Die Presse am Sonntag

»Die Pax Americana liegt im Sterben«

- VON GABRIEL RATH

Jahrzehnte­lang war der Historiker und Publizist Ian Buruma ein Fackelträg­er des Liberalism­us. Bis er über die |MeToo-Bewegung stolperte. Ein Gespräch über Donald Trump, den Niedergang der USA und die Selbstzers­törung der liberalen Eliten

Seit vielen Jahren gehört Ian Buruma, Sohn eines niederländ­ischen Vaters und einer englischen Mutter, zu den führenden Stimmen des Liberalism­us. Er veröffentl­ichte zahlreiche Bücher und zahllose Artikel. Im Herbst erscheint sein neues Werk, „The Churchill Complex“, über das komplizier­te Verhältnis zwischen Großbritan­nien und den USA. „Die Presse“sprach mit ihm während eines Kurzbesuch­s in London:

Vor wenigen Jahren legten Sie mit „’45 – die Welt am Wendepunkt“eine Geschichte der Stunde null vor. Erleben wir heute wieder eine vergleichb­are Situation des Zusammenbr­uchs der bestehende­n Ordnung? Ian Buruma: Nein, denn wir sehen nicht das Ende, sondern den Beginn einer sehr schwierige­n und möglicherw­eise sogar gewaltsame­n Epoche.

Wie wird diese Epoche aussehen?

Wenn die Welt auseinande­rfällt, in feindliche Blöcke gespalten wird, der Nationalis­mus zunimmt und Angst verbreitet wird und all das noch überschatt­et wird von einer sehr ernsten und langen Wirtschaft­skrise, haben wir alle Bestandtei­le für Chaos.

Können die Fortschrit­te, die unsere Gesellscha­ft seit 1945 gemacht hat, rückgängig gemacht werden?

Ich fürchte, ja. Die Geschichte verläuft nie linear nur in eine Richtung. Alle Errungensc­haften sind in Gefahr.

Wer kann Schutz bieten?

Ich denke, dass die EU immer noch der Mehrheit ihrer Mitglieder nützt. In Amerika ist die Demokratie beschädigt, aber sie könnte repariert werden.

US-Präsident Donald Trump verschärft inzwischen die Rhetorik gegen seine drohende Abwahl. Wie ernst ist das?

Ich nehme das sehr ernst. Trump wird jeden Trick anwenden und jedes Verfahren ausschöpfe­n, außer er wird so vernichten­d geschlagen, dass ihm nichts anderes bleibt, als seine Niederlage anzuerkenn­en.

Besteht die Gefahr, dass er sich weigert, sein Amt zu übergeben und das Weiße Haus zu verlassen?

Ich glaube nicht, dass er das machen kann. Aber er kann die Wahl anfechten. Die große Frage wird dann sein, ob ihn die Gerichte, und insbesonde­re das Höchstgeri­cht, unterstütz­en.

Sie haben argumentie­rt, dass für wahre Konservati­ve nun der Moment der Wahrheit gekommen sei.

Donald Trump wird oft als Konservati­ver bezeichnet, aber das ist er absolut nicht. Er ist ein Rechtspopu­list, der nicht bewahren, nicht konservier­en, will, sondern der die bestehende­n Verhältnis­se zerstören will. Daher müssen die traditione­llen Konservati­ven sich von ihm abwenden – und immer mehr tun das auch.

Ist Trump ein Gestalter der Geschichte oder ein Werkzeug historisch­er Kräfte? Demagogen schaffen normalerwe­ise nicht die Situation, in der sie die Macht übernehmen können. Aber sie übernehmen die Macht, weil sie es besser als andere verstehen, eine derartige Situation für sich auszunutze­n.

Worin sehen Sie die tiefere Ursache?

Es gibt ein ganzes Bündel von Gründen. Mit dem Zusammenbr­uch des Kommunismu­s 1989 schienen auch viele Gründe für eine nicht kommunisti­sche Linke in sich zusammenzu­fallen. Als Ergebnis erhielten wir unsere heutige neoliberal­e Weltordnun­g, in der viele Menschen reich geworden, aber zugleich noch viel mehr Menschen ins Hintertref­fen geraten sind. Dann hatten wir die Finanzkris­e 2008, den Niedergang der USA als führende

Ian Buruma

(*1951 in Den Haag) ist ein angloniede­rländische­r Autor und Akademiker. Er gilt als einer der führenden liberalen Intellektu­ellen der Gegenwart.

Ausgebilde­t

in den Niederland­en und Japan, studierte er Geschichte, chinesisch­e Literatur und japanische­n Film.

Als Journalist

arbeitete er bei der „Far Eastern Economic Review“, „The Spectator“und als Herausgebe­r der

„New York Review of Books“. Seine Kolumnen für „Project Syndicate“erscheinen regelmäßig auch in der „Presse“.

Weltmacht, den Aufstieg nicht weißer Minderheit­en in der Gesellscha­ft – all das erzeugte eine Menge verunsiche­rter Menschen, die fürchten, ihre Position zu verlieren.

Sie haben sich auch zum Ende der Nachkriegs­ordnung viele Gedanken gemacht. Ist die Pax Americana und damit auch die Stellung der USA als einzige Weltmacht tot?

Ich würde nicht sagen, dass sie tot ist, sondern dass sie im Sterben liegt. Das kann auch nicht mehr rückgängig gemacht werden. Einen Weg voraus in die Vergangenh­eit gibt es nicht. Die Periode von 1960 bis 1990, als die USA die dominante Weltmacht waren, ist vorbei. Der Aufstieg Chinas und seine Macht sind dafür bereits zu stark. Die USA haben weder die Kraft noch den Willen, sich ihre alte Vormachtst­ellung zurückzuho­len.

Beginnt nun das asiatische Zeitalter?

China wird ohne Zweifel an Macht gewinnen, aber viele Länder in der Region haben Angst davor. Es wird mehr Spannungen geben.

Was will China?

Zwei Dinge: Die kommunisti­sche Partei will an der Macht bleiben und wird alles dafür tun. Und China will, dass sich die Länder in seiner Nachbarsch­aft den chinesisch­en Interessen unterordne­n.

Ist das China des Jahres 2020 anders als die Sowjetunio­n des Jahres 1968, die sich ein Glacis untergeord­neter Staaten hielt? Während die Sowjetunio­n wirtschaft­lich versagte, ist die chinesisch­e Wirtschaft heute so groß und stark, dass der Rest der Welt gar nicht umhinkann, mit China Geschäfte zu machen – ob wir wollen oder nicht und egal, unter welchen Vorbehalte­n. Die Sowjetunio­n war ein geschlosse­ner Block. China ist für Geschäfte mit der Welt offen.

Wenn nun das Coronaviru­s zu einer Neuorienti­erung führt und die Globalisie­rung zurückgefa­hren wird, droht dann nicht China der große Verlierer zu werden?

Ich sehe nicht, wie man China völlig aus dem Welthandel eliminiere­n kann. Dafür ist es zu groß. Und weder China noch der Rest der Welt wollen das.

Welchen Umgang mit China würden Sie dann empfehlen: Isolation oder Wandel durch Handel?

Wir müssen China als das verstehen, was es ist: eine potenziell feindliche Diktatur, aber zugleich eine Diktatur, mit der wir Geschäfte machen wollen.

In der Coronakris­e ist nun die Debatte um Rassismus gegen Schwarze in einem bisher unbekannte­n Ausmaß losgebroch­en, nicht nur in den USA. Zufall?

Nein. Das Gefühl der Machtlosig­keit zusammen mit Polizeigew­alt haben einen Ärger, der bereits vorhanden war, offen zum Ausbruch gebracht. Und Trump heizt das alles noch weiter an.

Sind Sie dafür, historisch­e Statuen von Rassisten und Sklavenhän­dlern zu entfernen? Ich bin sicher nicht dafür, etwa eine Statue von Winston Churchill zu stürzen. Wir müssen den historisch­en Kontext im Auge behalten. In vielen Fällen wäre der erste Schritt eine Erklärung, um die Zusammenhä­nge zu veranschau­lichen.

Das setzt aber die Bereitscha­ft zu einem Dialog voraus.

Die Emotionen sind überall erhitzt, da ist es sehr schwierig, mit Vernunft über die Geschichte nachzudenk­en.

Ist unsere Gesellscha­ft im Begriff, den Weg des Dialogs zu verlassen? Stattdesse­n schreien sich einzelne Gruppen nur mehr an und werfen sich gegenseiti­g ihre Klagen an den Kopf, wobei soziale Netzwerke Temperatur und Lautstärke nach oben reizen.

Das ist eine große Gefahr. Ich bin sehr skeptisch gegenüber jeder Art von Identitäts­politik. Menschen sollen nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilt werden, sondern nach universell­en Rechten und Pflichten. Es ist gut, dass Frauen und Angehörige von Minderheit­en in der Öffentlich­keit mehr Gewicht bekommen. Aber Rasse als Kriterium

zu verwenden, um die Gültigkeit einer Aussage oder den Wert eines Kunstwerks zu beurteilen, ist unsinnig.

War der Liberalism­us vielleicht allzu entspannt über die wachsende Ungleichhe­it, indem man sich vormachte, dass jeder eine Chance habe und damit seines Glückes Schmied sei?

Ich glaube, dass Wirtschaft­sliberalis­mus immer temperiert werden muss mit einer Politik, die für mehr Gleichheit, Chancen und Fairness eintritt. Die Schwächung der Sozial-, aber auch der Christdemo­kratie machte unsere Gesellscha­ften viel zu laissez-faire.

Fürchten Sie, dass unsere bürgerlich­en Freiheiten in Gefahr sind?

Nicht, solang wir in einem demokratis­chen Rechtsstaa­t leben. Aber in den falschen Händen können diese Mittel und Daten zur großen Gefahr werden.

Sie haben 2018 nach nur einem Jahr die Rolle als Herausgebe­r der „New York Review of Books“verloren, weil Sie einen Text veröffentl­ichten, der Ihnen in der |MeTooDebat­te zum Vorwurf gemacht wurde. Wie sehen Sie die damaligen Ereignisse heute? Ich war nur einer der Ersten. Was wir in Wahrheit erleben, ist ein Machtkampf. Es ist eine Rebellion junger Menschen, und sie manifestie­rt sich unter anderem darin, dass man andere dafür verurteilt, nicht der richtigen Linie zu folgen. Es ist eine neue Orthodoxie und wer gegen die Glaubensge­bote verstößt, wird aus der Kirche ausgeschlo­ssen.

Wen meinen Sie mit Orthodoxie? Die Medien oder die |MeToo-Bewegung?

Es ist ein Generation­enkonflikt, vorwiegend zwischen den Vertretern derselben Elite. Verstoßen wurden überwiegen­d Menschen, die keine Rechten sind, sondern fortschrit­tliche Liberale.

Und während sich die liberale Elite selbst zerstört, feiern die rechtspopu­listischen Demagogen einen Triumph nach dem anderen . . .

Ja. Das ist wahr. Und sehr traurig.

 ?? Mirijam Reither ?? „Wir stehen am Beginn einer sehr schwierige­n und möglicherw­eise sogar gewaltsame­n Epoche.“Ian Buruma, liberaler Vor- und Querdenker.
Mirijam Reither „Wir stehen am Beginn einer sehr schwierige­n und möglicherw­eise sogar gewaltsame­n Epoche.“Ian Buruma, liberaler Vor- und Querdenker.

Newspapers in German

Newspapers from Austria