Zorn und Zerstörung in Beirut
Die Bürger des Libanon vereint nach der Explosion im Hafen Beiruts Trauer und Wut auf die Verantwortlichen. Während ihre Politiker die Schuld von sich schieben, bauen die Menschen das Land mit eigenen Händen wieder auf.
Von dem Balkon des hellgelben Hauses werfen Menschen Ziegelsteine hinunter. Sabine Soueidy steht neben den aufgetürmten Steinen und achtet darauf, dass die Steine niemanden treffen. Das alte Haus, das sie seit dem Morgen von Schutt, Asche und Wandsteinen befreit, ist eines der ältesten Häuser in dem sonst als Ausgehviertel bekannten Mar Mikhael in Beirut. „Das Haus gehört einer alten Frau und ihren Enkeln, die es gerade erst renoviert hatten“, erzählt die 23-jährige Studentin der Politikwissenschaften. „Es gibt einen Spruch: Beirut wurde viele Male zu Boden gebracht. Ich glaube, das ist das achte Mal, dass es fällt – und wir bauen es selbst wieder auf.“Soueidy spricht mit Energie und Zuversicht, aber sie ist auch wütend auf die politische Elite im Libanon. „Wir sehen die Abwesenheit der Regierung. Deshalb ist es an uns, ihre Aufgabe zu übernehmen. Wer sonst räumt Beirut auf?“
Am Dienstag um 18.08 Uhr detonierten 2750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen der libanesischen Hauptstadt. Über 150 Menschen starben, 5000 wurden verletzt, rund eine Viertelmillion verlor innerhalb von Sekunden ihr Zuhause. Angehörige und Rettungstrupps suchen weiter nach Vermissten.
In der libanesischen Hauptstadt sind Abertausende Fensterscheiben zerschlagen. Ihre Glasscherben liegen auf dem Boden. Stühle, Bilderrahmen, Blumentöpfe sind durch die Druckwelle auf die Straße gefallen. In den Häusern liegen Türen auf Betten, Fensterläden stapeln sich mit Brettern, Kleidung und Habseligkeiten. Betroffen sind Viertel in der Nähe des Hafens: Gemmayze, Achrafieh und Mar Mikhael – gentrifizierte Gegenden, bekannt für alte Villen, das Sursock-Museum für moderne Kunst, hippe Bars und schicke Restaurants; aber auch ärmere Gegenden wie das armenische Viertel haben gelitten.
Hilfe trotz Stromausfall. Als das Ammoniumnitrat detonierte, hatte die 26-jährige Aya Darwish gerade Dienst in der Notaufnahme in der Uniklinik der Amerikanischen Universität. „Ich habe fünf Jahre in der Notaufnahme gearbeitet, aber darauf hat uns niemand emotional vorbereitet“, sagt die Krankenpflegerin. „Der Strom fiel für zwei Stunden aus, wir hatten die Notlichtversorgung an, Scheiben im Krankenhaus waren zersplittert, Wände zerbrochen, aber wir haben uns nur um die Patienten gekümmert. Ich glaube, wir hatten die Situation gut im Griff.“
Vor allem die privat geführten Krankenhäuser des Libanon galten lange Zeit als die besten in der Region. Doch durch die Staatsverschuldung und die Finanzkrise kämpfen sie darum, Mitarbeiter zu bezahlen, Geräte am Laufen zu halten oder gar offen zu bleiben, während die Fallzahl der Coronavirus-Patienten steigt. Vier Krankenhäuser wurden durch die Explosion getroffen. In dem einen Kilometer vom Hafen gelegenen St.-George-Universitätsklinikum, das an vorderster Front gegen Covid-19 gearbeitet hatte, stürzte eine Wand ein, die Scheiben wurden ausgeschlagen, der Stromgenerator zerstört, der sonst die alltäglichen Stromausfälle überbrückt.
Angst vor Lebensmittelknappheit. Bereits vor der Katastrophe litten die Menschen unter der Corona-Pandemie und der Wirtschaftskrise. Tausende verloren ihre Jobs, das libanesische Pfund hat rund 80 Prozent seines Wertes verloren. Es kursiert die Angst vor einer Lebensmittelknappheit. Der Libanon ist auf Importe von Weizen, Benzin und Medizin angewiesen. 60 Prozent der Importe liefen über den Hafen. Bei der Explosion wurden ein Weizen- sowie ein Medikamentenlager zerstört. Nun klafft dort ein Krater mit einem Durchmesser von 200 Metern.
Dabei war die gefährliche Ladung nie dafür bestimmt, in Beirut zu liegen. Im Herbst 2013 fuhr das Schiff Rhosus mit der Fracht von Georgien nach Mosambik. Aufgrund von Mängeln wurde es in Beirut gestoppt. Seit 2014 lagerte das Material zur Herstellung von Sprengstoff im Hafen Beiruts – ohne Sicherheitsvorkehrungen.
Der einstige Kapitän des Schiffes, Boris Prokoschew, sagte, die libanesischen Behörden hätten „sehr gut“über die Gefahren der Ladung Bescheid gewusst. „Die Regierung im Libanon hat diese Situation verursacht“, erklärte er.
Lukrative Geschäfte am Hafen. Saad Hariri, der von 2016 bis 2019 Ministerpräsident war, machte die ihm nachfolgende Regierung verantwortlich, die seit diesem Jänner im Amt ist. Die wiederum ließ 16 Mitarbeiter des Hafens in Haft nehmen. Zollbeamte machten mehrfach auf die Gefahren aufmerksam, aber warum niemand handelte, ist unklar. Womöglich, weil der Hafen und die Zollbehörde die korruptesten und lukrativsten Institutionen sind. Zahlreiche Gruppierungen, Politiker und die Hisbollah haben dort Einfluss.
Gegen die Misswirtschaft ihrer Regierung gingen im Herbst des Vorjahres Hunderttausende auf die Straßen. Sie kritisierten ihre Politiker für Klientelismus und Korruption und forderten Veränderungen. Sie hatten die alte Elite satt, die seit Ende des Bürgerkrieges vor 30 Jahren an der Macht festhält. Während Ex-Ministerpräsident Hariri vor sieben Jahren einem südafrikanischen Model 15,3 Millionen Dollar überwies, sahen sich die Libanesen gezwungen, teure Generatoren zu bezahlen, um die täglichen Stromausfälle zu überbrücken. Die nationale Elektrizitätsgesellschaft weist ein jährliches Defizit von fast 1,7 Milliarden Euro im Jahr auf. Der Strom fiel schon vor der Krise mindestens drei Stunden am Tag aus.
Und nun auch noch die verloren gegangenen Erinnerungen, die zerstörten Häuser, Trauma und Trauer. Das entfacht den Zorn der Bürger erneut. Bildungsminister Tarek Majsub ging am Freitag mit einem Besen vor die Tür, aber die Menschen begrüßten ihn mit Rücktrittsforderungen. Tags zuvor besuchte Justizministerin Marie-Claude Najm das zerstörte Viertel Gemmayze. Auch ihr schallten Beleidigungen und Rücktrittsaufforderungen entgegen.
Dem französischen Präsidenten Macron hingegen jubelten die Menschen in Gemmayze am selben Tag zu. Er versprach Hilfsgelder, die explizit nicht an die Politiker gehen sollten. Die Geberkonferenz per Video ist für den heutigen Sonntagnachmittag angesetzt. Die EU schickt Ratspräsident Charles Michel. Auch US-Präsident Donald Trump hat seine Teilnahme zugesagt. Auch wenn Macrons Besuch in Beirut als Inszenierung eines westlichen Staatschefs gesehen werden kann: Er verkörperte für viele den Politiker, den sie sich wünschen. Der auf die Straßen geht und ihnen zuhört.
Proteste gegen Regierung. Auf den Straßen im zertrümmerten Gemmayze wurde unter Tränen auch die Sängerin Majida Roumi empfangen. Umringt von einer Traube aus Helfern und Journalisten sagte die 64-Jährige, dass die Solidarität sie inspirierte. Sie entschuldigte sich dafür, „ein solches Land als Vermächtnis der Jugend hinterlassen zu haben“und rezitierte den Satz: „Die Revolution wird aus dem Leib der Leiden geboren.“Der Satz stammt aus ihrem bekannten Lied, „Beirut, set el dunia“. Am 1. August, drei Tage vor der Explosion, sang Roumi die Hymne an Beirut bei einer virtuellen Gedenkfeier der libanesischen Armee. Doch der Satz wurde zensiert, ihr Chor musste stattdessen ein Melodie singen. Auf der Straße bekräftigte die Sängerin nochmals, „dass der Satz nicht ausradiert werden kann, weil er ausdrückt, was die Menschen erleben“.
Dieses Gefühl ist: Die Katastrophe hätte verhindert werden können.
Am Freitagabend steht die 40-jährige Dania Baidoun in orangefarbener Warnweste auf der Straße und singt das Lied Roumis aus vollem Hals. „Das ist nur passiert, weil die Regierung und die Regierungen davor korrupt sind“, sagt die 40-jährige fünffache Mutter, die aus der südlichen Stadt Saida nach Beirut gereist ist, um zu helfen. „Sie lassen uns nicht in Frieden leben. Alle politischen Männer sollen wissen, dass sie gehen müssen. Sie werden den Libanon verlassen, wir aber werden bleiben.“
Auch die Politologie-Studentin Sabine Soueidy wird nach dem Aufräumen auf die Straße gehen, um zu protestieren: „Es ist ein endloser Kampf, bis wir bekommen, was wir wollen.“
Wo ein Weizenlager war, klafft nun ein Krater mit einem Durchmesser von 200 Metern.