Die große Flucht aus New York City
Viele Einwohner verlassen die US-Metropole, Corona hat der Stadt stark zugesetzt. Der Immobilienmarkt in den Vororten boomt, Makler kommen mit der Arbeit nicht nach: »So etwas habe ich noch nie erlebt.«
Was für Wien der Speckgürtel, ist für New York City der noble Vorstadtbezirk Westchester. Hier, etwa eine halbe Stunde nördlich der Metropole, arbeitet Sally Berlin als Immobilienmaklerin. Seit 25 Jahren ist sie im Geschäft, hat viele wohlhabende New Yorker kommen und gehen sehen. Sehr häufig, so das Klischee, an dem durchaus was dran ist, definiert sich der amerikanische Traum in etwa so: Von Anfang 20 bis Mitte 30 für die Karriere in die Großstadt. Dann mit der Familie und den Kindern in die Vorstadt in ein großes Haus mit Garten. Zur Pension, wenn die Kinder aus dem Haus sind, geht es dann wieder in eine Wohnung in der Stadt oder ein Strandhäuschen entlang der Ostküste.
So war das, bevor das Coronavirus mit den USA die weltgrößte Volkswirtschaft und mit ihr das globale Finanzzentrum in New York mit voller Wucht erfasst hat. Nun ist alles anders. Das Klischee muss zumindest vorübergehend neu definiert werden. Es lautet: Ob jung oder alt, steinreich oder Mittelschicht, einfach nur raus aus New York City, koste es, was es wolle. Der Immobilienmarkt im Big Apple hat sich auf Talfahrt begeben, während jener in den Vorstädten boomt – wie auch hier in Westchester. „Mein Telefon läutet im Minutentakt, ständig rufen mich Leute aus der City an und wollen wissen, welche Häuser neu auf dem Markt sind“, erklärt Berlin. „So etwas habe ich in den vielen Jahren noch nie erlebt.“
Schon vor Ausbruch der Pandemie ließ es sich nicht schlecht aushalten in dem etwa eine Million Einwohner zählenden County Westchester. Die Schulen zählen zu den besten im ganzen Land. Was für viele Stadtmenschen in den USA undenkbar ist – nämlich die Kinder in eine öffentliche Schule zu schicken –, ist hier die Norm. Wer in Manhattan 50.000 Dollar pro Jahr und Kind für eine der Eliteschulen hinblättert, mag spätestens seit Corona und der Tortur des monatelangen Unterrichts von zu Hause schon einmal mit dem Gedanken eines Umzugs in die Vorstadt spielen. Scarsdale, per Zug 30 Minuten von Manhattan entfernt, verfügt beispielsweise über Schulen, die in den nationalen Rankings stets ganz vorn zu finden sind. Zur praktischen Verkehrsanbindung kommen die Golfplätze, die nicht überlaufenen öffentlichen Parks, die sauberen Schwimmbäder – alles Dinge, von denen in New York City nur geträumt werden kann.
Freilich, Lebensqualität kostet nun einmal, vor allem in den USA und im Nobelvorort der größten US-Stadt: Für ein durchschnittliches Einfamilienhaus legt man schnell eine Million Dollar auf den Tisch. Dazu kommen die mit Abstand höchsten Grundsteuern der USA. Die Mittelschicht zahlt zwischen 15.000 und 30.000 Dollar pro Jahr. Nach oben sind keine Grenzen gesetzt, wie ein Blick auf die Seite der Immobilienhändler von Sothebys zeigt: Da findet sich etwa eine Strandresidenz
in dem idyllischen Rye für 13,5 Millionen Dollar. Für sie sind 157.000 Dollar an Steuern fällig. Jedes Jahr. Immerhin: „Bei den ganz teuren Immobilien dauert es manchmal etwas länger, bis ein Käufer gefunden wird“, sagt Maklerin Berlin. „Aber bei den normalen Häusern schlagen viele zu, ohne dass sie die Immobilie überhaupt gesehen haben.“Virtuelle Touren sind der neue Hit. Immer mehr Verzweifelte unterschreiben blitzschnell den Vertrag. Aus Angst, dass ihnen jemand anderer das Haus vor der Nase wegschnappt. Schließlich ist die Nachfrage groß, der Tross will raus aus New York City.
Wohnungen werden zu teuer. Was in der Stadt ohnehin jeder mit freiem Auge erkennen kann – die Umzugslastwagen stauen sich teilweise vor den Wolkenkratzern in Manhattan, Brooklyn und Queens –, hat das Büro des Maklers Douglas Elliman in Zahlen zu gießen versucht. So sind die durchschnittlichen Preise für Mietwohnungen von April bis Juni um mehr als zehn Prozent gefallen. Die Rate an leer stehenden Apartments ist von etwa zwei auf vier Prozent gestiegen, was wiederum beim Bürgermeister, Bill de Blasio, alle Alarmglocken schrillen lässt. Die Mieten von etwa 30 Prozent der 3,5 Millionen Wohnungen in New York City sind nämlich per Sonderdekret mit einem Höchstsatz versehen. Dieses seit Jahrzehnten bestehende Dekret soll es einkommensschwachen Familien ermöglichen, in der Stadt zu leben. Nur: Sobald die Rate an freien Wohnungen den Satz von fünf Prozent überschreitet, erlaubt das Gesetz einen derartigen Höchstpreis nicht mehr. Die Gefahr, dass sich plötzlich Hunderttausende Menschen ihre Wohnung nicht länger leisten können, würde steigen. Der eingeleitete Trend der Massenflucht aus New York City würde nochmals verstärkt werden.
Dass die Menschen New York City verlassen, überrascht kaum. Nahezu alles, wofür diese Stadt steht, ist wegen des Virus und der ergriffenen Maßnahmen im Kampf gegen Corona zum Stillstand gekommen. Die Museen, die Shows am Broadway, das Nachtleben, die großartigen Restaurants: Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gab es viele gute Gründe, warum die Metropole bald wieder zum Leben erwachen sollte und der kurzzeitige Rückgang der Bevölkerung bereits zwei Jahre später wieder wettgemacht war. Nun steht der Broadway still, die Restaurants dürfen ihre Kunden bloß auf dem Gehsteig bedienen, und das Nachtleben spielt sich eher im Internet auf verschiedensten Dating-Seiten denn in den Bars der Metropole ab. Viele fragen sich: Was hält mich noch in New York City?
Zwar sind die Infektionsraten und die Krankenhauseinlieferungen nach dem Drama von März und April deutlich zurückgegangen. Das Virus ist in den Süden der USA weitergewandert, es wütet in Texas, Kalifornien, Florida. New York gilt mittlerweile als verhältnismäßig sicher, doch die Bilder aus dem Frühjahr, als die vielen Toten in Kühllastwagen zwischengelagert werden mussten, sind den New Yorkern nach wie vor in Erinnerung. Die Furcht, auch auf höchster politischer Ebene, ist groß. De Blasio wird nicht müde, vor der Gefahr und einer neuerlichen Infektionswelle zu warnen. Zuletzt kündigte der Bürgermeister Checkpoints in den Tunneln und auf den Brücken der Stadt an. Einreisende aus einer Liste von anderen Bundesstaaten müssen sich zu einer zweiwöchigen Quarantäne verpflichten. Die Maßnahmen sind nicht unumstritten. Als andere Staaten im Frühjahr Einreisenden aus New York Restriktionen auferlegt hatten, drohten de Blasio und der Gouverneur New Yorks, Andrew Cuomo, noch mit rechtlichen Schritten. Nun hat sich das Blatt gewendet.
Tatsächlich muss die größte USStadt nicht nur eine zweite Coronawelle fürchten, sie steht auch aus wirtschaftlicher Sicht am Abgrund. Die Arbeitslosigkeit hat im Juni die Marke
Was hält einen mit Corona noch in der Stadt? von 20 Prozent überschritten, sie liegt deutlich über dem US-Durchschnitt. Die Gesamtverschuldung der Stadt beträgt mehr als 100 Milliarden Dollar, im Zuge der Coronakrise ist sie neuerlich um zumindest sieben Milliarden Dollar gewachsen. Mit Spannung blickt de Blasio deshalb nach Washington. Seit Wochen verhandelt der Kongress ein weiteres Corona-Hilfspaket, die finanzielle Unterstützung für einzelne Bundesstaaten wie New York ist dabei eines der Hauptthemen. Die Demokraten wollen eine Billion Dollar für angeschlagene Staaten und Städte bereitstellen. Die Republikaner sprechen sich dagegen aus, sie orten eine verdeckte Hilfe für bereits vor Corona schwer angeschlagene Staaten.
»Mein Telefon läutet im Minutentakt, ständig rufen mich Leute aus der City an.«
Tatsächlich muss die größte US-Stadt nicht nur eine zweite Coronawelle fürchten.
Selbst ein möglicher Bankrott von New York City wird an der Wall Street hinter vorgehaltener Hand nicht mehr ausgeschlossen. Die Flucht der Massen aus der Stadt hat diese Sorge lediglich verstärkt. Aktuell läuft gerade der in den ganzen USA groß angelegte Census 2020, eine alle zehn Jahre stattfindende Bevölkerungszählung. Je nach Anzahl der voll gemeldeten Einwohner werden Budgetmittel aus dem föderalen Topf verteilt. Eine Reduktion könnte dem Big Apple endgültig den finanziellen Todesstoß versetzen. Grundsätzlich sind die Bundesstaaten und Großstädte in den USA für ihre eigenen Finanzen verantwortlich. In Krisenzeiten können sie jedoch in der Regel auf ein gewisses Maß an Unterstützung aus Washington zählen.
Als ob New York City nicht bereits genug Probleme hätte, wurde die Metropole zuletzt, ebenso wie viele andere US-Städte, von einer
Welle der Gewalt erschüttert.
Die Zahl der Morde ist per
Ende Juli auf 220 gestiegen,
ein Plus von einem Viertel im Vergleich zur Vorjahresperiode. Die Ursachenforschung läuft auf Hochtouren. De Blasio hat angekündigt, ab sofort vermehrt sogenannte Community Cops in jene Viertel zu schicken, die besonders von Verbrechen betroffen sind. Die Aufgabe derartiger Polizisten ist es, das Verhältnis zwischen oftmals rivalisierenden Gangs und den Gesetzeshütern zu verbessern, damit die Polizei eine Eskalation der Gewalt bereits im Vorfeld abwenden kann. Vonseiten des New Yorker Police Department heißt es, dass die Motivation der Cops unter den andauernden Protesten gegen Polizeigewalt leide. Außerdem sei die Verbrechensbekämpfung wegen einer Reduktion der finanziellen Mittel schwieriger geworden.
Des einen Leid, des anderen Freud: Viele der Vorstädte rund um New York City werben nun auch verstärkt mit der Sicherheit. „Kaum jemand hier draußen hat eine Alarmanlage, die brauchen Sie wirklich nicht“, erklärt Ron Sierra. Der klein gewachsene Mann, Mitte 40, ist ein sogenannter Home Inspector, eine Art Gutachter, der sich jedes Haus im Namen des Käufers bis ins kleinste Detail ansieht. Er soll Mängel feststellen und Empfehlungen abgeben. Sierra operiert vor allem in White Plains, einem Städtchen mit 60.000 Einwohnern. All jene, die des Lebens in New York City überdrüssig sind, sollen mit einem urbanen Feeling, verbunden mit den Vorzügen des Landlebens, angelockt werden. „Ich weiß gar nicht, zu welchem Haus ich zuerst fahren soll“, sagt ein erschöpfter Sierra. Seine Auftragsbücher sind voller denn je. „Rund um New York ist momentan die Hölle los.“
Die offiziellen Zahlen bestätigen den Eindruck des Gutachters. In Westchester sei die Zahl der abgeschlossenen Kaufverträge im Juni um die Hälfte gestiegen, analysiert das Maklerbüro von Douglas Elliman. Ähnlich sehe es in Long Island aus, der weitläufigen Halbinsel an der Ostseite der Millionenmetropole. Hier befinden sich die
Hamptons, einst bekannt als Oase im Sommer. Die Reichen und Schönen fliehen gern in die Hamptons, wenn es in New York City heiß und stickig wird. Nur: So wie es momentan aussieht, werden viele von ihnen ihre Zelte permanent in Long Island aufschlagen.
Die Schulen auf der Halbinsel vermelden einen deutlichen Anstieg der Anfragen, nicht zuletzt, weil nach wie vor unklar ist, ob jene in New York City im September überhaupt aufsperren. De Blasio gibt sich bedeckt, er macht seine Entscheidung von der Rate an positiv Getesteten abhängig. Andere Großstädte wie Los Angeles und Chicago haben bereits verlautet, vorerst weiterhin auf virtuelles Lernen zu setzen. Längst hat der Streit um die Schulöffnungen das ganze Land erfasst. Präsident Donald Trump setzt sich lautstark für ein Aufsperren ein, er verweist auf die negativen Folgen des Heimunterrichts für die Entwicklung von Kindern. Manche Experten wiederum betonen, dass noch nicht endgültig geklärt sei, wie leicht sich Kinder anstecken beziehungsweise wie leicht sie die Krankheit übertragen können.
Ob und wann sich New York City von der Coronakrise erholen wird, ist schwer abzuschätzen. Sobald eine Impfung gegen Corona auf dem Markt ist, wird sich das Bild umkehren, und die Leute werden ruckartig zurückkehren, sagen die einen. Dieses Mal wird der Trend von Dauer sein, weil in Zukunft viel mehr Menschen von zu Hause arbeiten werden und außerdem die Vorzüge des Lebens in der Vorstadt entdeckt haben, sagen die anderen. Die Endabrechnung steht noch aus. Bislang hat sich die Stadt noch von jeder Krise erholt. Vorerst ist die Tendenz aber klar: Einfach nur raus aus New York City.
Prozent
der New Yorker Wohnungen sind per Sonderdekret mit einem Höchstsatz versehen.
Prozent
der EU-Bevölkerung leben in Städten.
Auf dem Immobilienmarkt rund um New York ist momentan die Hölle los.