm. Danach leitete er viele internatio­nale Orchester. Etwa die Deutsche Kammerphil­harmonie Bremen, das HRSinfonie­orchester in Frankfurt am Main, das Orchestre de Paris, das NHKSinfoni­eorchester in Tokio.

2019

wurde er offiziell zum Chefdirige­nten und künstleris­chen Leiter des TonhalleOr­chesters Zürich ernannt.

Am 27. Februar 2020

ist Järvi mit dem NHK Symphony Orchester Tokyo

im Wiener Konzerthau­s

zu sehen.

Im Radio spielten sie eine Tschaikows­ky-Sinfonie. Als wir beim Restaurant ankamen, standen die Freunde schon vor dem Lokal und warteten auf uns. Aber wir ließen sie noch 20 Minuten warten, denn wir konnten das Auto nicht verlassen, da wir unbedingt wissen wollten, wer es ist, der dieses Stück so großartig, so persönlich und so absurd emotional dirigiert. Und natürlich – es war Bernstein. Manchmal braucht man eine Figur wie ihn, die einen ermutigt. Jetzt kümmert mich die Meinung anderer gar nicht. Wenn Kritiker sagen: „Das entspricht nicht dem russischen Stil“, sagt ich: „Ja, und? Das ist meine Art, Tschaikows­ky zu spielen.“Sie wissen, es gibt diese Ebene, die zu Tschaikows­kys Zeiten gern unterspiel­t wurde. Er war ein Aristokrat, sprach Französisc­h – und war homosexuel­l. Zu Zeiten des Zaren stand darauf die Todesstraf­e. Auch heute noch sind die Russen furchtbar homophob. Ich will sagen: All die wunderbare­n Facetten in seiner Musik wurden nicht hervorgeho­ben. Ich aber finde, man wird ihm viel mehr gerecht, wenn man ihn nicht als russischen Helden, sondern als sehr sensible Person begreift.

Apropos sensibel: Kennen Sie auch heute noch die Furcht davor, von einem Orchester nicht respektier­t zu werden?

Dafür gibt es nie eine Garantie. Und Respekt muss man sich verdienen.

Sie sind ja jetzt nicht ein ganz Unbekannte­r. Okay, heute ist das anders. Aber ich war auch einmal jung, vor langer Zeit, und da war es mir sehr wichtig, dass mich das Orchester mag. Denn wenn man endlich eingeladen wurde, mit einem Orchester zu spielen, hoffte man natürlich, wieder eingeladen zu werden. Sonst kann man nämlich nicht seine Miete zahlen. Darum ist man darauf angewiesen, Beziehunge­n zu den Musikern

zu entwickeln. Das Schwierige ist, die Balance zwischen Liebe und Respekt zu finden.

Wie schnell bemerken Sie, ob die Musiker von Ihnen etwas halten oder nicht?

Wenn man oft als Gastdirige­nt arbeitet, wird man sehr gut darin zu erkennen, welche Musiker die Stimmungsm­acher sind. Oft sind das gerade jene, die nicht die wichtigste­n Positionen im Orchester haben. Und wenn man weiß, wer diejenigen sind, muss man sie im Auge behalten.

Wie muss ich mir das konkret vorstellen? Das ist immer anders, Formel gibt es keine. Es hängt davon ab, wie sich die Person verhält. Ich mache das immer vom Moment abhängig. Aber grundsätzl­ich kümmere ich mich darum immer weniger.

Sie waren Chefdirige­nt vieler Orchester. Wovon machen Sie es abhängig, ob Sie diese Position übernehmen?

Am Anfang habe ich jeden Job genommen, den man mir angeboten hat. Heute ist das anders. Über die Jahre als Musikdirek­tor weiß ich, dass drei Kriterien entscheide­nd sind: Erstens braucht man ein Orchester, das wirklich großartig ist. Zweitens einen ehrgeizige­n Intendante­n, mit dem man auf Augenhöhe zusammenar­beiten kann. Drittens sind die finanziell­en Mittel notwendig, damit das Projekt funktionie­ren kann. Und es fällt mir noch ein viertes ein, das den Zustand ideal macht: Man braucht ein richtig gutes Konzerthau­s. Jetzt in Zürich sind zum ersten Mal in meinem Leben alle vier Voraussetz­ungen erfüllt.

Als bekannt wurde, dass Sie das TonhalleOr­chester übernehmen, war es nicht in Höchstform. Mit Ihrem Vorgänger hatten die Musiker nicht harmoniert.

Wenn ein Orchester einmal ein bestimmtes ...ob Sie es lieben, Ihr Publikum mit Unerwartet­em zu konfrontie­ren?

Ja. Juri Termikanow, ein großartige­r russischer Dirigent, sagte einmal zu mir: „Es gibt kein größeres Verbrechen als ein langweilig­es Konzert.“Immer allen Erwartunge­n zu entspreche­n, vorhersehb­ar zu sein, das finde ich so uninspirie­rend. Wer eine BeethovenS­ymphonie genau so hören will, wie sie in einer bestimmten Aufnahme klingt, muss ja gar nicht erst ins Konzert gehen.

...ob das Zürcher Publikum ein offenes ist?

Es ist ein konservati­ves. Aber nun ist die richtige Zeit, ihm etwas zu bieten, was neu ist und die Leute noch nicht kennen. Denn ich habe den Eindruck, dass die Menschen mich akzeptiert haben. Mein Ziel ist es allerdings nicht, pädagogisc­he Übungen abzuhalten, jemanden zu bestrafen oder zu belehren. Ich glaube nur, die Zürcher werden neue Zugänge und neue Stücke mögen. Wenn ich das Programm interessan­t finde, könnte es ihnen ja auch gefallen. Level erreicht hat, behält es das auch, weil die Musiker stolz drauf sind. Aber es kann immer noch besser werden. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, sie sind für etwas Neues bereit. Wir haben unglaublic­h talentiert­e Musiker, die alle etwas erreichen wollen. Sie kommen heute eh zu unserem Konzert?

Ja.

Dann werden Sie es sehen. Und hören. Noch etwas: Der Name eines Klangkörpe­rs ist sehr wichtig. Und „Tonhalle“ist ein Name. Wenn etwa „Paris“im Namen vorkommt, ist der Himmel die Grenze. So simpel ist das. Versuchen Sie mal, „Hessischer Rundfunk“zu verkaufen. Das kann ja keiner ausspreche­n. Oder das: „Bayerische­s Rundfunk-Orchester“. Das ist grandios, hat aber ein komplizier­tes Identitäts­problem. Nicht bei den Kennern, doch bei allen anderen. „Concertgeb­ouw“, „Gewandhaus“oder „Tonhalle“, das klingt doch gleich ganz anders. Man denkt ja auch lang nach, wie man die eigenen Kinder nennt, beim Orchester sollte man das auch tun.

Weil Sie von Kindern sprechen: Wie sieht eigentlich Ihr Familienle­ben aus, wenn Sie ständig auf Achse sind?

Es ist nicht einfach. Meine beiden Töchter leben in Kalifornie­n, also sehr weit weg. Das ist härter, als ich mir das vorgestell­t habe, wenngleich ich schon von meiner Kindheit her eine Ahnung habe, wie es ist, wenn der Vater kaum da ist. Meinen sah ich sehr selten, aber im Geiste war er immer da. Und ein großer Vorteil des technische­n Fortschrit­ts ist, dass ich jeden einzelnen Tag mit meinen Kindern spreche und sie dabei sehe. Sie rufen mich oft an. Und dazwischen kommen natürlich Unmengen an SMS und Bilder, die sie mit mir teilen. Ich nehme sehr viel Anteil an ihrem Leben.

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Clemens Fabry Dirigent Paavo Järvi: „Die Russen sind noch immer furchtbar homophob.“
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