»Die Pax Americana liegt im Sterben«
Jahrzehntelang war der Historiker und Publizist Ian Buruma ein Fackelträger des Liberalismus. Bis er über die |MeToo-Bewegung stolperte. Ein Gespräch über Donald Trump, den Niedergang der USA und die Selbstzerstörung der liberalen Eliten
Seit vielen Jahren gehört Ian Buruma, Sohn eines niederländischen Vaters und einer englischen Mutter, zu den führenden Stimmen des Liberalismus. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher und zahllose Artikel. Im Herbst erscheint sein neues Werk, „The Churchill Complex“, über das komplizierte Verhältnis zwischen Großbritannien und den USA. „Die Presse“sprach mit ihm während eines Kurzbesuchs in London:
Vor wenigen Jahren legten Sie mit „’45 – die Welt am Wendepunkt“eine Geschichte der Stunde null vor. Erleben wir heute wieder eine vergleichbare Situation des Zusammenbruchs der bestehenden Ordnung? Ian Buruma: Nein, denn wir sehen nicht das Ende, sondern den Beginn einer sehr schwierigen und möglicherweise sogar gewaltsamen Epoche.
Wie wird diese Epoche aussehen?
Wenn die Welt auseinanderfällt, in feindliche Blöcke gespalten wird, der Nationalismus zunimmt und Angst verbreitet wird und all das noch überschattet wird von einer sehr ernsten und langen Wirtschaftskrise, haben wir alle Bestandteile für Chaos.
Können die Fortschritte, die unsere Gesellschaft seit 1945 gemacht hat, rückgängig gemacht werden?
Ich fürchte, ja. Die Geschichte verläuft nie linear nur in eine Richtung. Alle Errungenschaften sind in Gefahr.
Wer kann Schutz bieten?
Ich denke, dass die EU immer noch der Mehrheit ihrer Mitglieder nützt. In Amerika ist die Demokratie beschädigt, aber sie könnte repariert werden.
US-Präsident Donald Trump verschärft inzwischen die Rhetorik gegen seine drohende Abwahl. Wie ernst ist das?
Ich nehme das sehr ernst. Trump wird jeden Trick anwenden und jedes Verfahren ausschöpfen, außer er wird so vernichtend geschlagen, dass ihm nichts anderes bleibt, als seine Niederlage anzuerkennen.
Besteht die Gefahr, dass er sich weigert, sein Amt zu übergeben und das Weiße Haus zu verlassen?
Ich glaube nicht, dass er das machen kann. Aber er kann die Wahl anfechten. Die große Frage wird dann sein, ob ihn die Gerichte, und insbesondere das Höchstgericht, unterstützen.
Sie haben argumentiert, dass für wahre Konservative nun der Moment der Wahrheit gekommen sei.
Donald Trump wird oft als Konservativer bezeichnet, aber das ist er absolut nicht. Er ist ein Rechtspopulist, der nicht bewahren, nicht konservieren, will, sondern der die bestehenden Verhältnisse zerstören will. Daher müssen die traditionellen Konservativen sich von ihm abwenden – und immer mehr tun das auch.
Ist Trump ein Gestalter der Geschichte oder ein Werkzeug historischer Kräfte? Demagogen schaffen normalerweise nicht die Situation, in der sie die Macht übernehmen können. Aber sie übernehmen die Macht, weil sie es besser als andere verstehen, eine derartige Situation für sich auszunutzen.
Worin sehen Sie die tiefere Ursache?
Es gibt ein ganzes Bündel von Gründen. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989 schienen auch viele Gründe für eine nicht kommunistische Linke in sich zusammenzufallen. Als Ergebnis erhielten wir unsere heutige neoliberale Weltordnung, in der viele Menschen reich geworden, aber zugleich noch viel mehr Menschen ins Hintertreffen geraten sind. Dann hatten wir die Finanzkrise 2008, den Niedergang der USA als führende
Ian Buruma
(*1951 in Den Haag) ist ein angloniederländischer Autor und Akademiker. Er gilt als einer der führenden liberalen Intellektuellen der Gegenwart.
Ausgebildet
in den Niederlanden und Japan, studierte er Geschichte, chinesische Literatur und japanischen Film.
Als Journalist
arbeitete er bei der „Far Eastern Economic Review“, „The Spectator“und als Herausgeber der
„New York Review of Books“. Seine Kolumnen für „Project Syndicate“erscheinen regelmäßig auch in der „Presse“.
Weltmacht, den Aufstieg nicht weißer Minderheiten in der Gesellschaft – all das erzeugte eine Menge verunsicherter Menschen, die fürchten, ihre Position zu verlieren.
Sie haben sich auch zum Ende der Nachkriegsordnung viele Gedanken gemacht. Ist die Pax Americana und damit auch die Stellung der USA als einzige Weltmacht tot?
Ich würde nicht sagen, dass sie tot ist, sondern dass sie im Sterben liegt. Das kann auch nicht mehr rückgängig gemacht werden. Einen Weg voraus in die Vergangenheit gibt es nicht. Die Periode von 1960 bis 1990, als die USA die dominante Weltmacht waren, ist vorbei. Der Aufstieg Chinas und seine Macht sind dafür bereits zu stark. Die USA haben weder die Kraft noch den Willen, sich ihre alte Vormachtstellung zurückzuholen.
Beginnt nun das asiatische Zeitalter?
China wird ohne Zweifel an Macht gewinnen, aber viele Länder in der Region haben Angst davor. Es wird mehr Spannungen geben.
Was will China?
Zwei Dinge: Die kommunistische Partei will an der Macht bleiben und wird alles dafür tun. Und China will, dass sich die Länder in seiner Nachbarschaft den chinesischen Interessen unterordnen.
Ist das China des Jahres 2020 anders als die Sowjetunion des Jahres 1968, die sich ein Glacis untergeordneter Staaten hielt? Während die Sowjetunion wirtschaftlich versagte, ist die chinesische Wirtschaft heute so groß und stark, dass der Rest der Welt gar nicht umhinkann, mit China Geschäfte zu machen – ob wir wollen oder nicht und egal, unter welchen Vorbehalten. Die Sowjetunion war ein geschlossener Block. China ist für Geschäfte mit der Welt offen.
Wenn nun das Coronavirus zu einer Neuorientierung führt und die Globalisierung zurückgefahren wird, droht dann nicht China der große Verlierer zu werden?
Ich sehe nicht, wie man China völlig aus dem Welthandel eliminieren kann. Dafür ist es zu groß. Und weder China noch der Rest der Welt wollen das.
Welchen Umgang mit China würden Sie dann empfehlen: Isolation oder Wandel durch Handel?
Wir müssen China als das verstehen, was es ist: eine potenziell feindliche Diktatur, aber zugleich eine Diktatur, mit der wir Geschäfte machen wollen.
In der Coronakrise ist nun die Debatte um Rassismus gegen Schwarze in einem bisher unbekannten Ausmaß losgebrochen, nicht nur in den USA. Zufall?
Nein. Das Gefühl der Machtlosigkeit zusammen mit Polizeigewalt haben einen Ärger, der bereits vorhanden war, offen zum Ausbruch gebracht. Und Trump heizt das alles noch weiter an.
Sind Sie dafür, historische Statuen von Rassisten und Sklavenhändlern zu entfernen? Ich bin sicher nicht dafür, etwa eine Statue von Winston Churchill zu stürzen. Wir müssen den historischen Kontext im Auge behalten. In vielen Fällen wäre der erste Schritt eine Erklärung, um die Zusammenhänge zu veranschaulichen.
Das setzt aber die Bereitschaft zu einem Dialog voraus.
Die Emotionen sind überall erhitzt, da ist es sehr schwierig, mit Vernunft über die Geschichte nachzudenken.
Ist unsere Gesellschaft im Begriff, den Weg des Dialogs zu verlassen? Stattdessen schreien sich einzelne Gruppen nur mehr an und werfen sich gegenseitig ihre Klagen an den Kopf, wobei soziale Netzwerke Temperatur und Lautstärke nach oben reizen.
Das ist eine große Gefahr. Ich bin sehr skeptisch gegenüber jeder Art von Identitätspolitik. Menschen sollen nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilt werden, sondern nach universellen Rechten und Pflichten. Es ist gut, dass Frauen und Angehörige von Minderheiten in der Öffentlichkeit mehr Gewicht bekommen. Aber Rasse als Kriterium
zu verwenden, um die Gültigkeit einer Aussage oder den Wert eines Kunstwerks zu beurteilen, ist unsinnig.
War der Liberalismus vielleicht allzu entspannt über die wachsende Ungleichheit, indem man sich vormachte, dass jeder eine Chance habe und damit seines Glückes Schmied sei?
Ich glaube, dass Wirtschaftsliberalismus immer temperiert werden muss mit einer Politik, die für mehr Gleichheit, Chancen und Fairness eintritt. Die Schwächung der Sozial-, aber auch der Christdemokratie machte unsere Gesellschaften viel zu laissez-faire.
Fürchten Sie, dass unsere bürgerlichen Freiheiten in Gefahr sind?
Nicht, solang wir in einem demokratischen Rechtsstaat leben. Aber in den falschen Händen können diese Mittel und Daten zur großen Gefahr werden.
Sie haben 2018 nach nur einem Jahr die Rolle als Herausgeber der „New York Review of Books“verloren, weil Sie einen Text veröffentlichten, der Ihnen in der |MeTooDebatte zum Vorwurf gemacht wurde. Wie sehen Sie die damaligen Ereignisse heute? Ich war nur einer der Ersten. Was wir in Wahrheit erleben, ist ein Machtkampf. Es ist eine Rebellion junger Menschen, und sie manifestiert sich unter anderem darin, dass man andere dafür verurteilt, nicht der richtigen Linie zu folgen. Es ist eine neue Orthodoxie und wer gegen die Glaubensgebote verstößt, wird aus der Kirche ausgeschlossen.
Wen meinen Sie mit Orthodoxie? Die Medien oder die |MeToo-Bewegung?
Es ist ein Generationenkonflikt, vorwiegend zwischen den Vertretern derselben Elite. Verstoßen wurden überwiegend Menschen, die keine Rechten sind, sondern fortschrittliche Liberale.
Und während sich die liberale Elite selbst zerstört, feiern die rechtspopulistischen Demagogen einen Triumph nach dem anderen . . .
Ja. Das ist wahr. Und sehr traurig.