Die Presse am Sonntag

Blick zurück in eine sehr englische Jazz-Zukunft

Mit Led Bib gastierte die erste internatio­nale Band seit fast fünf Monaten im Wiener Jazzlokal Porgy & Bess.

- VON SAMIR H. KÖCK

Englischer haben Led Bib nie geklungen. Gegründet wurde dieses Ensemble, das Jazzimprov­isation und Heavy Rock zusammenda­chte, ja 2003 an der Londoner Middlesex University. Allerdings von einem Amerikaner, dem Trommler Mark Holub. Es eroberte rasch die progressiv­en Jazzfestiv­als Europas und etablierte eine ganz eigene, wüste Handschrif­t. Um so größer war jetzt die Überraschu­ng für all jene, die das letzten Herbst veröffentl­ichte Album „It’s Morning“verpasst haben. Led Bib haben einen neuen Pianisten, Elliot Galvin, und mit Sharron Fortnam erstmals eine Sängerin. Mit ihr klingt die Musik nicht mehr wie eine Fusion aus Ornette Coleman und Led Zeppelin (daher der Name), sondern wie eine Geräuschha­lluzinatio­n aus den frühen Siebzigern. Wie King Crimson ohne Gitarre oder wie Soft Machine in ihrer Jazzphase. Sehr englisch an der neuen Musik von Led Bin ist, wie sie Anarchie und Ordnung possierlic­h nebeneinan­der inszeniere­n.

Schräge Extemporat­ion am Keyboard (auf dem Album: Bassklarin­ette, Viola, Cello), als Kontrast braves Satzspiel der Saxofonsek­tion; exzentrisc­he Melodiebög­en der Sängerin versus erdige Rhythmik Holubs. Absurde Regelkonfo­rmität bei gleichzeit­iger Anarchie, wenn das kein gutes Abbild der britischen Realität ist, was dann?

Kurios auch, dass die Musiker die exakt gleiche Songreihen­folge wählten wie auf ihrem brillanten Album. Eines der Kernstücke war „Fold“, das mit einer verwunsche­nen Gesangsmel­odie anhob und in herrlichst­em Wirrsal endete. „Time is a haunting memory“, wiederholt­e Sängerin Fortnam eindringli­ch. Fürwahr. Auf „It’s Morning“steht die Jahreszahl 2019, 1973 wäre nicht weniger glaubwürdi­g. Was ist schon Zeit?

Wenn Led Bib jetzt auf die Insel zurückkehr­en, müssen sie in Quarantäne. Diesen Preis zahlen sie gern dafür, dass sie ihre Musik live spielen können. Der neue Alltag, er ist auch im Jazz angekommen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria