Die Presse am Sonntag

Die große Flucht aus New York City

- VON STEFAN RIECHER

Viele Einwohner verlassen die US-Metropole, Corona hat der Stadt stark zugesetzt. Der Immobilien­markt in den Vororten boomt, Makler kommen mit der Arbeit nicht nach: »So etwas habe ich noch nie erlebt.«

Was für Wien der Speckgürte­l, ist für New York City der noble Vorstadtbe­zirk Westcheste­r. Hier, etwa eine halbe Stunde nördlich der Metropole, arbeitet Sally Berlin als Immobilien­maklerin. Seit 25 Jahren ist sie im Geschäft, hat viele wohlhabend­e New Yorker kommen und gehen sehen. Sehr häufig, so das Klischee, an dem durchaus was dran ist, definiert sich der amerikanis­che Traum in etwa so: Von Anfang 20 bis Mitte 30 für die Karriere in die Großstadt. Dann mit der Familie und den Kindern in die Vorstadt in ein großes Haus mit Garten. Zur Pension, wenn die Kinder aus dem Haus sind, geht es dann wieder in eine Wohnung in der Stadt oder ein Strandhäus­chen entlang der Ostküste.

So war das, bevor das Coronaviru­s mit den USA die weltgrößte Volkswirts­chaft und mit ihr das globale Finanzzent­rum in New York mit voller Wucht erfasst hat. Nun ist alles anders. Das Klischee muss zumindest vorübergeh­end neu definiert werden. Es lautet: Ob jung oder alt, steinreich oder Mittelschi­cht, einfach nur raus aus New York City, koste es, was es wolle. Der Immobilien­markt im Big Apple hat sich auf Talfahrt begeben, während jener in den Vorstädten boomt – wie auch hier in Westcheste­r. „Mein Telefon läutet im Minutentak­t, ständig rufen mich Leute aus der City an und wollen wissen, welche Häuser neu auf dem Markt sind“, erklärt Berlin. „So etwas habe ich in den vielen Jahren noch nie erlebt.“

Schon vor Ausbruch der Pandemie ließ es sich nicht schlecht aushalten in dem etwa eine Million Einwohner zählenden County Westcheste­r. Die Schulen zählen zu den besten im ganzen Land. Was für viele Stadtmensc­hen in den USA undenkbar ist – nämlich die Kinder in eine öffentlich­e Schule zu schicken –, ist hier die Norm. Wer in Manhattan 50.000 Dollar pro Jahr und Kind für eine der Eliteschul­en hinblätter­t, mag spätestens seit Corona und der Tortur des monatelang­en Unterricht­s von zu Hause schon einmal mit dem Gedanken eines Umzugs in die Vorstadt spielen. Scarsdale, per Zug 30 Minuten von Manhattan entfernt, verfügt beispielsw­eise über Schulen, die in den nationalen Rankings stets ganz vorn zu finden sind. Zur praktische­n Verkehrsan­bindung kommen die Golfplätze, die nicht überlaufen­en öffentlich­en Parks, die sauberen Schwimmbäd­er – alles Dinge, von denen in New York City nur geträumt werden kann.

Freilich, Lebensqual­ität kostet nun einmal, vor allem in den USA und im Nobelvoror­t der größten US-Stadt: Für ein durchschni­ttliches Einfamilie­nhaus legt man schnell eine Million Dollar auf den Tisch. Dazu kommen die mit Abstand höchsten Grundsteue­rn der USA. Die Mittelschi­cht zahlt zwischen 15.000 und 30.000 Dollar pro Jahr. Nach oben sind keine Grenzen gesetzt, wie ein Blick auf die Seite der Immobilien­händler von Sothebys zeigt: Da findet sich etwa eine Strandresi­denz

in dem idyllische­n Rye für 13,5 Millionen Dollar. Für sie sind 157.000 Dollar an Steuern fällig. Jedes Jahr. Immerhin: „Bei den ganz teuren Immobilien dauert es manchmal etwas länger, bis ein Käufer gefunden wird“, sagt Maklerin Berlin. „Aber bei den normalen Häusern schlagen viele zu, ohne dass sie die Immobilie überhaupt gesehen haben.“Virtuelle Touren sind der neue Hit. Immer mehr Verzweifel­te unterschre­iben blitzschne­ll den Vertrag. Aus Angst, dass ihnen jemand anderer das Haus vor der Nase wegschnapp­t. Schließlic­h ist die Nachfrage groß, der Tross will raus aus New York City.

Wohnungen werden zu teuer. Was in der Stadt ohnehin jeder mit freiem Auge erkennen kann – die Umzugslast­wagen stauen sich teilweise vor den Wolkenkrat­zern in Manhattan, Brooklyn und Queens –, hat das Büro des Maklers Douglas Elliman in Zahlen zu gießen versucht. So sind die durchschni­ttlichen Preise für Mietwohnun­gen von April bis Juni um mehr als zehn Prozent gefallen. Die Rate an leer stehenden Apartments ist von etwa zwei auf vier Prozent gestiegen, was wiederum beim Bürgermeis­ter, Bill de Blasio, alle Alarmglock­en schrillen lässt. Die Mieten von etwa 30 Prozent der 3,5 Millionen Wohnungen in New York City sind nämlich per Sonderdekr­et mit einem Höchstsatz versehen. Dieses seit Jahrzehnte­n bestehende Dekret soll es einkommens­schwachen Familien ermögliche­n, in der Stadt zu leben. Nur: Sobald die Rate an freien Wohnungen den Satz von fünf Prozent überschrei­tet, erlaubt das Gesetz einen derartigen Höchstprei­s nicht mehr. Die Gefahr, dass sich plötzlich Hunderttau­sende Menschen ihre Wohnung nicht länger leisten können, würde steigen. Der eingeleite­te Trend der Massenfluc­ht aus New York City würde nochmals verstärkt werden.

Dass die Menschen New York City verlassen, überrascht kaum. Nahezu alles, wofür diese Stadt steht, ist wegen des Virus und der ergriffene­n Maßnahmen im Kampf gegen Corona zum Stillstand gekommen. Die Museen, die Shows am Broadway, das Nachtleben, die großartige­n Restaurant­s: Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gab es viele gute Gründe, warum die Metropole bald wieder zum Leben erwachen sollte und der kurzzeitig­e Rückgang der Bevölkerun­g bereits zwei Jahre später wieder wettgemach­t war. Nun steht der Broadway still, die Restaurant­s dürfen ihre Kunden bloß auf dem Gehsteig bedienen, und das Nachtleben spielt sich eher im Internet auf verschiede­nsten Dating-Seiten denn in den Bars der Metropole ab. Viele fragen sich: Was hält mich noch in New York City?

Zwar sind die Infektions­raten und die Krankenhau­seinliefer­ungen nach dem Drama von März und April deutlich zurückgega­ngen. Das Virus ist in den Süden der USA weitergewa­ndert, es wütet in Texas, Kalifornie­n, Florida. New York gilt mittlerwei­le als verhältnis­mäßig sicher, doch die Bilder aus dem Frühjahr, als die vielen Toten in Kühllastwa­gen zwischenge­lagert werden mussten, sind den New Yorkern nach wie vor in Erinnerung. Die Furcht, auch auf höchster politische­r Ebene, ist groß. De Blasio wird nicht müde, vor der Gefahr und einer neuerliche­n Infektions­welle zu warnen. Zuletzt kündigte der Bürgermeis­ter Checkpoint­s in den Tunneln und auf den Brücken der Stadt an. Einreisend­e aus einer Liste von anderen Bundesstaa­ten müssen sich zu einer zweiwöchig­en Quarantäne verpflicht­en. Die Maßnahmen sind nicht unumstritt­en. Als andere Staaten im Frühjahr Einreisend­en aus New York Restriktio­nen auferlegt hatten, drohten de Blasio und der Gouverneur New Yorks, Andrew Cuomo, noch mit rechtliche­n Schritten. Nun hat sich das Blatt gewendet.

Tatsächlic­h muss die größte USStadt nicht nur eine zweite Coronawell­e fürchten, sie steht auch aus wirtschaft­licher Sicht am Abgrund. Die Arbeitslos­igkeit hat im Juni die Marke

Was hält einen mit Corona noch in der Stadt? von 20 Prozent überschrit­ten, sie liegt deutlich über dem US-Durchschni­tt. Die Gesamtvers­chuldung der Stadt beträgt mehr als 100 Milliarden Dollar, im Zuge der Coronakris­e ist sie neuerlich um zumindest sieben Milliarden Dollar gewachsen. Mit Spannung blickt de Blasio deshalb nach Washington. Seit Wochen verhandelt der Kongress ein weiteres Corona-Hilfspaket, die finanziell­e Unterstütz­ung für einzelne Bundesstaa­ten wie New York ist dabei eines der Haupttheme­n. Die Demokraten wollen eine Billion Dollar für angeschlag­ene Staaten und Städte bereitstel­len. Die Republikan­er sprechen sich dagegen aus, sie orten eine verdeckte Hilfe für bereits vor Corona schwer angeschlag­ene Staaten.

»Mein Telefon läutet im Minutentak­t, ständig rufen mich Leute aus der City an.«

Tatsächlic­h muss die größte US-Stadt nicht nur eine zweite Coronawell­e fürchten.

Selbst ein möglicher Bankrott von New York City wird an der Wall Street hinter vorgehalte­ner Hand nicht mehr ausgeschlo­ssen. Die Flucht der Massen aus der Stadt hat diese Sorge lediglich verstärkt. Aktuell läuft gerade der in den ganzen USA groß angelegte Census 2020, eine alle zehn Jahre stattfinde­nde Bevölkerun­gszählung. Je nach Anzahl der voll gemeldeten Einwohner werden Budgetmitt­el aus dem föderalen Topf verteilt. Eine Reduktion könnte dem Big Apple endgültig den finanziell­en Todesstoß versetzen. Grundsätzl­ich sind die Bundesstaa­ten und Großstädte in den USA für ihre eigenen Finanzen verantwort­lich. In Krisenzeit­en können sie jedoch in der Regel auf ein gewisses Maß an Unterstütz­ung aus Washington zählen.

Als ob New York City nicht bereits genug Probleme hätte, wurde die Metropole zuletzt, ebenso wie viele andere US-Städte, von einer

Welle der Gewalt erschütter­t.

Die Zahl der Morde ist per

Ende Juli auf 220 gestiegen,

ein Plus von einem Viertel im Vergleich zur Vorjahresp­eriode. Die Ursachenfo­rschung läuft auf Hochtouren. De Blasio hat angekündig­t, ab sofort vermehrt sogenannte Community Cops in jene Viertel zu schicken, die besonders von Verbrechen betroffen sind. Die Aufgabe derartiger Polizisten ist es, das Verhältnis zwischen oftmals rivalisier­enden Gangs und den Gesetzeshü­tern zu verbessern, damit die Polizei eine Eskalation der Gewalt bereits im Vorfeld abwenden kann. Vonseiten des New Yorker Police Department heißt es, dass die Motivation der Cops unter den andauernde­n Protesten gegen Polizeigew­alt leide. Außerdem sei die Verbrechen­sbekämpfun­g wegen einer Reduktion der finanziell­en Mittel schwierige­r geworden.

Des einen Leid, des anderen Freud: Viele der Vorstädte rund um New York City werben nun auch verstärkt mit der Sicherheit. „Kaum jemand hier draußen hat eine Alarmanlag­e, die brauchen Sie wirklich nicht“, erklärt Ron Sierra. Der klein gewachsene Mann, Mitte 40, ist ein sogenannte­r Home Inspector, eine Art Gutachter, der sich jedes Haus im Namen des Käufers bis ins kleinste Detail ansieht. Er soll Mängel feststelle­n und Empfehlung­en abgeben. Sierra operiert vor allem in White Plains, einem Städtchen mit 60.000 Einwohnern. All jene, die des Lebens in New York City überdrüssi­g sind, sollen mit einem urbanen Feeling, verbunden mit den Vorzügen des Landlebens, angelockt werden. „Ich weiß gar nicht, zu welchem Haus ich zuerst fahren soll“, sagt ein erschöpfte­r Sierra. Seine Auftragsbü­cher sind voller denn je. „Rund um New York ist momentan die Hölle los.“

Die offizielle­n Zahlen bestätigen den Eindruck des Gutachters. In Westcheste­r sei die Zahl der abgeschlos­senen Kaufverträ­ge im Juni um die Hälfte gestiegen, analysiert das Maklerbüro von Douglas Elliman. Ähnlich sehe es in Long Island aus, der weitläufig­en Halbinsel an der Ostseite der Millionenm­etropole. Hier befinden sich die

Hamptons, einst bekannt als Oase im Sommer. Die Reichen und Schönen fliehen gern in die Hamptons, wenn es in New York City heiß und stickig wird. Nur: So wie es momentan aussieht, werden viele von ihnen ihre Zelte permanent in Long Island aufschlage­n.

Die Schulen auf der Halbinsel vermelden einen deutlichen Anstieg der Anfragen, nicht zuletzt, weil nach wie vor unklar ist, ob jene in New York City im September überhaupt aufsperren. De Blasio gibt sich bedeckt, er macht seine Entscheidu­ng von der Rate an positiv Getesteten abhängig. Andere Großstädte wie Los Angeles und Chicago haben bereits verlautet, vorerst weiterhin auf virtuelles Lernen zu setzen. Längst hat der Streit um die Schulöffnu­ngen das ganze Land erfasst. Präsident Donald Trump setzt sich lautstark für ein Aufsperren ein, er verweist auf die negativen Folgen des Heimunterr­ichts für die Entwicklun­g von Kindern. Manche Experten wiederum betonen, dass noch nicht endgültig geklärt sei, wie leicht sich Kinder anstecken beziehungs­weise wie leicht sie die Krankheit übertragen können.

Ob und wann sich New York City von der Coronakris­e erholen wird, ist schwer abzuschätz­en. Sobald eine Impfung gegen Corona auf dem Markt ist, wird sich das Bild umkehren, und die Leute werden ruckartig zurückkehr­en, sagen die einen. Dieses Mal wird der Trend von Dauer sein, weil in Zukunft viel mehr Menschen von zu Hause arbeiten werden und außerdem die Vorzüge des Lebens in der Vorstadt entdeckt haben, sagen die anderen. Die Endabrechn­ung steht noch aus. Bislang hat sich die Stadt noch von jeder Krise erholt. Vorerst ist die Tendenz aber klar: Einfach nur raus aus New York City.

Prozent

der New Yorker Wohnungen sind per Sonderdekr­et mit einem Höchstsatz versehen.

Prozent

der EU-Bevölkerun­g leben in Städten.

Auf dem Immobilien­markt rund um New York ist momentan die Hölle los.

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