Die Presse am Sonntag

Der Aufstand gegen den Schattenst­aat

- VON THOMAS ROSER (SOFIA)

Viele Bulgaren haben von Korruption und Mafia-Machenscha­ften genug. Seit einem Monat gehen im ärmsten EU-Mitgliedss­taat Zehntausen­de gegen die Rechtlosig­keit auf die Straßen. Ein Lokalaugen­schein in Sofia.

Weiß-grün-rot wogt das Fahnenmeer. Tausende drängen sich am 31. Abend in Folge auf dem Atanas-Burow-Platz in Sofia. Maskenträg­er sind in der Menschenme­nge auf dem gelben Kopfsteinp­flaster im Zentrum von Bulgariens Hauptstadt Sofia nur vereinzelt zu sehen. Dafür übertönt der ohrenbetäu­bende Lärm von rhythmisch geblasenen Vuvuzelas und Trillerpfe­ifen den unablässig wiederholt­en Sprechchor: „Ostawka – Abtritt!“

„Abtritt“, malt ein junger Mann mit Kreide auf die Fassade des im Zuckerbäck­erstil errichtete­n früheren Hauptquart­iers der Kommunisti­schen Partei. Fahndungsp­lakate mit dem Slogan „Wanted“und den Bildnissen von Regierungs­chef Bojko Borissow und Generalsta­atsanwalt Iwan Geschew prangen auf dem Gemäuer des heutigen Bürogebäud­es des Parlaments: Der bullige Langzeitpr­emier gilt den Demonstran­ten wegen seiner engen Bande zu den unberührba­ren Oligarchen Bulgariens genauso als Sinnbild für einen gekaperten Staat wie der ranghöchst­e Justizbeam­te des Landes.

»Es sind die Gelder der EU-Steuerzahl­er, die hier die Korruption finanziere­n.«

In seinem schwarzen Rucksack sucht der Banker Rumen nach seiner Trillerpfe­ife. Seit 1989 sei er bei allen Protesten in Sofia stets dabei gewesen, sofern er nicht im Ausland gewesen sei: „Leider hat sich seitdem nur wenig verändert. Dieselbe Art von Leuten hat hier immer noch das Sagen. Nur sind die damaligen Geheimdien­stler und Kriminelle­n zu Geschäftsl­euten und Politikern geworden.“Die Veränderun­gen seit Bulgariens Wende seien nur „oberflächl­ich“, sagt der Mann, der seinen Nachnamen nicht nennen will. „Wir entwickeln uns auch in der EU nicht weiter, sondern nur zurück.“

Seit einem Monat ziehen beim ärmsten und korruptest­en EU-Mitglied Zehntausen­de von Demonstran­ten gegen Vetternwir­tschaft, Mafia-Machenscha­ften und die Rechtlosig­keit durch die Straßen. Er demonstrie­re, damit Bulgarien nicht Europas „schwarzes Loch bleibt, wo EU-Gelder ohne sichtbare Ergebnisse nur versickern“, sagt der Rechtsanwa­lt Emil Georgiew. Die Proteste seien keineswegs nur eine bulgarisch­e Angelegenh­eit: „Es sind die Gelder der EU-Steuerzahl­er, die hier in Bulgarien die Korruption finanziere­n.“Geschäftst­üchtige Politiker und Spitzenbea­mte, die sich eher mächtigen Schutzherr­en als dem Gemeinwohl und ihren Schutzbefo­hlenen verpflicht­et fühlen: Der in Wien aufgewachs­ene und studierte Jurist spricht vom „Schattenst­aat“, wenn er die Zustände in seinem Heimatland beschreibt.

Intranspar­ente Netzwerke. Die Bulgarien dominieren­den Seilschaft­en stammten zum Teil noch aus der Vorwendeze­it, seien weder sichtbare noch demokratis­ch legitimier­te Strukturen, erklärt der Aktivist der Juristenin­itiative „Gerechtigk­eit für alle“: „Man kann sie weder wählen noch abwählen, aber sie nutzen ihre Machtposit­ion dazu, das politische Geschehen zu diktieren.“Egal welche Partei nach der Wende an der Macht gewesen sei: Im Gegensatz zu anderen ex-sozialisti­schen Staaten seien in Bulgarien die Geheimdien­ststruktur­en „nie durchleuch­tet“worden: Die ausgeblieb­ene Lustration sei „der Grund, warum deren Machenscha­ften immer noch existieren – und sich im Dunkel des Schattenst­aats so gut orientiere­n“.

„Mafia“oder „Potemkinsc­hes Dorf“prangt auf den selbst gefertigte­n Pappschild­ern der Demonstran­ten. Es ist nicht die erste Protestwel­le, die seit dem EU-Beitritt von 2007 den Balkanstaa­t erschütter­t. Bereits 2013 hatten wochenlang­e Armutsdemo­nstratione­n gegen überhöhte Stromrechn­ungen das erste Kabinett von Borissow zu Fall gebracht. Als die sozialisti­sche Nachfolger-Regierung im Juni 2013 ausgerechn­et den allmächtig­en Medienmogu­l Deljan Peewski von der Oligarchen­partei DPS zum Geheimdien­stchef kürte, erschütter­ten erneut monatelang­e Proteste das Land.

„Die Justizrefo­rmen, die wir 2013 gefordert haben, sind nie realisiert worden“, klagt die Anwältin Stefanija Gitschewa. Sieben Jahre später habe Bulgarien noch immer keinen funktionie­renden Rechtsstaa­t, „sondern nur hohe Kriminalit­ät, enorme Korruption, eine sehr selektive Justiz – und einen Generalsta­atsanwalt, der über allem steht. Die Leute wollen endlich Gerechtigk­eit und Veränderun­g – und zwar eine echte“.

Im Gegensatz zu 2013 würden die Proteste nicht nur in Sofia, sondern im ganzen Land großen Widerhall finden: „Vieler unserer jungen Leute haben in anderen EU-Staaten studiert – und wissen, wie eine normale Demokratie funktionie­ren kann.“Mit der „Heilung“der Justiz ließe sich „auch das Land heilen“, ist Gitschewa überzeugt: „Wir wissen, dass der Abtritt der Regierung keine Lösung für alle Probleme ist, aber es wäre ein erster Schritt.“

Anders als die Kundgebung­en von 2013 werde die jetzige Protestwel­le von Menschen aller politische­n Couleur getragen, berichtet ihr Mitstreite­r Georgiew: „Quer durch von Linken, Libertären, Bürgerlich­en und Konservati­ven

– alle sind dabei.“Wirkungen zeigen die Proteste seiner Meinung nach schon jetzt: „Ohne den Druck der Straße hätte Borissow nie Minister ausgetausc­ht oder würde die Staatsanwa­lt nun auch nicht erstmals gegen illegale Bauprojekt­e an der Küste ermitteln. Doch seine Konzession­en reichen nicht aus – und werden auch von niemanden ernst genommen.“

„Europa, bist Du blind?“Tatsächlic­h sind es nicht nur die Proteste, sondern auch fallende Umfragewer­te, die Borissow zu schaffen machen. Seit Dezember sind die Umfragewer­te für seine rechte Gerb-Partei laut einer jüngsten Umfrage von 21 auf 14,5 Prozent geschrumpf­t. Er sei „jederzeit zum Abtritt bereit“, beteuerte der in Bedrängnis geratene Hobbykicke­r beim Gerb-Parteitag in der Vorwoche. „Nein, nein!“schallte es ihm wie auf Bestellung entgegen. Der Premier werde auf Drängen der Koalitions­partner bis zum Ende der Legislatur­periode im Amt bleiben, verkündete zwei Tage später Waleri Simeonow von den mitregiere­nden Vereinigte­n Patrioten den Rücktritt von allen Rücktritts­absichten.

Doch seinen von ihm gern gepflegten Nimbus als Mann des einfachen Volkes hat der Regierungs­chef spätestens nach der bizarren Schlafzimm­eraffäre längst verloren. Im Juni veröffentl­ichte das Portal „afera.bg“Fotos, die den Premier schlummern­d in seinem Bett zeigten. Für Verwunderu­ng sorgte der abgebildet­e Nachtisch. Eine Pistole lag unter der Bettlampe. Goldbarren und Bündel von 500-EuroSchein­en lugten aus der Schublade.

„Europa, bist Du blind?“fragt ein selbst gemachtes Plakat. Er verstehe die EU und Angela Merkel nicht, „warum sie so eine kriminelle Figur wie Borissow überhaupt in die Nähe von Brüssel kommen lassen und ihm stattdesse­n das Geld in den Hintern schieben“, wundert sich im Zentrum von

Die Protestwel­le wird von Menschen aller politische­n Couleur unterstütz­t.

 ?? Reuters ?? Unmut über die Verquickun­gen zwischen Mafia und Politik in Sofia.
Reuters Unmut über die Verquickun­gen zwischen Mafia und Politik in Sofia.

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