Der Aufstand gegen den Schattenstaat
Viele Bulgaren haben von Korruption und Mafia-Machenschaften genug. Seit einem Monat gehen im ärmsten EU-Mitgliedsstaat Zehntausende gegen die Rechtlosigkeit auf die Straßen. Ein Lokalaugenschein in Sofia.
Weiß-grün-rot wogt das Fahnenmeer. Tausende drängen sich am 31. Abend in Folge auf dem Atanas-Burow-Platz in Sofia. Maskenträger sind in der Menschenmenge auf dem gelben Kopfsteinpflaster im Zentrum von Bulgariens Hauptstadt Sofia nur vereinzelt zu sehen. Dafür übertönt der ohrenbetäubende Lärm von rhythmisch geblasenen Vuvuzelas und Trillerpfeifen den unablässig wiederholten Sprechchor: „Ostawka – Abtritt!“
„Abtritt“, malt ein junger Mann mit Kreide auf die Fassade des im Zuckerbäckerstil errichteten früheren Hauptquartiers der Kommunistischen Partei. Fahndungsplakate mit dem Slogan „Wanted“und den Bildnissen von Regierungschef Bojko Borissow und Generalstaatsanwalt Iwan Geschew prangen auf dem Gemäuer des heutigen Bürogebäudes des Parlaments: Der bullige Langzeitpremier gilt den Demonstranten wegen seiner engen Bande zu den unberührbaren Oligarchen Bulgariens genauso als Sinnbild für einen gekaperten Staat wie der ranghöchste Justizbeamte des Landes.
»Es sind die Gelder der EU-Steuerzahler, die hier die Korruption finanzieren.«
In seinem schwarzen Rucksack sucht der Banker Rumen nach seiner Trillerpfeife. Seit 1989 sei er bei allen Protesten in Sofia stets dabei gewesen, sofern er nicht im Ausland gewesen sei: „Leider hat sich seitdem nur wenig verändert. Dieselbe Art von Leuten hat hier immer noch das Sagen. Nur sind die damaligen Geheimdienstler und Kriminellen zu Geschäftsleuten und Politikern geworden.“Die Veränderungen seit Bulgariens Wende seien nur „oberflächlich“, sagt der Mann, der seinen Nachnamen nicht nennen will. „Wir entwickeln uns auch in der EU nicht weiter, sondern nur zurück.“
Seit einem Monat ziehen beim ärmsten und korruptesten EU-Mitglied Zehntausende von Demonstranten gegen Vetternwirtschaft, Mafia-Machenschaften und die Rechtlosigkeit durch die Straßen. Er demonstriere, damit Bulgarien nicht Europas „schwarzes Loch bleibt, wo EU-Gelder ohne sichtbare Ergebnisse nur versickern“, sagt der Rechtsanwalt Emil Georgiew. Die Proteste seien keineswegs nur eine bulgarische Angelegenheit: „Es sind die Gelder der EU-Steuerzahler, die hier in Bulgarien die Korruption finanzieren.“Geschäftstüchtige Politiker und Spitzenbeamte, die sich eher mächtigen Schutzherren als dem Gemeinwohl und ihren Schutzbefohlenen verpflichtet fühlen: Der in Wien aufgewachsene und studierte Jurist spricht vom „Schattenstaat“, wenn er die Zustände in seinem Heimatland beschreibt.
Intransparente Netzwerke. Die Bulgarien dominierenden Seilschaften stammten zum Teil noch aus der Vorwendezeit, seien weder sichtbare noch demokratisch legitimierte Strukturen, erklärt der Aktivist der Juristeninitiative „Gerechtigkeit für alle“: „Man kann sie weder wählen noch abwählen, aber sie nutzen ihre Machtposition dazu, das politische Geschehen zu diktieren.“Egal welche Partei nach der Wende an der Macht gewesen sei: Im Gegensatz zu anderen ex-sozialistischen Staaten seien in Bulgarien die Geheimdienststrukturen „nie durchleuchtet“worden: Die ausgebliebene Lustration sei „der Grund, warum deren Machenschaften immer noch existieren – und sich im Dunkel des Schattenstaats so gut orientieren“.
„Mafia“oder „Potemkinsches Dorf“prangt auf den selbst gefertigten Pappschildern der Demonstranten. Es ist nicht die erste Protestwelle, die seit dem EU-Beitritt von 2007 den Balkanstaat erschüttert. Bereits 2013 hatten wochenlange Armutsdemonstrationen gegen überhöhte Stromrechnungen das erste Kabinett von Borissow zu Fall gebracht. Als die sozialistische Nachfolger-Regierung im Juni 2013 ausgerechnet den allmächtigen Medienmogul Deljan Peewski von der Oligarchenpartei DPS zum Geheimdienstchef kürte, erschütterten erneut monatelange Proteste das Land.
„Die Justizreformen, die wir 2013 gefordert haben, sind nie realisiert worden“, klagt die Anwältin Stefanija Gitschewa. Sieben Jahre später habe Bulgarien noch immer keinen funktionierenden Rechtsstaat, „sondern nur hohe Kriminalität, enorme Korruption, eine sehr selektive Justiz – und einen Generalstaatsanwalt, der über allem steht. Die Leute wollen endlich Gerechtigkeit und Veränderung – und zwar eine echte“.
Im Gegensatz zu 2013 würden die Proteste nicht nur in Sofia, sondern im ganzen Land großen Widerhall finden: „Vieler unserer jungen Leute haben in anderen EU-Staaten studiert – und wissen, wie eine normale Demokratie funktionieren kann.“Mit der „Heilung“der Justiz ließe sich „auch das Land heilen“, ist Gitschewa überzeugt: „Wir wissen, dass der Abtritt der Regierung keine Lösung für alle Probleme ist, aber es wäre ein erster Schritt.“
Anders als die Kundgebungen von 2013 werde die jetzige Protestwelle von Menschen aller politischen Couleur getragen, berichtet ihr Mitstreiter Georgiew: „Quer durch von Linken, Libertären, Bürgerlichen und Konservativen
– alle sind dabei.“Wirkungen zeigen die Proteste seiner Meinung nach schon jetzt: „Ohne den Druck der Straße hätte Borissow nie Minister ausgetauscht oder würde die Staatsanwalt nun auch nicht erstmals gegen illegale Bauprojekte an der Küste ermitteln. Doch seine Konzessionen reichen nicht aus – und werden auch von niemanden ernst genommen.“
„Europa, bist Du blind?“Tatsächlich sind es nicht nur die Proteste, sondern auch fallende Umfragewerte, die Borissow zu schaffen machen. Seit Dezember sind die Umfragewerte für seine rechte Gerb-Partei laut einer jüngsten Umfrage von 21 auf 14,5 Prozent geschrumpft. Er sei „jederzeit zum Abtritt bereit“, beteuerte der in Bedrängnis geratene Hobbykicker beim Gerb-Parteitag in der Vorwoche. „Nein, nein!“schallte es ihm wie auf Bestellung entgegen. Der Premier werde auf Drängen der Koalitionspartner bis zum Ende der Legislaturperiode im Amt bleiben, verkündete zwei Tage später Waleri Simeonow von den mitregierenden Vereinigten Patrioten den Rücktritt von allen Rücktrittsabsichten.
Doch seinen von ihm gern gepflegten Nimbus als Mann des einfachen Volkes hat der Regierungschef spätestens nach der bizarren Schlafzimmeraffäre längst verloren. Im Juni veröffentlichte das Portal „afera.bg“Fotos, die den Premier schlummernd in seinem Bett zeigten. Für Verwunderung sorgte der abgebildete Nachtisch. Eine Pistole lag unter der Bettlampe. Goldbarren und Bündel von 500-EuroScheinen lugten aus der Schublade.
„Europa, bist Du blind?“fragt ein selbst gemachtes Plakat. Er verstehe die EU und Angela Merkel nicht, „warum sie so eine kriminelle Figur wie Borissow überhaupt in die Nähe von Brüssel kommen lassen und ihm stattdessen das Geld in den Hintern schieben“, wundert sich im Zentrum von
Die Protestwelle wird von Menschen aller politischen Couleur unterstützt.