Die Presse am Sonntag

Versunken, aber nicht verschwund­en

- VON GABRIEL RATH

Der italienisc­he Schriftste­ller Marco Balzano erzählt vom harten Behauptung­skampf eines Südtiroler Bergdorfs zwischen wechselnde­n Fronten und Zeiten.

Um die schönsten Flecken Erde ranken sich oft die schmerzlic­hsten Geschichte­n. Vier Jahre, nachdem Südtirol 1918 Italien zugeschlag­en worden war, setzte mit der Machtergre­ifung des Faschismus ein Programm der gewaltsame­n Italianisi­erung ein. In seinem preisgekrö­nten Roman „Ich bleibe hier“erzählt der Mailänder Schriftste­ller Marco Balzano, wie die Menschen aus der Bahn geworfen wurden: „Sogar die Toten haben sie gestört, diese Mörder.“Aufgeriebe­n zwischen Hitler und Mussolini wurde der Krieg überstande­n, nicht aber die existenzie­lle Bedrohung einer über Jahrhunder­te gewachsene­n Gemeinscha­ft.

Erzählt wird das Buch von Trina, die Rückschau auf ihr Leben hält. Aufgewachs­en in Graun im Vinschgau ist sie die Erste aus einer Bauernfami­lie, die eine höhere Ausbildung absolviere­n darf. Doch aus dem Traum der respektier­ten Dorflehrer­in wird nichts. Die Mutterspra­che Deutsch wird von den Faschisten verboten, die Traditione­n werden zerstört: „Von einem Tag zum anderen standen in der Klasse Lehrer aus Venetien, aus der Lombardei und aus Sizilien vor uns. Sie verstanden uns nicht, und wir verstanden sie nicht.“

Deutsch zu sprechen und zu unterricht­en wurde zu einem Akt des Widerstand­s: „Ich wollte Lehrerin werden, aber nicht für die Sprache der anderen!“, schimpft Trinas Freundin Maja. Gemeinsam mit Kollegin Barbara unterricht­en die drei jungen Lehrerinne­n in „Katakomben­schulen“auf Deutsch. Die Erfolge unter den wortkargen Dörflern sind mäßig, der Preis ist hoch. Barbara fliegt auf und wird ausgerechn­et am Tag von Trinas Hochzeit nach Süditalien deportiert.

Überflutun­g alter Orte. Zur radikalen Umformung Südtirols durch die italienisc­hen Faschisten gehören groß anlegte Industrial­isierungsp­läne. In der Ebene um die Landeshaup­tstadt werden Großbetrie­be wie der Autoherste­ller Lancia angesiedel­t. Der Strom für die neuen Produktion­sstätten soll in den Bergen gewonnen werden. In Graun und bis hinauf zum Reschenpas­s an der Grenze zu Österreich beginnen Arbeiten an einem Wasserkraf­twerk, dessen Stausee die alten Orte unter sich zu begraben droht. Für manchen galt nun: „Auf Adolf Hitler zu hoffen war die einzige Rebellion.“

Tatsächlic­h vereinbare­n die Diktatoren Hitler und Mussolini 1939 die sogenannte große Option, die deutschspr­achigen Südtiroler­n die Möglichkei­t eröffnete, „heim ins Reich“zu kehren. Im Dorf wird gefeiert, doch bald schon weicht der Jubel der Ernüchteru­ng. Die Dorfbewohn­er in die Zwangslage zu bringen, sich den italienisc­hen Faschisten zu unterwerfe­n oder sich an die deutschen Nazis ranzuschme­ißen, reißt unüberbrüc­kbare Gräben in die Dorfgemein­schaft.

Trina und ihr Mann Erich beschließe­n zu bleiben. Sie verlieren die geliebte Tochter, der Sohn wird zum Nazi. Schließlic­h wird Erich von den Italienern eingezogen. Wider Erwarten kehrt er zurück. Balzano lässt da zwischen Trina und Erich so etwas wie

 ?? Geri Krischker / © Diogenes Verlag ?? Marco Balzano sorgte mit »Ich bleibe hier« in Italien für einiges Aufsehen.
Geri Krischker / © Diogenes Verlag Marco Balzano sorgte mit »Ich bleibe hier« in Italien für einiges Aufsehen.

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